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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Humanität im Strafrecht.

wohnheitsmäßigen Bettler und Landstreicher, die nach statistischen Erhebungen
die Höhe von etwa 200 000 in Deutschland erreicht hat, für unsre Ansicht. Wer
mit dieser Sorte von Menschen zu thun hat, wird bestätigen können, wie scharen¬
weise diese Schmarotzer der menschlichen Gesellschaft im Herbste der Polizei
geradezu in die Arme laufen, um im Korrektionshause Winterquartier zu er¬
langen. Kommt der Sommer, so suchen sie ebenso wieder aus diesen Anstalten
freigelassen zu werden, was, salls sie nicht nur überhaupt auf kurze Zeit ein¬
geliefert worden sind, sobald sie nur gute Führung gezeigt haben, verhältnis¬
mäßig leicht wird. Dann bevölkert sich Wald und Feld und bietet allen denen,
die gern "ein freies Leben" führen, gastlich Quartier. Im Spätherbst beginnt
die Misere von neuem.

Die Haftstrafe kann für diese unverbesserlichen Vagabunden, von denen
mancher hundert und mehr Strafen aufzuweisen hat, unmöglich ein wahres
Übel, also eine Strafe sein, sonst würde eine Wiederholung der Voraus¬
setzung dazu möglichst vermieden werden. Aber auch das Kontingent der rück¬
fälligen Verbrecher, sowie die erschreckend große Zahl derjenigen, welche immer
und immer wieder Bestrafungen wegen Sachbeschädigung, VerÜbung groben
Unfugs. Körperverletzung, Trunkenheit:c. auf sich laden, ohne sich in ihrem
rechtswidrigen Treiben stören zu lassen, erblickt in der ihnen auferlegten Strafe
kein Übel, oder wenigstens kein solches, welches ihnen im Vergleich zu ihrer
Lust am Bethätigen ihres bösen Willens oder der daraus zu erwartenden
Vorteile abschreckend erschiene. Die zur Zeit gebotenen Strafmittel sind meistens
zu schwachwirkend, um den rechtswidrigen Willen unter das Gesetz zu beugen:
sie sind zu "human" geworden.

Es ist wahrlich an der Zeit, hierin eine Änderung eintreten zu lassen,
denn die Humanität, welche in übertriebener Weise dem Delinquenten gegenüber
gezeigt wird, ist die krasseste Inhumanität allen denen gegenüber, welche darunter
zu dulden haben, d. h. den Staatsbürgern gegenüber, welche durch redliche Arbeit
die Kosten für die Unterhaltung jener Schmarotzer, sowie für die sich immer
wiederholenden Untersuchungen und Aburteilungen aufzubringen haben und
obendrein Schaden an Leib und Gut durch sie erleiden.

Damit soll nicht gesagt sein, daß es wünschenswert sei, zu mittelalterlicher
Strenge zurückzukehren. Ein solcher Rückschritt würde das Übel ebensowenig
heilen, wie unsre heutige Humanität. Der einzige Weg, auf dem dazu zu
gelangen ist, dem zu Bestrafenden ein wahres Übel mit der Strafe zuzufügen
und gleichwohl den Forderungen wahrer Humanität gerecht zu werden, ist der,
der strafenden Gewalt sowohl hinsichtlich der Strafarten wie der Strafhöhe
möglichst weiten Spielraum zu lasse".

Solange der Richter nur in engen Grenzen sich bewegen kann, ist er außer
Stande, die Strafe für den Delinquenten der Individualität desselben anzu¬
passen, und dies ist unbedingt ebenso nötig wie die Berücksichtigung der Um-


Grmzboten I. 1834. 76
Humanität im Strafrecht.

wohnheitsmäßigen Bettler und Landstreicher, die nach statistischen Erhebungen
die Höhe von etwa 200 000 in Deutschland erreicht hat, für unsre Ansicht. Wer
mit dieser Sorte von Menschen zu thun hat, wird bestätigen können, wie scharen¬
weise diese Schmarotzer der menschlichen Gesellschaft im Herbste der Polizei
geradezu in die Arme laufen, um im Korrektionshause Winterquartier zu er¬
langen. Kommt der Sommer, so suchen sie ebenso wieder aus diesen Anstalten
freigelassen zu werden, was, salls sie nicht nur überhaupt auf kurze Zeit ein¬
geliefert worden sind, sobald sie nur gute Führung gezeigt haben, verhältnis¬
mäßig leicht wird. Dann bevölkert sich Wald und Feld und bietet allen denen,
die gern „ein freies Leben" führen, gastlich Quartier. Im Spätherbst beginnt
die Misere von neuem.

Die Haftstrafe kann für diese unverbesserlichen Vagabunden, von denen
mancher hundert und mehr Strafen aufzuweisen hat, unmöglich ein wahres
Übel, also eine Strafe sein, sonst würde eine Wiederholung der Voraus¬
setzung dazu möglichst vermieden werden. Aber auch das Kontingent der rück¬
fälligen Verbrecher, sowie die erschreckend große Zahl derjenigen, welche immer
und immer wieder Bestrafungen wegen Sachbeschädigung, VerÜbung groben
Unfugs. Körperverletzung, Trunkenheit:c. auf sich laden, ohne sich in ihrem
rechtswidrigen Treiben stören zu lassen, erblickt in der ihnen auferlegten Strafe
kein Übel, oder wenigstens kein solches, welches ihnen im Vergleich zu ihrer
Lust am Bethätigen ihres bösen Willens oder der daraus zu erwartenden
Vorteile abschreckend erschiene. Die zur Zeit gebotenen Strafmittel sind meistens
zu schwachwirkend, um den rechtswidrigen Willen unter das Gesetz zu beugen:
sie sind zu „human" geworden.

