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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Michael Munkacsy.

diesem Bilde nicht zuerst nach seinem geistigen Inhalte fragen. Gerade darin
liegt seine Schwäche, welche es übrigens mit den meisten Historienbildern aus
der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts teilt. Auf dem Boden des
Rationalismus stehend, hat sich Munkacsy die Szene historisch zurecht gelegt.
Für die Typen aus dem Volke, welche in die Halle des Gerichtshauses ein¬
gedrungen sind, für die Rabbiner und die Mitglieder des Hohen Rates, welche
um die Exedra des Landpflegers herumsitzen, hat Munkacsy charakteristische
Modelle aus der jüdischen Bevölkerung von Paris gewählt. Auch sein Christus
erhebt sich in keinem Zuge über die niedrige Sphäre des Modellstudiums,
welches nur zu deutlich in dieser Figur wie in allen übrigen nachklingt. Dieser
Christus ist nicht der begeisterte Verkünder der neuen, erhabenen Lehre, welche
den Armen und Unterdrückten das Reich Gottes, die Herrlichkeit jener Well
verheißt, sondern ein spitzfindiger Dialektiker, welcher Spinozas Schriften studirt
hat. Dieser Christus hat durchaus das geistige Rüstzeug, um auf die Frage,
welche auf den Lippen des Pilatus zu schweben scheint: "Was ist Wahrheit?"
eine geistreiche, wohldurchdachte Antwort zu geben. Es läßt sich nicht ver¬
hehlen, daß der auf seinem Throne sitzende Prokonsul eine ungleich interessantere
Figur ist als der gefesselte Christus, und auch unter den Rabbis befinden sich
einige, deren blaue, dunkelrote und in andern Farben schillernde Gewänder dem
Maler sichtlich mehr Frende gemacht haben als die nüchterne Gestalt und die
leere Physiognomie Christi. Das weiße Gewand des letztern und die weiße Toga
des Landpflegers bilden die Lichtpunkte i" der Kombination der Lokalfarben, welche
wenigstens in der ersten Figurenreihe ziemlich ungebrochen hingesetzt sind, weil
durch die obere Öffnung des Atriunis ein volles Licht auf die Gestalten sällt.
Im Hintergründe lagert sich freilich ein massiges Dunkel über den Figuren.
Da treibt der alte Munkacsy mit seinen schwarzen, undurchsichtigen Schatten
sein Wesen, und da überdies nach impressionistischen Lehrsätzen die vermittelnde,
die nötigen Distanzen herstellende Luft fehlt, drängt sich hinten alles zusammen,
sodaß man garnicht den Eindruck empfängt, als ob eine aufgeregte Volksmenge
den Gefangenen umtobte. Ruhige Empfindungen weiß Munkacsy rin ausge¬
suchter Feinheit zu schildern; aber er ist nicht der Maler dramatischer Konflikte
und leidenschaftlicher Affekte. Das Gemälde "Christus vor Pilatus" hat nichts
von der geheimnisvollen Intuition des Genies; es ist ein Produkt kühler Be¬
rechnung und fleißiger Nachempfindung, welche allerdings durch ein immenses
technisches Können unterstützt werden. Die malerische Begabung überragt bei
Munkacsy bei weitem die geistigen Mittel. Wenn man ihm also auch nicht den
Ruhm eines großen Künstlers zuerkennen darf, so ist er doch auf dem Wege,
ein großer Maler zu werden, wenn er sich zur Ablegung einiger Irrtümer ent¬
schließen kann.




Michael Munkacsy.

