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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Die Sage vom ewigen Juden.

habe. Wie bretonische Volkslieder von dem wandernden Juden, der nicht sterben
kann, erzählen, so auch vlümische. Eins der letztern berichtet, daß er eines
Tages in Dünkirchen gesehen worden sei. Einem Bürger, der ihn in sein Haus
einlud, erklärte er, 1800 Jahre alt und von Gott verurteilt zu sein, solange
Erde und Wolken auf ihrem Platze stehen würden, durch alle Völker zu wan¬
dern bis zum letzten Trauertage. Keine Gefahr hat ihm etwas an. Seine
ganze Baarschaft besteht aus fünf stöbern, die sich erneuern, so oft er sie aus¬
giebt. In Belgien weiß man ebenfalls mancherlei von dem berühmten Juden
zu erzählen. Er heißt hier Jsaak Laqnedem Mdem, hebräisch Osten, dann Vor-
welH und die Bauern behaupten, er besitze das Geheimnis, alte Weiber wieder
jung zu machen. Um das Jahr 1640 begegnete er zwei Bürgern aus der
Gerberstraße zu Brüssel im Sonienwalde. Es war ein alter, grauer Mann mit
Kleidern von urzeitlichem Schnitte. Er trat mit den Leuten auf deren Ein¬
ladung in eine Schenke, setzte sich dort aber nicht, sondern trank sein Glas
stehend ans. Vor der Thür erzählte er ihnen Geschichten, die sich vor vielen
hundert Jahren zugetragen hatten, woraus sie merkten, daß ihr Gefährte der
ewige Jude war. In Dänemark wurde der Bericht des Dudulcius bereits 1621
übersetzt, und die Geschichte vom Schuhmacher aus Jerusalem fand bis gegen
Ende des vorigen Jahrhunderts besonders in Jütland viele Gläubige. Ähn¬
liche Beliebtheit hat sie sich nach unsrer Schrift in Schweden, in Italien bis
nach Sizilien hinab und in Spanien erworben, wo gewisse Bilder den Juden
mit einem brennenden Kreuze auf der Stirn darstellen, welches sein Gehirn be¬
ständig verzehrt, ohne es vernichten zu können, da es immer wieder wächst.

Die Neubaursche Darstellung der Entstehung der Sage beweist, daß sie
kirchlichen Ursprungs ist und eine bestimmte Tendenz hatte. Verschmolzen ist
mit ihr die Figur Chidrs, und hie und da klingt sie auch an andre Mythenbilder,
z. B. an Wotan an. Eine Allegorie, nach welcher Ahasver die Personifikation
des über die ganze Welt zerstreuten Judenvolkes wäre, "der sinnbildliche Aus¬
druck der Strafgerichte, welche auf diesem Volke lasten," darf nicht angenommen
werden, und ebensowenig begründet ist die Behauptung, Ahasver sei der Ver¬
treter der "ewig ringenden, ewig sich neu gebärenden Menschheit." Poesie und
Malerei freilich werden sich daran nicht kehren, und was letztere aus der Sage
machen kann, sehen wir an Kaulbachs von der Trümmerstätte Jerusalems hinweg-
flüchtendein ewigen Juden.




Die Sage vom ewigen Juden.

habe. Wie bretonische Volkslieder von dem wandernden Juden, der nicht sterben
kann, erzählen, so auch vlümische. Eins der letztern berichtet, daß er eines
Tages in Dünkirchen gesehen worden sei. Einem Bürger, der ihn in sein Haus
einlud, erklärte er, 1800 Jahre alt und von Gott verurteilt zu sein, solange
Erde und Wolken auf ihrem Platze stehen würden, durch alle Völker zu wan¬
dern bis zum letzten Trauertage. Keine Gefahr hat ihm etwas an. Seine
ganze Baarschaft besteht aus fünf stöbern, die sich erneuern, so oft er sie aus¬
giebt. In Belgien weiß man ebenfalls mancherlei von dem berühmten Juden
zu erzählen. Er heißt hier Jsaak Laqnedem Mdem, hebräisch Osten, dann Vor-
welH und die Bauern behaupten, er besitze das Geheimnis, alte Weiber wieder
jung zu machen. Um das Jahr 1640 begegnete er zwei Bürgern aus der
Gerberstraße zu Brüssel im Sonienwalde. Es war ein alter, grauer Mann mit
Kleidern von urzeitlichem Schnitte. Er trat mit den Leuten auf deren Ein¬
ladung in eine Schenke, setzte sich dort aber nicht, sondern trank sein Glas
stehend ans. Vor der Thür erzählte er ihnen Geschichten, die sich vor vielen
hundert Jahren zugetragen hatten, woraus sie merkten, daß ihr Gefährte der
ewige Jude war. In Dänemark wurde der Bericht des Dudulcius bereits 1621
übersetzt, und die Geschichte vom Schuhmacher aus Jerusalem fand bis gegen
Ende des vorigen Jahrhunderts besonders in Jütland viele Gläubige. Ähn¬
liche Beliebtheit hat sie sich nach unsrer Schrift in Schweden, in Italien bis
nach Sizilien hinab und in Spanien erworben, wo gewisse Bilder den Juden
mit einem brennenden Kreuze auf der Stirn darstellen, welches sein Gehirn be¬
ständig verzehrt, ohne es vernichten zu können, da es immer wieder wächst.

