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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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durch die Aneignung neuer technischer Prozeduren gefördert werden. Wenn
wir bei der Prüfung ihrer Leistungen während des letzten Jahrzehnts den
Schein vom Wesen zu trennen verstehen, werden wir gewahr, daß nicht die
wieder in Fluß gebrachte Bewegung zu gunsten der Renaissance, sondern die
Wiederbelebung der einzelnen Zweige der Technik die Ursache so vieler erfreu¬
lichen Schöpfungen der modernen Kunstindustrie gewesen ist. Wie das deutsche
Kunsthandwerk des sechzehnten Jahrhunderts gewisse Techniken von Spanien,
Arabien und der Levante übernommen hat, so haben auch unsre Knnstindnstriellen
aus Japan und China, aus Indien und Persien technische Kunstgriffe und
Prozeduren kennen gelernt, welche ihnen mehr genutzt haben als das Kokettiren
mit den Stilformen der Renaissance. Aus den Fortschritten der Technik, welche
sich den ästhetischen und praktischen Grundbedingungen des Materials anschließen,
kann sich eher ein neuer Stil entwickeln als ans der Nachahmung von historischen
Formen, die sich ausgelebt haben.

Man könnte ein analoges Beispiel aus der politischen Geschichte unsers
Jahrhunderts zitiren. Die Sehnsucht nach deutscher Einheit, nach Größe und
Macht des deutschen Vaterlandes ist nicht dnrch das Tragen von langen
Haaren, breiten Hemdenkragen, schwarzen Sammetröckcn und derben Knotenstocken
erfüllt worden, sondern dnrch die von jeder romantischen Schrulle unabhängige
Blut- und Eisenpolitik, welche bis zur Stunde die Geschicke des deutschen Vater¬
landes lenkt. Diese Politik des Realismus, welche in ihren Fundamenten wie
in ihren höchsten Zielen so gut idealistisch ist wie der deutsche Volkscharakter
selbst, kann auch der Entwicklung unsrer Kunst als Richtschnur dienen. Man
kann sogar den Vergleich noch weiter treiben und für die Architektur speziell
auf das Eisen exemplifiziren. Vor vierzig Jahren hat Karl Bötticher in seiner
obenerwähnten Schinkelrede ans die im Eisen schlummernden, damals noch nicht
erweckten und auch heute noch lange nicht misgebentetcn Kräfte hingewiesen und
die prophetischen Worte gesprochen: "Es ist das Eisen bestimmt, mit der
steigenden Prüfung und Erkenntnis seiner statischen Eigenschaften in der Bau-
weise der kommenden Zeit als Grundlage des Deckenshstems zu dienen und
dasselbe, statisch gefaßt, einmal so weit über das hellenische und mittelalterliche
zu erheben, als das Bogen- und Deckensystem das Mittelnlter über das mono¬
lithe Steinbalkensystcm der alten Welt erhob."

Schon jetzt kämpft die Renaissance mit dein Eisenbau um ihre Existenz.
Daß der letztere sich aus rohen Anfängen noch nicht zu einem bestimmt aus¬
geprägten Stilcharakter emporgearbeitet hat, darf über die geringe Lebensfähigkeit
der ersteren nicht täuschen. Auch der Eisenbau wird sich nicht ausschließlich und
rein aus dem Material entwickeln. Seine Allianz mit dem Glase wird im
nordischen Klima sehr oft unmöglich sein. Auch er wird von der Gothik, von
der romanischen Bauweise und von der Renaissance borgen. Aber er allein
gewährt uns augenblicklich die materielle Möglichkeit, dem Gesetze und der
Grundlage aller menschlichen Dinge, der konstanten Entwicklung, gerecht zu
werden und endlich einmal aus der Tretmühle ewiger Nachahmung herauszu¬
kommen.




durch die Aneignung neuer technischer Prozeduren gefördert werden. Wenn
wir bei der Prüfung ihrer Leistungen während des letzten Jahrzehnts den
Schein vom Wesen zu trennen verstehen, werden wir gewahr, daß nicht die
wieder in Fluß gebrachte Bewegung zu gunsten der Renaissance, sondern die
Wiederbelebung der einzelnen Zweige der Technik die Ursache so vieler erfreu¬
lichen Schöpfungen der modernen Kunstindustrie gewesen ist. Wie das deutsche
Kunsthandwerk des sechzehnten Jahrhunderts gewisse Techniken von Spanien,
Arabien und der Levante übernommen hat, so haben auch unsre Knnstindnstriellen
aus Japan und China, aus Indien und Persien technische Kunstgriffe und
Prozeduren kennen gelernt, welche ihnen mehr genutzt haben als das Kokettiren
mit den Stilformen der Renaissance. Aus den Fortschritten der Technik, welche
sich den ästhetischen und praktischen Grundbedingungen des Materials anschließen,
kann sich eher ein neuer Stil entwickeln als ans der Nachahmung von historischen
Formen, die sich ausgelebt haben.