diesem Bilde nicht zuerst nach seinem geistigen Inhalte fragen. Gerade darin
liegt seine Schwäche, welche es übrigens mit den meisten Historienbildern aus
der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts teilt. Auf dem Boden des
Rationalismus stehend, hat sich Munkacsy die Szene historisch zurecht gelegt.
Für die Typen aus dem Volke, welche in die Halle des Gerichtshauses ein¬
gedrungen sind, für die Rabbiner und die Mitglieder des Hohen Rates, welche
um die Exedra des Landpflegers herumsitzen, hat Munkacsy charakteristische
Modelle aus der jüdischen Bevölkerung von Paris gewählt. Auch sein Christus
erhebt sich in keinem Zuge über die niedrige Sphäre des Modellstudiums,
welches nur zu deutlich in dieser Figur wie in allen übrigen nachklingt. Dieser
Christus ist nicht der begeisterte Verkünder der neuen, erhabenen Lehre, welche
den Armen und Unterdrückten das Reich Gottes, die Herrlichkeit jener Well
verheißt, sondern ein spitzfindiger Dialektiker, welcher Spinozas Schriften studirt
hat. Dieser Christus hat durchaus das geistige Rüstzeug, um auf die Frage,
welche auf den Lippen des Pilatus zu schweben scheint: „Was ist Wahrheit?"
eine geistreiche, wohldurchdachte Antwort zu geben. Es läßt sich nicht ver¬
hehlen, daß der auf seinem Throne sitzende Prokonsul eine ungleich interessantere
Figur ist als der gefesselte Christus, und auch unter den Rabbis befinden sich
einige, deren blaue, dunkelrote und in andern Farben schillernde Gewänder dem
Maler sichtlich mehr Frende gemacht haben als die nüchterne Gestalt und die
leere Physiognomie Christi. Das weiße Gewand des letztern und die weiße Toga
des Landpflegers bilden die Lichtpunkte i» der Kombination der Lokalfarben, welche
wenigstens in der ersten Figurenreihe ziemlich ungebrochen hingesetzt sind, weil
durch die obere Öffnung des Atriunis ein volles Licht auf die Gestalten sällt.
Im Hintergründe lagert sich freilich ein massiges Dunkel über den Figuren.
Da treibt der alte Munkacsy mit seinen schwarzen, undurchsichtigen Schatten
sein Wesen, und da überdies nach impressionistischen Lehrsätzen die vermittelnde,
die nötigen Distanzen herstellende Luft fehlt, drängt sich hinten alles zusammen,
sodaß man garnicht den Eindruck empfängt, als ob eine aufgeregte Volksmenge
den Gefangenen umtobte. Ruhige Empfindungen weiß Munkacsy rin ausge¬
suchter Feinheit zu schildern; aber er ist nicht der Maler dramatischer Konflikte
und leidenschaftlicher Affekte. Das Gemälde „Christus vor Pilatus" hat nichts
von der geheimnisvollen Intuition des Genies; es ist ein Produkt kühler Be¬
rechnung und fleißiger Nachempfindung, welche allerdings durch ein immenses
technisches Können unterstützt werden. Die malerische Begabung überragt bei
Munkacsy bei weitem die geistigen Mittel. Wenn man ihm also auch nicht den
Ruhm eines großen Künstlers zuerkennen darf, so ist er doch auf dem Wege,
ein großer Maler zu werden, wenn er sich zur Ablegung einiger Irrtümer ent¬
schließen kann.




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[0581] Michael Munkacsy. diesem Bilde nicht zuerst nach seinem geistigen Inhalte fragen. Gerade darin liegt seine Schwäche, welche es übrigens mit den meisten Historienbildern aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts teilt. Auf dem Boden des Rationalismus stehend, hat sich Munkacsy die Szene historisch zurecht gelegt. Für die Typen aus dem Volke, welche in die Halle des Gerichtshauses ein¬ gedrungen sind, für die Rabbiner und die Mitglieder des Hohen Rates, welche um die Exedra des Landpflegers herumsitzen, hat Munkacsy charakteristische Modelle aus der jüdischen Bevölkerung von Paris gewählt. Auch sein Christus erhebt sich in keinem Zuge über die niedrige Sphäre des Modellstudiums, welches nur zu deutlich in dieser Figur wie in allen übrigen nachklingt. Dieser Christus ist nicht der begeisterte Verkünder der neuen, erhabenen Lehre, welche den Armen und Unterdrückten das Reich Gottes, die Herrlichkeit jener Well verheißt, sondern ein spitzfindiger Dialektiker, welcher Spinozas Schriften studirt hat. Dieser Christus hat durchaus das geistige Rüstzeug, um auf die Frage, welche auf den Lippen des Pilatus zu schweben scheint: „Was ist Wahrheit?" eine geistreiche, wohldurchdachte Antwort zu geben. Es läßt sich nicht ver¬ hehlen, daß der auf seinem Throne sitzende Prokonsul eine ungleich interessantere Figur ist als der gefesselte Christus, und auch unter den Rabbis befinden sich einige, deren blaue, dunkelrote und in andern Farben schillernde Gewänder dem Maler sichtlich mehr Frende gemacht haben als die nüchterne Gestalt und die leere Physiognomie Christi. Das weiße Gewand des letztern und die weiße Toga des Landpflegers bilden die Lichtpunkte i» der Kombination der Lokalfarben, welche wenigstens in der ersten Figurenreihe ziemlich ungebrochen hingesetzt sind, weil durch die obere Öffnung des Atriunis ein volles Licht auf die Gestalten sällt. Im Hintergründe lagert sich freilich ein massiges Dunkel über den Figuren. Da treibt der alte Munkacsy mit seinen schwarzen, undurchsichtigen Schatten sein Wesen, und da überdies nach impressionistischen Lehrsätzen die vermittelnde, die nötigen Distanzen herstellende Luft fehlt, drängt sich hinten alles zusammen, sodaß man garnicht den Eindruck empfängt, als ob eine aufgeregte Volksmenge den Gefangenen umtobte. Ruhige Empfindungen weiß Munkacsy rin ausge¬ suchter Feinheit zu schildern; aber er ist nicht der Maler dramatischer Konflikte und leidenschaftlicher Affekte. Das Gemälde „Christus vor Pilatus" hat nichts von der geheimnisvollen Intuition des Genies; es ist ein Produkt kühler Be¬ rechnung und fleißiger Nachempfindung, welche allerdings durch ein immenses technisches Können unterstützt werden. Die malerische Begabung überragt bei Munkacsy bei weitem die geistigen Mittel. Wenn man ihm also auch nicht den Ruhm eines großen Künstlers zuerkennen darf, so ist er doch auf dem Wege, ein großer Maler zu werden, wenn er sich zur Ablegung einiger Irrtümer ent¬ schließen kann.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/581>, abgerufen am 22.07.2024.