Es ist wahrlich an der Zeit, hierin eine Änderung eintreten zu lassen,
denn die Humanität, welche in übertriebener Weise dem Delinquenten gegenüber
gezeigt wird, ist die krasseste Inhumanität allen denen gegenüber, welche darunter
zu dulden haben, d. h. den Staatsbürgern gegenüber, welche durch redliche Arbeit
die Kosten für die Unterhaltung jener Schmarotzer, sowie für die sich immer
wiederholenden Untersuchungen und Aburteilungen aufzubringen haben und
obendrein Schaden an Leib und Gut durch sie erleiden.

Damit soll nicht gesagt sein, daß es wünschenswert sei, zu mittelalterlicher
Strenge zurückzukehren. Ein solcher Rückschritt würde das Übel ebensowenig
heilen, wie unsre heutige Humanität. Der einzige Weg, auf dem dazu zu
gelangen ist, dem zu Bestrafenden ein wahres Übel mit der Strafe zuzufügen
und gleichwohl den Forderungen wahrer Humanität gerecht zu werden, ist der,
der strafenden Gewalt sowohl hinsichtlich der Strafarten wie der Strafhöhe
möglichst weiten Spielraum zu lasse».

Solange der Richter nur in engen Grenzen sich bewegen kann, ist er außer
Stande, die Strafe für den Delinquenten der Individualität desselben anzu¬
passen, und dies ist unbedingt ebenso nötig wie die Berücksichtigung der Um-


Grmzboten I. 1834. 76
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[0611] Humanität im Strafrecht. wohnheitsmäßigen Bettler und Landstreicher, die nach statistischen Erhebungen die Höhe von etwa 200 000 in Deutschland erreicht hat, für unsre Ansicht. Wer mit dieser Sorte von Menschen zu thun hat, wird bestätigen können, wie scharen¬ weise diese Schmarotzer der menschlichen Gesellschaft im Herbste der Polizei geradezu in die Arme laufen, um im Korrektionshause Winterquartier zu er¬ langen. Kommt der Sommer, so suchen sie ebenso wieder aus diesen Anstalten freigelassen zu werden, was, salls sie nicht nur überhaupt auf kurze Zeit ein¬ geliefert worden sind, sobald sie nur gute Führung gezeigt haben, verhältnis¬ mäßig leicht wird. Dann bevölkert sich Wald und Feld und bietet allen denen, die gern „ein freies Leben" führen, gastlich Quartier. Im Spätherbst beginnt die Misere von neuem. Die Haftstrafe kann für diese unverbesserlichen Vagabunden, von denen mancher hundert und mehr Strafen aufzuweisen hat, unmöglich ein wahres Übel, also eine Strafe sein, sonst würde eine Wiederholung der Voraus¬ setzung dazu möglichst vermieden werden. Aber auch das Kontingent der rück¬ fälligen Verbrecher, sowie die erschreckend große Zahl derjenigen, welche immer und immer wieder Bestrafungen wegen Sachbeschädigung, VerÜbung groben Unfugs. Körperverletzung, Trunkenheit:c. auf sich laden, ohne sich in ihrem rechtswidrigen Treiben stören zu lassen, erblickt in der ihnen auferlegten Strafe kein Übel, oder wenigstens kein solches, welches ihnen im Vergleich zu ihrer Lust am Bethätigen ihres bösen Willens oder der daraus zu erwartenden Vorteile abschreckend erschiene. Die zur Zeit gebotenen Strafmittel sind meistens zu schwachwirkend, um den rechtswidrigen Willen unter das Gesetz zu beugen: sie sind zu „human" geworden. Es ist wahrlich an der Zeit, hierin eine Änderung eintreten zu lassen, denn die Humanität, welche in übertriebener Weise dem Delinquenten gegenüber gezeigt wird, ist die krasseste Inhumanität allen denen gegenüber, welche darunter zu dulden haben, d. h. den Staatsbürgern gegenüber, welche durch redliche Arbeit die Kosten für die Unterhaltung jener Schmarotzer, sowie für die sich immer wiederholenden Untersuchungen und Aburteilungen aufzubringen haben und obendrein Schaden an Leib und Gut durch sie erleiden. Damit soll nicht gesagt sein, daß es wünschenswert sei, zu mittelalterlicher Strenge zurückzukehren. Ein solcher Rückschritt würde das Übel ebensowenig heilen, wie unsre heutige Humanität. Der einzige Weg, auf dem dazu zu gelangen ist, dem zu Bestrafenden ein wahres Übel mit der Strafe zuzufügen und gleichwohl den Forderungen wahrer Humanität gerecht zu werden, ist der, der strafenden Gewalt sowohl hinsichtlich der Strafarten wie der Strafhöhe möglichst weiten Spielraum zu lasse». Solange der Richter nur in engen Grenzen sich bewegen kann, ist er außer Stande, die Strafe für den Delinquenten der Individualität desselben anzu¬ passen, und dies ist unbedingt ebenso nötig wie die Berücksichtigung der Um- Grmzboten I. 1834. 76

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/611>, abgerufen am 02.07.2024.