Man könnte ein analoges Beispiel aus der politischen Geschichte unsers
Jahrhunderts zitiren. Die Sehnsucht nach deutscher Einheit, nach Größe und
Macht des deutschen Vaterlandes ist nicht dnrch das Tragen von langen
Haaren, breiten Hemdenkragen, schwarzen Sammetröckcn und derben Knotenstocken
erfüllt worden, sondern dnrch die von jeder romantischen Schrulle unabhängige
Blut- und Eisenpolitik, welche bis zur Stunde die Geschicke des deutschen Vater¬
landes lenkt. Diese Politik des Realismus, welche in ihren Fundamenten wie
in ihren höchsten Zielen so gut idealistisch ist wie der deutsche Volkscharakter
selbst, kann auch der Entwicklung unsrer Kunst als Richtschnur dienen. Man
kann sogar den Vergleich noch weiter treiben und für die Architektur speziell
auf das Eisen exemplifiziren. Vor vierzig Jahren hat Karl Bötticher in seiner
obenerwähnten Schinkelrede ans die im Eisen schlummernden, damals noch nicht
erweckten und auch heute noch lange nicht misgebentetcn Kräfte hingewiesen und
die prophetischen Worte gesprochen: „Es ist das Eisen bestimmt, mit der
steigenden Prüfung und Erkenntnis seiner statischen Eigenschaften in der Bau-
weise der kommenden Zeit als Grundlage des Deckenshstems zu dienen und
dasselbe, statisch gefaßt, einmal so weit über das hellenische und mittelalterliche
zu erheben, als das Bogen- und Deckensystem das Mittelnlter über das mono¬
lithe Steinbalkensystcm der alten Welt erhob."

Schon jetzt kämpft die Renaissance mit dein Eisenbau um ihre Existenz.
Daß der letztere sich aus rohen Anfängen noch nicht zu einem bestimmt aus¬
geprägten Stilcharakter emporgearbeitet hat, darf über die geringe Lebensfähigkeit
der ersteren nicht täuschen. Auch der Eisenbau wird sich nicht ausschließlich und
rein aus dem Material entwickeln. Seine Allianz mit dem Glase wird im
nordischen Klima sehr oft unmöglich sein. Auch er wird von der Gothik, von
der romanischen Bauweise und von der Renaissance borgen. Aber er allein
gewährt uns augenblicklich die materielle Möglichkeit, dem Gesetze und der
Grundlage aller menschlichen Dinge, der konstanten Entwicklung, gerecht zu
werden und endlich einmal aus der Tretmühle ewiger Nachahmung herauszu¬
kommen.




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[0106] durch die Aneignung neuer technischer Prozeduren gefördert werden. Wenn wir bei der Prüfung ihrer Leistungen während des letzten Jahrzehnts den Schein vom Wesen zu trennen verstehen, werden wir gewahr, daß nicht die wieder in Fluß gebrachte Bewegung zu gunsten der Renaissance, sondern die Wiederbelebung der einzelnen Zweige der Technik die Ursache so vieler erfreu¬ lichen Schöpfungen der modernen Kunstindustrie gewesen ist. Wie das deutsche Kunsthandwerk des sechzehnten Jahrhunderts gewisse Techniken von Spanien, Arabien und der Levante übernommen hat, so haben auch unsre Knnstindnstriellen aus Japan und China, aus Indien und Persien technische Kunstgriffe und Prozeduren kennen gelernt, welche ihnen mehr genutzt haben als das Kokettiren mit den Stilformen der Renaissance. Aus den Fortschritten der Technik, welche sich den ästhetischen und praktischen Grundbedingungen des Materials anschließen, kann sich eher ein neuer Stil entwickeln als ans der Nachahmung von historischen Formen, die sich ausgelebt haben. Man könnte ein analoges Beispiel aus der politischen Geschichte unsers Jahrhunderts zitiren. Die Sehnsucht nach deutscher Einheit, nach Größe und Macht des deutschen Vaterlandes ist nicht dnrch das Tragen von langen Haaren, breiten Hemdenkragen, schwarzen Sammetröckcn und derben Knotenstocken erfüllt worden, sondern dnrch die von jeder romantischen Schrulle unabhängige Blut- und Eisenpolitik, welche bis zur Stunde die Geschicke des deutschen Vater¬ landes lenkt. Diese Politik des Realismus, welche in ihren Fundamenten wie in ihren höchsten Zielen so gut idealistisch ist wie der deutsche Volkscharakter selbst, kann auch der Entwicklung unsrer Kunst als Richtschnur dienen. Man kann sogar den Vergleich noch weiter treiben und für die Architektur speziell auf das Eisen exemplifiziren. Vor vierzig Jahren hat Karl Bötticher in seiner obenerwähnten Schinkelrede ans die im Eisen schlummernden, damals noch nicht erweckten und auch heute noch lange nicht misgebentetcn Kräfte hingewiesen und die prophetischen Worte gesprochen: „Es ist das Eisen bestimmt, mit der steigenden Prüfung und Erkenntnis seiner statischen Eigenschaften in der Bau- weise der kommenden Zeit als Grundlage des Deckenshstems zu dienen und dasselbe, statisch gefaßt, einmal so weit über das hellenische und mittelalterliche zu erheben, als das Bogen- und Deckensystem das Mittelnlter über das mono¬ lithe Steinbalkensystcm der alten Welt erhob." Schon jetzt kämpft die Renaissance mit dein Eisenbau um ihre Existenz. Daß der letztere sich aus rohen Anfängen noch nicht zu einem bestimmt aus¬ geprägten Stilcharakter emporgearbeitet hat, darf über die geringe Lebensfähigkeit der ersteren nicht täuschen. Auch der Eisenbau wird sich nicht ausschließlich und rein aus dem Material entwickeln. Seine Allianz mit dem Glase wird im nordischen Klima sehr oft unmöglich sein. Auch er wird von der Gothik, von der romanischen Bauweise und von der Renaissance borgen. Aber er allein gewährt uns augenblicklich die materielle Möglichkeit, dem Gesetze und der Grundlage aller menschlichen Dinge, der konstanten Entwicklung, gerecht zu werden und endlich einmal aus der Tretmühle ewiger Nachahmung herauszu¬ kommen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/106>, abgerufen am 22.07.2024.