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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Uhlcnhans.

Verlauf der Handlung zum Austrag, zur kritischen Lösung gelangt. Diese
Forderung wird durch eine der wichtigsten Aufgaben künstlerischen Schaffens,
die der Menschendarstellung, unterstützt. Wie in Wirklichkeit die seelischen Ele¬
mente des Individuums nicht ein Bündel zusammengeschnürter, sondern eine
Einheit organisch verschlungener Teile darstellen, derart, daß keines derselben in
Aktion treten kann, ohne durch den Zustand der andern dazu veranlaßt, min¬
destens disponirt zu sein, so darf sich auch der Dichter nicht darauf beschränken
wollen, ein oder das andre seelische Motiv isolirt in Aktion treten zu lassen,
weil es vielleicht dem dem Kunstwerke zu Grunde liegenden allgemeinen Motiv
entspricht. Nur wo wir den vollen und ganzen Menschen kennen gelernt haben,
können wir seine Handlungen in Bezug auf ihre treibenden Ursachen wie auf
ihren moralischen Wert beurteilen, als psychologisch stichhaltig und wahrscheinlich
anerkennen. Das aber ist doch unbedingt notwendig, wenn wir dem Dichter
glauben sollen, sein Kunstwerk sei wirklich ein Weltbild. Wissen wir, wie ein
Mensch bei andern, wichtigen Interessen seines Lebens und wie er im Laufe
des Augenblicks, rein der momentanen innern Stimmung folgend, zu handeln
pflegt, so können wir uns allenfalls, auch ohne Zuthun des Dichters, Rechen¬
schaft davon geben, wie das Grundmotiv des Kunstwerks etwa auf ihn wirken
wird; umgekehrt vermag uns der Dichter auch bei sorgfältiger psychologischer
Analyse der diesem Grundmotiv entspringenden Handlungen nie vollkommen zu
überzeugen, daß dieselben innerlich notwendig waren und daß dementsprechend
der Verlauf seiner Handlung korrekt ist. Sucht das Kunstwerk eine über den
Augenblick hinausreichende Bedeutung darin, daß es in der Form des Schönen
die an Individuen aufgezeigte, aber für die Gesamtheit verbindliche Lösung eines
ethischen Problems giebt, so geht ihm diese Bedeutung völlig verloren, wenn
irgendwo statt psychologischer Folgerichtigkeit ein persönliches Belieben ersichtlich
wird. Überdies ist es kaum möglich, eine Monotonie in Stimmung und Hand¬
lung zu vermeiden, wenn alles immer nnr von derselben Seite und in demselben
Lichte erscheint.

Ein Autor von Spielhagens Talent und Erfahrung hat sich das alles
sicher längst selber gesagt. Aber dann sinnen wir vergeblich darüber nach,
weshalb er dennoch die Handlung seines Romans so unglaublich einseitig ge¬
staltet hat, daß wir von dem innern Leben seiner Personen kaum etwas erfahren,
das nicht zu jenem obenerwähnten Grundmotiv in Beziehung stünde. Ihr Thun
nicht allein, anch ihr Denken, soweit es sich in Dialog und Schilderung ent¬
hüllt, wird von jenem gemeinsamen Grundzug vollständig absorbirt; die Art,
sich zu geben, miteinander zu verkehren, die Regelung ihres Lebens, ihrer Zu¬
kunft -- alles erfolgt so, als ob es in der ganzen Welt kein andres Interesse
gäbe, als die Erlangung oder Wahrung einer gesellschaftlichen Stellung. Nun
kann ja gewiß nicht bloß der einzelne, sondern auch eine Mehrheit untereinander
in Beziehung stehender Personen einmal von einer Idee, einem Gedankenkreise


Uhlcnhans.

Verlauf der Handlung zum Austrag, zur kritischen Lösung gelangt. Diese
Forderung wird durch eine der wichtigsten Aufgaben künstlerischen Schaffens,
die der Menschendarstellung, unterstützt. Wie in Wirklichkeit die seelischen Ele¬
mente des Individuums nicht ein Bündel zusammengeschnürter, sondern eine
Einheit organisch verschlungener Teile darstellen, derart, daß keines derselben in
Aktion treten kann, ohne durch den Zustand der andern dazu veranlaßt, min¬
destens disponirt zu sein, so darf sich auch der Dichter nicht darauf beschränken
wollen, ein oder das andre seelische Motiv isolirt in Aktion treten zu lassen,
weil es vielleicht dem dem Kunstwerke zu Grunde liegenden allgemeinen Motiv
entspricht. Nur wo wir den vollen und ganzen Menschen kennen gelernt haben,
können wir seine Handlungen in Bezug auf ihre treibenden Ursachen wie auf
ihren moralischen Wert beurteilen, als psychologisch stichhaltig und wahrscheinlich
anerkennen. Das aber ist doch unbedingt notwendig, wenn wir dem Dichter
glauben sollen, sein Kunstwerk sei wirklich ein Weltbild. Wissen wir, wie ein
Mensch bei andern, wichtigen Interessen seines Lebens und wie er im Laufe
des Augenblicks, rein der momentanen innern Stimmung folgend, zu handeln
pflegt, so können wir uns allenfalls, auch ohne Zuthun des Dichters, Rechen¬
schaft davon geben, wie das Grundmotiv des Kunstwerks etwa auf ihn wirken
wird; umgekehrt vermag uns der Dichter auch bei sorgfältiger psychologischer
Analyse der diesem Grundmotiv entspringenden Handlungen nie vollkommen zu
überzeugen, daß dieselben innerlich notwendig waren und daß dementsprechend
der Verlauf seiner Handlung korrekt ist. Sucht das Kunstwerk eine über den
Augenblick hinausreichende Bedeutung darin, daß es in der Form des Schönen
die an Individuen aufgezeigte, aber für die Gesamtheit verbindliche Lösung eines
ethischen Problems giebt, so geht ihm diese Bedeutung völlig verloren, wenn
irgendwo statt psychologischer Folgerichtigkeit ein persönliches Belieben ersichtlich
wird. Überdies ist es kaum möglich, eine Monotonie in Stimmung und Hand¬
lung zu vermeiden, wenn alles immer nnr von derselben Seite und in demselben
Lichte erscheint.

