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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Verlegende Säugetiere.

Außenwelt und überlassen sie ihrem Schicksal. Bei der geringen Menge der
alsdann in die Entwicklung eintretenden Stoffe ergiebt es sich, daß die ent¬
stehenden Organismen noch sehr klein oder, was oft gleichbedeutend ist, auf
einer sehr niedrigen Entwicklungsstufe selbständig in den Kampf des Lebens
eintreten müssen, um unter mannichfachen Hindernissen ihn zu bestehen oder in
ihm zu unterliegen, d. h. zu gründe zu gehen -- ein Nachteil, welchen die
Natur durch die große Zahl der Eier mit der Wahrscheinlichkeit des Fortkom¬
mens des einen oder des andern auszugleichen sucht. Sollten dagegen nur
wenig Eier hervorgebracht und doch das Bestehen der Art gesichert werden, so
mußten sich die äußern Umstände der Entwicklung günstiger, gefahrloser ge¬
stalten, d. h. die jungen Tiere mußten die Eihülle höher entwickelt und demgemäß
besser ausgerüstet für den Kampf ums Leben verlassen können. Um das zu
ermöglichen, mußten dem aus der Eizelle sich entwickelnden Organismus Nah¬
rungsstoffe in reichlicherer Menge geliefert werden. Und dieses Mittels hat
sich die Natur in zahllosen Fällen bedient. Das Dotter und das Eiweiß des
Vogeleies und des Eies vieler andern Tiere hat keinen andern Zweck, es ist
Zuthat, nichts als Nahrungsmaterial des entstehenden Jungen. Ob nun ein
solches El seine Entwicklung im Innern des mütterlichen Körpers durchmacht,
was die eine oder andre Einrichtung der in betracht kommenden Organe leicht
ermöglichen konnte, oder nach der Ablegung sie in der Außenwelt vollendet, ist
kein grundsätzlicher Unterschied.

Aber noch eine andre Art der Herbeiführung günstiger Ernährungsverhält-
nisse für das zu entwickelnde Wesen kennt die Natur, sie hat sie in erster Linie
bei den Säugetieren zur Anwendung gebracht. Die Eizelle bleibt klein wie sonst,
um sie herum werden keine Nahrungsschichten, wie Dotter und Eiweiß, abge¬
schieden, aber -- sie löst sich nicht ab vom Organismus der Mutter, sie bleibt
mit ihm durch gewisse sekundäre Einrichtungen in lebendiger Verbindung, lebt
mit ihm in Gemeinschaft des Blutes. Das Blut der Mutter, wie es diese
selbst ernährt, ernährt auch die wachsende, sich leitende und verschieden in
ihren Teilen werdende Eizelle, das Junge, welches nun, unter denkbar günstigsten
Verhältnissen entwickelt, in hoher Vollendung nach der Geburt zur Außenwelt
in Beziehung tritt, um auch daun noch durch die Milch der Mutter für längere
Zeit des selbständigen Nahrungserwerbes enthoben zu sein.

Nun fragt es sich: Ist ein Übergang denkbar zwischen demjenigen El, das
mit Nahrnugsdotter umgeben im Innern des mütterlichen Körpers seine Ent¬
wicklung vollendet, und jenem, welches ohne solche Umhüllungen von Nahrungs¬
stoffen direkt durch die Säfte der mütterlichen Organe gespeist wird? Die Frage
läßt sich nach dem vorhergegangenen leicht beantworten: Der Übergang ist
denkbar. Die umlagernden Nahrungsschichteu schwinden, das mehr und mehr
der ursprünglichen Einfachheit genäherte El wird eng umschlossen von blut¬
reiche" Schleimhäuten des bergenden mütterlichen Organes, des Fruchthalters, so


Verlegende Säugetiere.

Außenwelt und überlassen sie ihrem Schicksal. Bei der geringen Menge der
alsdann in die Entwicklung eintretenden Stoffe ergiebt es sich, daß die ent¬
stehenden Organismen noch sehr klein oder, was oft gleichbedeutend ist, auf
einer sehr niedrigen Entwicklungsstufe selbständig in den Kampf des Lebens
eintreten müssen, um unter mannichfachen Hindernissen ihn zu bestehen oder in
ihm zu unterliegen, d. h. zu gründe zu gehen — ein Nachteil, welchen die
Natur durch die große Zahl der Eier mit der Wahrscheinlichkeit des Fortkom¬
mens des einen oder des andern auszugleichen sucht. Sollten dagegen nur
wenig Eier hervorgebracht und doch das Bestehen der Art gesichert werden, so
mußten sich die äußern Umstände der Entwicklung günstiger, gefahrloser ge¬
stalten, d. h. die jungen Tiere mußten die Eihülle höher entwickelt und demgemäß
besser ausgerüstet für den Kampf ums Leben verlassen können. Um das zu
ermöglichen, mußten dem aus der Eizelle sich entwickelnden Organismus Nah¬
rungsstoffe in reichlicherer Menge geliefert werden. Und dieses Mittels hat
sich die Natur in zahllosen Fällen bedient. Das Dotter und das Eiweiß des
Vogeleies und des Eies vieler andern Tiere hat keinen andern Zweck, es ist
Zuthat, nichts als Nahrungsmaterial des entstehenden Jungen. Ob nun ein
solches El seine Entwicklung im Innern des mütterlichen Körpers durchmacht,
was die eine oder andre Einrichtung der in betracht kommenden Organe leicht
ermöglichen konnte, oder nach der Ablegung sie in der Außenwelt vollendet, ist
kein grundsätzlicher Unterschied.

