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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Unpolitische Briefe aus Wien.

Schulen. Vo" den Professoren der Wiener theologischen Faknltüt genießen einige
eines bedeutenden wissenschaftlichen Rufes. Vor allem der humane und geistvolle
Karl Werner, der dnrch seine Arbeiten auf dem Gebiete der mittelalterlichen Philo¬
sophie rühmlich bekannt ist; dann Hermann Zschokke, der jetzige Rektor, einer
strengeren Richtung angehörig, doch maßvoll im Auftreten und seit Dezennien
als Exeget und Bibelhistoriker anerkannt; endlich Laurin, der Kirchenrechtslehrer,
durchaus orthodox und seiner Zeit als Kandidat für den erledigten Budweiser
Bischofssitz genannt. Anselm Ricker, Professor der Pastoraltheologie, ein
Schvttenvriester, hat anch als Rektor die Sympathien der Studentenschaft im
höchsten Grade zu erwerben gewußt. Neumann endlich sieht unter seinen Hörern
auch zahlreiche Philologen und dürfte überhaupt neben David H. Müller der
hervorragendste Vertreter semitischer Sprachwissenschaft in Osterreich sein.

Die juristische Fakultät -- so Wollen wir sie nennen, anstatt mit der in
Wien üblichen Bezeichnung "juridisch"*) -- ist thatsächlich in eine Fachschule
umgewnudelt worden, die für die Ausbildung der Beamten und Richter zu
sorge" hat. Mau kann aber getrost behaupten, daß kein Student der Welt so
wenig studirt wie der Wiener Jurist. Die Hörsäle stehen fast alle leer, wenn
es nicht gerade irgendeinen Skandal auszuführen giebt; höchstens daß die Vor¬
lesungen über Institutionen des römischen Rechtes bei Professor Exner und
die des berühmten Lorenz von Stein über Nationalökonomie und Verwaltungs¬
lehre hie und da besticht werden. Den meisten Studenten dieser Faknltüt
scheint es hinreichend, die letzten Monate vor den Staatsprüfungen aus Büchern
und lithographirten Vorlesungen das Allernotwendigste "zusammenzuleiten."
Die Abteilung des großen Lesesaals der Bibliothek, welche den Juristen reservirt
ist, zeigt ebenfalls nicht die Frequenz, welche man nach der numerischen Starke
der Fakultät erwarten sollte.**) Am übelsten ist es aber wohl mit der histo¬
rischen Bildung unsrer Juristen bestellt, da die Geschichte keinen Prüfuugs-
gegenstand, weder bei Staatsprüfungen noch bei "Rigorosen," bildet, die obli¬
gaten Vorlesungen über österreichische und allgemeine Geschichte aber am
allerwenigsten besucht werden. Schon vor dreißig Jahren hat Graf Leo Thun
auf die Gefahr hingewiesen, die in einem solchen Bildungsmangel liege: eine
Geringschätzung des historisch Gegebenen, der Tradition in Staat und Gesell¬
schaft muß daraus erwachsen. Die freilich, die später in den Staatsdienst treten,




*) In der Form "juridisch", die neuerdings auch in Norddeutschlnud um sich greift,
geht ja gerade die Hauptsache verloren. Die Form ist gebildet "ach den lateinischen Adjektive"
auf -ious. Nur schade, daß juridivus nicht von einem Substantivum suris, jnriüis mit
der Endung -ious, sondern aus ^'us und äioors gebildet ist, in der Form "juridisch" also
die höchst wichtige zweite Hälfte des Wortes thatsächlich bis auf deu Buchstaben ä geschwunden
ist. Wenn sich doch die deutsche" Jurisien dieses thörichte Wort wieder abgewöhnen wollten!
Im Sommer 1884 waren in der juristischen Fakultät 1874 ordentliche Hörer
iustribirt.
Unpolitische Briefe aus Wien.

Schulen. Vo» den Professoren der Wiener theologischen Faknltüt genießen einige
eines bedeutenden wissenschaftlichen Rufes. Vor allem der humane und geistvolle
Karl Werner, der dnrch seine Arbeiten auf dem Gebiete der mittelalterlichen Philo¬
sophie rühmlich bekannt ist; dann Hermann Zschokke, der jetzige Rektor, einer
strengeren Richtung angehörig, doch maßvoll im Auftreten und seit Dezennien
als Exeget und Bibelhistoriker anerkannt; endlich Laurin, der Kirchenrechtslehrer,
durchaus orthodox und seiner Zeit als Kandidat für den erledigten Budweiser
Bischofssitz genannt. Anselm Ricker, Professor der Pastoraltheologie, ein
Schvttenvriester, hat anch als Rektor die Sympathien der Studentenschaft im
höchsten Grade zu erwerben gewußt. Neumann endlich sieht unter seinen Hörern
auch zahlreiche Philologen und dürfte überhaupt neben David H. Müller der
hervorragendste Vertreter semitischer Sprachwissenschaft in Osterreich sein.

Die juristische Fakultät — so Wollen wir sie nennen, anstatt mit der in
Wien üblichen Bezeichnung „juridisch"*) — ist thatsächlich in eine Fachschule
umgewnudelt worden, die für die Ausbildung der Beamten und Richter zu
sorge» hat. Mau kann aber getrost behaupten, daß kein Student der Welt so
wenig studirt wie der Wiener Jurist. Die Hörsäle stehen fast alle leer, wenn
es nicht gerade irgendeinen Skandal auszuführen giebt; höchstens daß die Vor¬
lesungen über Institutionen des römischen Rechtes bei Professor Exner und
die des berühmten Lorenz von Stein über Nationalökonomie und Verwaltungs¬
lehre hie und da besticht werden. Den meisten Studenten dieser Faknltüt
scheint es hinreichend, die letzten Monate vor den Staatsprüfungen aus Büchern
und lithographirten Vorlesungen das Allernotwendigste „zusammenzuleiten."
Die Abteilung des großen Lesesaals der Bibliothek, welche den Juristen reservirt
ist, zeigt ebenfalls nicht die Frequenz, welche man nach der numerischen Starke
der Fakultät erwarten sollte.**) Am übelsten ist es aber wohl mit der histo¬
rischen Bildung unsrer Juristen bestellt, da die Geschichte keinen Prüfuugs-
gegenstand, weder bei Staatsprüfungen noch bei „Rigorosen," bildet, die obli¬
gaten Vorlesungen über österreichische und allgemeine Geschichte aber am
allerwenigsten besucht werden. Schon vor dreißig Jahren hat Graf Leo Thun
auf die Gefahr hingewiesen, die in einem solchen Bildungsmangel liege: eine
Geringschätzung des historisch Gegebenen, der Tradition in Staat und Gesell¬
schaft muß daraus erwachsen. Die freilich, die später in den Staatsdienst treten,




*) In der Form „juridisch", die neuerdings auch in Norddeutschlnud um sich greift,
geht ja gerade die Hauptsache verloren. Die Form ist gebildet »ach den lateinischen Adjektive»
auf -ious. Nur schade, daß juridivus nicht von einem Substantivum suris, jnriüis mit
der Endung -ious, sondern aus ^'us und äioors gebildet ist, in der Form „juridisch" also
die höchst wichtige zweite Hälfte des Wortes thatsächlich bis auf deu Buchstaben ä geschwunden
ist. Wenn sich doch die deutsche» Jurisien dieses thörichte Wort wieder abgewöhnen wollten!
Im Sommer 1884 waren in der juristischen Fakultät 1874 ordentliche Hörer
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/299>, abgerufen am 23.07.2024.