Ein Autor von Spielhagens Talent und Erfahrung hat sich das alles
sicher längst selber gesagt. Aber dann sinnen wir vergeblich darüber nach,
weshalb er dennoch die Handlung seines Romans so unglaublich einseitig ge¬
staltet hat, daß wir von dem innern Leben seiner Personen kaum etwas erfahren,
das nicht zu jenem obenerwähnten Grundmotiv in Beziehung stünde. Ihr Thun
nicht allein, anch ihr Denken, soweit es sich in Dialog und Schilderung ent¬
hüllt, wird von jenem gemeinsamen Grundzug vollständig absorbirt; die Art,
sich zu geben, miteinander zu verkehren, die Regelung ihres Lebens, ihrer Zu¬
kunft — alles erfolgt so, als ob es in der ganzen Welt kein andres Interesse
gäbe, als die Erlangung oder Wahrung einer gesellschaftlichen Stellung. Nun
kann ja gewiß nicht bloß der einzelne, sondern auch eine Mehrheit untereinander
in Beziehung stehender Personen einmal von einer Idee, einem Gedankenkreise


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[0615] Uhlcnhans. Verlauf der Handlung zum Austrag, zur kritischen Lösung gelangt. Diese Forderung wird durch eine der wichtigsten Aufgaben künstlerischen Schaffens, die der Menschendarstellung, unterstützt. Wie in Wirklichkeit die seelischen Ele¬ mente des Individuums nicht ein Bündel zusammengeschnürter, sondern eine Einheit organisch verschlungener Teile darstellen, derart, daß keines derselben in Aktion treten kann, ohne durch den Zustand der andern dazu veranlaßt, min¬ destens disponirt zu sein, so darf sich auch der Dichter nicht darauf beschränken wollen, ein oder das andre seelische Motiv isolirt in Aktion treten zu lassen, weil es vielleicht dem dem Kunstwerke zu Grunde liegenden allgemeinen Motiv entspricht. Nur wo wir den vollen und ganzen Menschen kennen gelernt haben, können wir seine Handlungen in Bezug auf ihre treibenden Ursachen wie auf ihren moralischen Wert beurteilen, als psychologisch stichhaltig und wahrscheinlich anerkennen. Das aber ist doch unbedingt notwendig, wenn wir dem Dichter glauben sollen, sein Kunstwerk sei wirklich ein Weltbild. Wissen wir, wie ein Mensch bei andern, wichtigen Interessen seines Lebens und wie er im Laufe des Augenblicks, rein der momentanen innern Stimmung folgend, zu handeln pflegt, so können wir uns allenfalls, auch ohne Zuthun des Dichters, Rechen¬ schaft davon geben, wie das Grundmotiv des Kunstwerks etwa auf ihn wirken wird; umgekehrt vermag uns der Dichter auch bei sorgfältiger psychologischer Analyse der diesem Grundmotiv entspringenden Handlungen nie vollkommen zu überzeugen, daß dieselben innerlich notwendig waren und daß dementsprechend der Verlauf seiner Handlung korrekt ist. Sucht das Kunstwerk eine über den Augenblick hinausreichende Bedeutung darin, daß es in der Form des Schönen die an Individuen aufgezeigte, aber für die Gesamtheit verbindliche Lösung eines ethischen Problems giebt, so geht ihm diese Bedeutung völlig verloren, wenn irgendwo statt psychologischer Folgerichtigkeit ein persönliches Belieben ersichtlich wird. Überdies ist es kaum möglich, eine Monotonie in Stimmung und Hand¬ lung zu vermeiden, wenn alles immer nnr von derselben Seite und in demselben Lichte erscheint. Ein Autor von Spielhagens Talent und Erfahrung hat sich das alles sicher längst selber gesagt. Aber dann sinnen wir vergeblich darüber nach, weshalb er dennoch die Handlung seines Romans so unglaublich einseitig ge¬ staltet hat, daß wir von dem innern Leben seiner Personen kaum etwas erfahren, das nicht zu jenem obenerwähnten Grundmotiv in Beziehung stünde. Ihr Thun nicht allein, anch ihr Denken, soweit es sich in Dialog und Schilderung ent¬ hüllt, wird von jenem gemeinsamen Grundzug vollständig absorbirt; die Art, sich zu geben, miteinander zu verkehren, die Regelung ihres Lebens, ihrer Zu¬ kunft — alles erfolgt so, als ob es in der ganzen Welt kein andres Interesse gäbe, als die Erlangung oder Wahrung einer gesellschaftlichen Stellung. Nun kann ja gewiß nicht bloß der einzelne, sondern auch eine Mehrheit untereinander in Beziehung stehender Personen einmal von einer Idee, einem Gedankenkreise

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/615>, abgerufen am 04.07.2024.