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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Sils Publikum,

für einen Menschen Raum lassenden Hühnersteigcn hinanftappten, dann, einge¬
treten in den weiten, dunkeln, unheimlichen Raum, nach mehrmaligem Stolpern
über unsichtbare Stufen, durch die engen Zwischenräume zwischen den Bänken,
über Hühneraugen und an kantigen Knieen vorbei, sich einen Weg bahnten zu
ihren so eng bemessenen Sitzplcitzchcn, und nun Schulter an Schulter, Ellbogen
an Ellbogen -- "Ich hatte mir eingebildet, dieses Theater wäre der Inbegriff
aller Bequemlichkeit!" wagte ich halblaut gegen meine Nachbarin zur Linken, mit
der ich gekommen war, zu bemerken. "Das ist es auch!" ließ sich laut und
mürrisch eine kratzige Baßstimme zu meiner Rechten vernehmen, und als ich
mich erstaunt umblickte, sah ich in ein so erhöhtes, graubärtiges, altes Manns¬
gesicht mit einem Paar so vou heiligem Wahnsinn funkelnden Auge", daß es
mir eiskalt über den Rücken lief und ich es vorzog, obgleich gerade keine Vier¬
seidel bei der Hand waren, der leisen Warnung meiner Begleiterin, die mich
sanft in die Seite stieß, nachzugeben und den Handschuh, den mir der alte,
streitlustige Wagnerkämpe hinwarf, nicht aufzuheben, sondern zu schweigen. Ich
hatte übrigens die Genugthuung, den enragirten Greis nach einer Weile zu
seiner neben ihm sitzenden Ehehälfte sagen zu hören, daß, wenn zufällig in
dem Theater Feuer ausbräche, wir alle miteinander verbrennen würden, denn
um Rettung sei bei dieser Engigkeit der Platz- und Ansgangsverhältnisse
nicht zu denken. Dieser Bemerkung mußte ich innerlich mit ganzer Seele bei¬
stimmen.

Ja, man muß wirklich ein hohes Gottvertrauen besitzen, um es in diesen:
Theater auch nur eine Stunde lang auszuhalten. Aber im Grunde, wir stehen
ja immer in Gottes Hand, d. h. wir schweben in jedem Augenblicke in der
Gefahr, unser Leben zu verlieren. Von der furchtbaren Unsicherheit inbezug
auf die Frage, ob man gebraten oder nicht gebraten aus dem Baireuther Theater
ans Tageslicht kommen wird, soll daher an dieser Stelle abgesehen werden.
Das ist ja auch Sache der Wohlfahrtspolizei, die ihre sämtlichen Augen, welche
sie sonst in Theaterangelegenheiten so weit auszureißen pflegt, in diesem Falle
zugedrückt zu haben scheint. Auch über die Architektonik des Saales in ästhe¬
tischer Beziehung darf der Laie sich höchstens die Bemerkung erlauben, daß
sie ihm mißfalle. Aber eine andre Frage ist es, die bei dieser Masseneinpferchuug
des kunstliebenden Publikums und bei dem, was vorhergeht, ins Spiel kommt,
eine Frage, die sich wohl von allgemeinen Gesichtspunkte" aus erörtern läßt,
über die sich auch eine Stimme aus dem Publikum, deren Inhaber nicht die
sieben Weihen der Kunst und Kunstgelehrsamkeit empfangen hat, ein Urteil er¬
lauben darf. Es ist die Frage, auf die es von vornherein bei dieser Erörterung
abgesehen war: Hat Wnguer mit seinem Baireuther Unternehmen den Zweck
erreicht, den er erreichen wollte, d. h. hat er dadurch, daß er das Publikum
von allen äußern Eindrücken, die nicht unmittelbar zu der Darstellung des "Musik¬
dramas" gehören, isolirte, daß er es gewaltsam hinderte, sich mit sich selbst zu


Sils Publikum,

für einen Menschen Raum lassenden Hühnersteigcn hinanftappten, dann, einge¬
treten in den weiten, dunkeln, unheimlichen Raum, nach mehrmaligem Stolpern
über unsichtbare Stufen, durch die engen Zwischenräume zwischen den Bänken,
über Hühneraugen und an kantigen Knieen vorbei, sich einen Weg bahnten zu
ihren so eng bemessenen Sitzplcitzchcn, und nun Schulter an Schulter, Ellbogen
an Ellbogen — „Ich hatte mir eingebildet, dieses Theater wäre der Inbegriff
aller Bequemlichkeit!" wagte ich halblaut gegen meine Nachbarin zur Linken, mit
der ich gekommen war, zu bemerken. „Das ist es auch!" ließ sich laut und
mürrisch eine kratzige Baßstimme zu meiner Rechten vernehmen, und als ich
mich erstaunt umblickte, sah ich in ein so erhöhtes, graubärtiges, altes Manns¬
gesicht mit einem Paar so vou heiligem Wahnsinn funkelnden Auge», daß es
mir eiskalt über den Rücken lief und ich es vorzog, obgleich gerade keine Vier¬
seidel bei der Hand waren, der leisen Warnung meiner Begleiterin, die mich
sanft in die Seite stieß, nachzugeben und den Handschuh, den mir der alte,
streitlustige Wagnerkämpe hinwarf, nicht aufzuheben, sondern zu schweigen. Ich
hatte übrigens die Genugthuung, den enragirten Greis nach einer Weile zu
seiner neben ihm sitzenden Ehehälfte sagen zu hören, daß, wenn zufällig in
dem Theater Feuer ausbräche, wir alle miteinander verbrennen würden, denn
um Rettung sei bei dieser Engigkeit der Platz- und Ansgangsverhältnisse
nicht zu denken. Dieser Bemerkung mußte ich innerlich mit ganzer Seele bei¬
stimmen.

