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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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England und Rußland in Asien.

Indiens übernehmen, so thun wir dies, weil wir nicht gestatten dürfen, daß es
in den Besitz einer andern Macht gelangt. Es giebt nur sehr wenig Leute,
welche den Mut haben, zu sagen: Laßt uns Indien aufgeben!*) und ich
bin wahrscheinlich anderer Meinung als Sie, wenn ich die Hoffnung aus¬
spreche, daß einmal die Zeit kommen wird, wo wir den Jndiern soviel Selbst¬
regierung und Vertrauen auf sich selbst gelehrt haben werden, daß wir gerecht¬
fertigt sind, wenn wir sie unabhängig werden lassen. Aber es jetzt aufgeben,
hieße es der Anarchie oder dem Tartaren überantworten, und ich glaube nicht,
daß es einen Kreis von Engländern, mit denen sich disputiren läßt, geben kaum,
der solch ein Verfahren zu verteidigen geneigt wäre, sdas, wie wir hinzufügen
und nicht vergessen sehen möchten, auch dem Geldbeutel John Bulls, der viel
schwerer bei seinen politischen Erwägungen ins Gewicht fällt, als alle seine
immer stark betonte Sorge um das geistige und leibliche Wohl seiner Kolonien
und andrer Länder, außerordentlich schweren, ja Verhängnisvolleu Schaden zu¬
fügen würde.j

So fragt es sich denn nunmehr einfach: da wir nus entlchloffen haben,
Indien zu verteidigen, die indische Grenze wie unsre eigne zu betrachten, wie
werden wir sie in der neuen Lage verteidigen, wo sie mich die Grenze Ru߬
lands ist und Nußland sie mit Streitkrüften bedroht? Bei der Beschäftigung
mit dieser Frage haben wir uns zuerst Klarheit über die militärische Stärke
Rußlands zu verschaffen. Wir haben aus authentischen Angaben in Ihren
Spalten, die noch niemand zu widerlegen versucht hat, ersehen, daß es binnen
drei Monaten mit 90 000 Mann zum Angriffe schreiten kann, und daß es im¬
stande ist nach Verlauf einer mäßigen Anzahl von Jahren mit 200000 vor¬
zurücken. Das will sagen, wenn man es nicht abhält, kann es 90000 Mann
nach Afghanistan vorschieben, dessen feste Punkte besetzen und dieselben so lange
okkupirt halten, bis es die Verbindung mit seinem eignen Gebiete vervollständigt
hat, eine Verbindung, welche es befähigen würde, 200000 Soldaten mit Zu¬
behör nachzusenden, um und am Indus anzugreifen. Auf Grund dieser That¬
sachen tritt uns unmittelbar die Frage vor die Augen: sollen wir den Russen
das Einrücken in Afghanistan unter Bedrohung einer sofortigen Kriegserklä¬
rung verbieten, oder lieber warten, bis Afghanistan aufgesaugt ist, und nur die
Linie des Indus verteidigen?

Ich nehme mir nicht heraus, in die rein militärische Erörterung, zu der
diese Frage Anlaß giebt, einzutreten. Aber militärische Beweisführungen unter¬
liegen am Ende physischen und politischen Rücksichten, und über diese darf auch
der Zivilist eine Meinung zu hegen wagen. Da nun Afghanistan ein Land ist,
das eine Ausdehnung von etwa vierhundert Meilen besitzt, da es äußerst ge-



5) Nur Bright und ein paar andre halbtolle Radikale, Quäker und Nichtquiiker, haben
diesen Mut gezeigt.
England und Rußland in Asien.

Indiens übernehmen, so thun wir dies, weil wir nicht gestatten dürfen, daß es
in den Besitz einer andern Macht gelangt. Es giebt nur sehr wenig Leute,
welche den Mut haben, zu sagen: Laßt uns Indien aufgeben!*) und ich
bin wahrscheinlich anderer Meinung als Sie, wenn ich die Hoffnung aus¬
spreche, daß einmal die Zeit kommen wird, wo wir den Jndiern soviel Selbst¬
regierung und Vertrauen auf sich selbst gelehrt haben werden, daß wir gerecht¬
fertigt sind, wenn wir sie unabhängig werden lassen. Aber es jetzt aufgeben,
hieße es der Anarchie oder dem Tartaren überantworten, und ich glaube nicht,
daß es einen Kreis von Engländern, mit denen sich disputiren läßt, geben kaum,
der solch ein Verfahren zu verteidigen geneigt wäre, sdas, wie wir hinzufügen
und nicht vergessen sehen möchten, auch dem Geldbeutel John Bulls, der viel
schwerer bei seinen politischen Erwägungen ins Gewicht fällt, als alle seine
immer stark betonte Sorge um das geistige und leibliche Wohl seiner Kolonien
und andrer Länder, außerordentlich schweren, ja Verhängnisvolleu Schaden zu¬
fügen würde.j

So fragt es sich denn nunmehr einfach: da wir nus entlchloffen haben,
Indien zu verteidigen, die indische Grenze wie unsre eigne zu betrachten, wie
werden wir sie in der neuen Lage verteidigen, wo sie mich die Grenze Ru߬
lands ist und Nußland sie mit Streitkrüften bedroht? Bei der Beschäftigung
mit dieser Frage haben wir uns zuerst Klarheit über die militärische Stärke
Rußlands zu verschaffen. Wir haben aus authentischen Angaben in Ihren
Spalten, die noch niemand zu widerlegen versucht hat, ersehen, daß es binnen
drei Monaten mit 90 000 Mann zum Angriffe schreiten kann, und daß es im¬
stande ist nach Verlauf einer mäßigen Anzahl von Jahren mit 200000 vor¬
zurücken. Das will sagen, wenn man es nicht abhält, kann es 90000 Mann
nach Afghanistan vorschieben, dessen feste Punkte besetzen und dieselben so lange
okkupirt halten, bis es die Verbindung mit seinem eignen Gebiete vervollständigt
hat, eine Verbindung, welche es befähigen würde, 200000 Soldaten mit Zu¬
behör nachzusenden, um und am Indus anzugreifen. Auf Grund dieser That¬
sachen tritt uns unmittelbar die Frage vor die Augen: sollen wir den Russen
das Einrücken in Afghanistan unter Bedrohung einer sofortigen Kriegserklä¬
rung verbieten, oder lieber warten, bis Afghanistan aufgesaugt ist, und nur die
Linie des Indus verteidigen?

Ich nehme mir nicht heraus, in die rein militärische Erörterung, zu der
diese Frage Anlaß giebt, einzutreten. Aber militärische Beweisführungen unter¬
liegen am Ende physischen und politischen Rücksichten, und über diese darf auch
der Zivilist eine Meinung zu hegen wagen. Da nun Afghanistan ein Land ist,
das eine Ausdehnung von etwa vierhundert Meilen besitzt, da es äußerst ge-



5) Nur Bright und ein paar andre halbtolle Radikale, Quäker und Nichtquiiker, haben
diesen Mut gezeigt.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/292>, abgerufen am 22.07.2024.