Aber noch eine andre Art der Herbeiführung günstiger Ernährungsverhält-
nisse für das zu entwickelnde Wesen kennt die Natur, sie hat sie in erster Linie
bei den Säugetieren zur Anwendung gebracht. Die Eizelle bleibt klein wie sonst,
um sie herum werden keine Nahrungsschichten, wie Dotter und Eiweiß, abge¬
schieden, aber — sie löst sich nicht ab vom Organismus der Mutter, sie bleibt
mit ihm durch gewisse sekundäre Einrichtungen in lebendiger Verbindung, lebt
mit ihm in Gemeinschaft des Blutes. Das Blut der Mutter, wie es diese
selbst ernährt, ernährt auch die wachsende, sich leitende und verschieden in
ihren Teilen werdende Eizelle, das Junge, welches nun, unter denkbar günstigsten
Verhältnissen entwickelt, in hoher Vollendung nach der Geburt zur Außenwelt
in Beziehung tritt, um auch daun noch durch die Milch der Mutter für längere
Zeit des selbständigen Nahrungserwerbes enthoben zu sein.

Nun fragt es sich: Ist ein Übergang denkbar zwischen demjenigen El, das
mit Nahrnugsdotter umgeben im Innern des mütterlichen Körpers seine Ent¬
wicklung vollendet, und jenem, welches ohne solche Umhüllungen von Nahrungs¬
stoffen direkt durch die Säfte der mütterlichen Organe gespeist wird? Die Frage
läßt sich nach dem vorhergegangenen leicht beantworten: Der Übergang ist
denkbar. Die umlagernden Nahrungsschichteu schwinden, das mehr und mehr
der ursprünglichen Einfachheit genäherte El wird eng umschlossen von blut¬
reiche» Schleimhäuten des bergenden mütterlichen Organes, des Fruchthalters, so


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[0187] Verlegende Säugetiere. Außenwelt und überlassen sie ihrem Schicksal. Bei der geringen Menge der alsdann in die Entwicklung eintretenden Stoffe ergiebt es sich, daß die ent¬ stehenden Organismen noch sehr klein oder, was oft gleichbedeutend ist, auf einer sehr niedrigen Entwicklungsstufe selbständig in den Kampf des Lebens eintreten müssen, um unter mannichfachen Hindernissen ihn zu bestehen oder in ihm zu unterliegen, d. h. zu gründe zu gehen — ein Nachteil, welchen die Natur durch die große Zahl der Eier mit der Wahrscheinlichkeit des Fortkom¬ mens des einen oder des andern auszugleichen sucht. Sollten dagegen nur wenig Eier hervorgebracht und doch das Bestehen der Art gesichert werden, so mußten sich die äußern Umstände der Entwicklung günstiger, gefahrloser ge¬ stalten, d. h. die jungen Tiere mußten die Eihülle höher entwickelt und demgemäß besser ausgerüstet für den Kampf ums Leben verlassen können. Um das zu ermöglichen, mußten dem aus der Eizelle sich entwickelnden Organismus Nah¬ rungsstoffe in reichlicherer Menge geliefert werden. Und dieses Mittels hat sich die Natur in zahllosen Fällen bedient. Das Dotter und das Eiweiß des Vogeleies und des Eies vieler andern Tiere hat keinen andern Zweck, es ist Zuthat, nichts als Nahrungsmaterial des entstehenden Jungen. Ob nun ein solches El seine Entwicklung im Innern des mütterlichen Körpers durchmacht, was die eine oder andre Einrichtung der in betracht kommenden Organe leicht ermöglichen konnte, oder nach der Ablegung sie in der Außenwelt vollendet, ist kein grundsätzlicher Unterschied. Aber noch eine andre Art der Herbeiführung günstiger Ernährungsverhält- nisse für das zu entwickelnde Wesen kennt die Natur, sie hat sie in erster Linie bei den Säugetieren zur Anwendung gebracht. Die Eizelle bleibt klein wie sonst, um sie herum werden keine Nahrungsschichten, wie Dotter und Eiweiß, abge¬ schieden, aber — sie löst sich nicht ab vom Organismus der Mutter, sie bleibt mit ihm durch gewisse sekundäre Einrichtungen in lebendiger Verbindung, lebt mit ihm in Gemeinschaft des Blutes. Das Blut der Mutter, wie es diese selbst ernährt, ernährt auch die wachsende, sich leitende und verschieden in ihren Teilen werdende Eizelle, das Junge, welches nun, unter denkbar günstigsten Verhältnissen entwickelt, in hoher Vollendung nach der Geburt zur Außenwelt in Beziehung tritt, um auch daun noch durch die Milch der Mutter für längere Zeit des selbständigen Nahrungserwerbes enthoben zu sein. Nun fragt es sich: Ist ein Übergang denkbar zwischen demjenigen El, das mit Nahrnugsdotter umgeben im Innern des mütterlichen Körpers seine Ent¬ wicklung vollendet, und jenem, welches ohne solche Umhüllungen von Nahrungs¬ stoffen direkt durch die Säfte der mütterlichen Organe gespeist wird? Die Frage läßt sich nach dem vorhergegangenen leicht beantworten: Der Übergang ist denkbar. Die umlagernden Nahrungsschichteu schwinden, das mehr und mehr der ursprünglichen Einfachheit genäherte El wird eng umschlossen von blut¬ reiche» Schleimhäuten des bergenden mütterlichen Organes, des Fruchthalters, so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/187>, abgerufen am 22.07.2024.