Ja, man muß wirklich ein hohes Gottvertrauen besitzen, um es in diesen:
Theater auch nur eine Stunde lang auszuhalten. Aber im Grunde, wir stehen
ja immer in Gottes Hand, d. h. wir schweben in jedem Augenblicke in der
Gefahr, unser Leben zu verlieren. Von der furchtbaren Unsicherheit inbezug
auf die Frage, ob man gebraten oder nicht gebraten aus dem Baireuther Theater
ans Tageslicht kommen wird, soll daher an dieser Stelle abgesehen werden.
Das ist ja auch Sache der Wohlfahrtspolizei, die ihre sämtlichen Augen, welche
sie sonst in Theaterangelegenheiten so weit auszureißen pflegt, in diesem Falle
zugedrückt zu haben scheint. Auch über die Architektonik des Saales in ästhe¬
tischer Beziehung darf der Laie sich höchstens die Bemerkung erlauben, daß
sie ihm mißfalle. Aber eine andre Frage ist es, die bei dieser Masseneinpferchuug
des kunstliebenden Publikums und bei dem, was vorhergeht, ins Spiel kommt,
eine Frage, die sich wohl von allgemeinen Gesichtspunkte» aus erörtern läßt,
über die sich auch eine Stimme aus dem Publikum, deren Inhaber nicht die
sieben Weihen der Kunst und Kunstgelehrsamkeit empfangen hat, ein Urteil er¬
lauben darf. Es ist die Frage, auf die es von vornherein bei dieser Erörterung
abgesehen war: Hat Wnguer mit seinem Baireuther Unternehmen den Zweck
erreicht, den er erreichen wollte, d. h. hat er dadurch, daß er das Publikum
von allen äußern Eindrücken, die nicht unmittelbar zu der Darstellung des „Musik¬
dramas" gehören, isolirte, daß er es gewaltsam hinderte, sich mit sich selbst zu


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[0152] Sils Publikum, für einen Menschen Raum lassenden Hühnersteigcn hinanftappten, dann, einge¬ treten in den weiten, dunkeln, unheimlichen Raum, nach mehrmaligem Stolpern über unsichtbare Stufen, durch die engen Zwischenräume zwischen den Bänken, über Hühneraugen und an kantigen Knieen vorbei, sich einen Weg bahnten zu ihren so eng bemessenen Sitzplcitzchcn, und nun Schulter an Schulter, Ellbogen an Ellbogen — „Ich hatte mir eingebildet, dieses Theater wäre der Inbegriff aller Bequemlichkeit!" wagte ich halblaut gegen meine Nachbarin zur Linken, mit der ich gekommen war, zu bemerken. „Das ist es auch!" ließ sich laut und mürrisch eine kratzige Baßstimme zu meiner Rechten vernehmen, und als ich mich erstaunt umblickte, sah ich in ein so erhöhtes, graubärtiges, altes Manns¬ gesicht mit einem Paar so vou heiligem Wahnsinn funkelnden Auge», daß es mir eiskalt über den Rücken lief und ich es vorzog, obgleich gerade keine Vier¬ seidel bei der Hand waren, der leisen Warnung meiner Begleiterin, die mich sanft in die Seite stieß, nachzugeben und den Handschuh, den mir der alte, streitlustige Wagnerkämpe hinwarf, nicht aufzuheben, sondern zu schweigen. Ich hatte übrigens die Genugthuung, den enragirten Greis nach einer Weile zu seiner neben ihm sitzenden Ehehälfte sagen zu hören, daß, wenn zufällig in dem Theater Feuer ausbräche, wir alle miteinander verbrennen würden, denn um Rettung sei bei dieser Engigkeit der Platz- und Ansgangsverhältnisse nicht zu denken. Dieser Bemerkung mußte ich innerlich mit ganzer Seele bei¬ stimmen. Ja, man muß wirklich ein hohes Gottvertrauen besitzen, um es in diesen: Theater auch nur eine Stunde lang auszuhalten. Aber im Grunde, wir stehen ja immer in Gottes Hand, d. h. wir schweben in jedem Augenblicke in der Gefahr, unser Leben zu verlieren. Von der furchtbaren Unsicherheit inbezug auf die Frage, ob man gebraten oder nicht gebraten aus dem Baireuther Theater ans Tageslicht kommen wird, soll daher an dieser Stelle abgesehen werden. Das ist ja auch Sache der Wohlfahrtspolizei, die ihre sämtlichen Augen, welche sie sonst in Theaterangelegenheiten so weit auszureißen pflegt, in diesem Falle zugedrückt zu haben scheint. Auch über die Architektonik des Saales in ästhe¬ tischer Beziehung darf der Laie sich höchstens die Bemerkung erlauben, daß sie ihm mißfalle. Aber eine andre Frage ist es, die bei dieser Masseneinpferchuug des kunstliebenden Publikums und bei dem, was vorhergeht, ins Spiel kommt, eine Frage, die sich wohl von allgemeinen Gesichtspunkte» aus erörtern läßt, über die sich auch eine Stimme aus dem Publikum, deren Inhaber nicht die sieben Weihen der Kunst und Kunstgelehrsamkeit empfangen hat, ein Urteil er¬ lauben darf. Es ist die Frage, auf die es von vornherein bei dieser Erörterung abgesehen war: Hat Wnguer mit seinem Baireuther Unternehmen den Zweck erreicht, den er erreichen wollte, d. h. hat er dadurch, daß er das Publikum von allen äußern Eindrücken, die nicht unmittelbar zu der Darstellung des „Musik¬ dramas" gehören, isolirte, daß er es gewaltsam hinderte, sich mit sich selbst zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/152>, abgerufen am 22.07.2024.