Die Neubaursche Darstellung der Entstehung der Sage beweist, daß sie
kirchlichen Ursprungs ist und eine bestimmte Tendenz hatte. Verschmolzen ist
mit ihr die Figur Chidrs, und hie und da klingt sie auch an andre Mythenbilder,
z. B. an Wotan an. Eine Allegorie, nach welcher Ahasver die Personifikation
des über die ganze Welt zerstreuten Judenvolkes wäre, „der sinnbildliche Aus¬
druck der Strafgerichte, welche auf diesem Volke lasten," darf nicht angenommen
werden, und ebensowenig begründet ist die Behauptung, Ahasver sei der Ver¬
treter der „ewig ringenden, ewig sich neu gebärenden Menschheit." Poesie und
Malerei freilich werden sich daran nicht kehren, und was letztere aus der Sage
machen kann, sehen wir an Kaulbachs von der Trümmerstätte Jerusalems hinweg-
flüchtendein ewigen Juden.




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[0658] Die Sage vom ewigen Juden. habe. Wie bretonische Volkslieder von dem wandernden Juden, der nicht sterben kann, erzählen, so auch vlümische. Eins der letztern berichtet, daß er eines Tages in Dünkirchen gesehen worden sei. Einem Bürger, der ihn in sein Haus einlud, erklärte er, 1800 Jahre alt und von Gott verurteilt zu sein, solange Erde und Wolken auf ihrem Platze stehen würden, durch alle Völker zu wan¬ dern bis zum letzten Trauertage. Keine Gefahr hat ihm etwas an. Seine ganze Baarschaft besteht aus fünf stöbern, die sich erneuern, so oft er sie aus¬ giebt. In Belgien weiß man ebenfalls mancherlei von dem berühmten Juden zu erzählen. Er heißt hier Jsaak Laqnedem Mdem, hebräisch Osten, dann Vor- welH und die Bauern behaupten, er besitze das Geheimnis, alte Weiber wieder jung zu machen. Um das Jahr 1640 begegnete er zwei Bürgern aus der Gerberstraße zu Brüssel im Sonienwalde. Es war ein alter, grauer Mann mit Kleidern von urzeitlichem Schnitte. Er trat mit den Leuten auf deren Ein¬ ladung in eine Schenke, setzte sich dort aber nicht, sondern trank sein Glas stehend ans. Vor der Thür erzählte er ihnen Geschichten, die sich vor vielen hundert Jahren zugetragen hatten, woraus sie merkten, daß ihr Gefährte der ewige Jude war. In Dänemark wurde der Bericht des Dudulcius bereits 1621 übersetzt, und die Geschichte vom Schuhmacher aus Jerusalem fand bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts besonders in Jütland viele Gläubige. Ähn¬ liche Beliebtheit hat sie sich nach unsrer Schrift in Schweden, in Italien bis nach Sizilien hinab und in Spanien erworben, wo gewisse Bilder den Juden mit einem brennenden Kreuze auf der Stirn darstellen, welches sein Gehirn be¬ ständig verzehrt, ohne es vernichten zu können, da es immer wieder wächst. Die Neubaursche Darstellung der Entstehung der Sage beweist, daß sie kirchlichen Ursprungs ist und eine bestimmte Tendenz hatte. Verschmolzen ist mit ihr die Figur Chidrs, und hie und da klingt sie auch an andre Mythenbilder, z. B. an Wotan an. Eine Allegorie, nach welcher Ahasver die Personifikation des über die ganze Welt zerstreuten Judenvolkes wäre, „der sinnbildliche Aus¬ druck der Strafgerichte, welche auf diesem Volke lasten," darf nicht angenommen werden, und ebensowenig begründet ist die Behauptung, Ahasver sei der Ver¬ treter der „ewig ringenden, ewig sich neu gebärenden Menschheit." Poesie und Malerei freilich werden sich daran nicht kehren, und was letztere aus der Sage machen kann, sehen wir an Kaulbachs von der Trümmerstätte Jerusalems hinweg- flüchtendein ewigen Juden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/658>, abgerufen am 01.07.2024.