Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Literarische verein in Stuttgart.

Wir beginnen mit den Werken, welche dem Gebiete der deutschen Poesie
angehören, die, wie schon oben bemerkt wurde, am eifrigsten von dem Verein
gefördert worden ist,

Es ist bekannt, daß die Lieder unsrer deutschen Minnesinger in der Weise,
wie sie von den Dichtern oder ihren Schreibern aufgezeichnet wurden, uns nicht
erhalten sind. Sie wurden zunächst auf Wachstafeln niedergeschrieben und von
diesen auf Pergamentrollen übertragen, von denen uns aber keine erhalten ist.
Von ihrer Verwendung haben wir jedoch viele Spuren. In der Gestalt von
Pergamentrollen übergab der Dichter seine Lieder einem Boten oder auch einem
als Boten dienenden Fahrenden, der sie der Geliebten überbrachte. Aus den
einzelnen Rollen wurden dann kleine Liederbücher zusammengestellt. Solche soll,
wie uns der schweizerische Minnesinger Hadlaub erzählt, der Züricher Ratsherr
Rüdiger von Manche gesammelt haben. Jedenfalls beruhen auf ihnen die drei
auf uns gekommenen größeren Liederhandschriften der Minnesinger. Die
berühmteste derselben ist bekanntlich die Pariser Handschrift, welche früher den
Namen der Manessischen führte. Zwei andre befinden sich in Deutschland, die
Weingärtner, früher dem Kloster Weingarten gehörig, jetzt in Stuttgart, und
die Heidelberger, an der wir die kleinen Liederbücher noch am besten erkennen
können. Die beiden letztgenannten Handschriften gab nun Franz Pfeiffer
für den Verein mit musterhafter Sorgfalt heraus, während F. Fellner die bei¬
gegebenen Reproduktionen in kolorirten Holzschnitten besorgte.

Dem Fleiße Kellers verdanken wir die Herausgabe von Konrads von
Würzburg Trojanischen Kriege, jenem umfangreichen, an 50000 Verse
umfassenden Gedichte, mit dem noch einmal der vergebliche Versuch einer mittel¬
alterlichen Ilias gemacht wurde. Bechstein stellt diese Arbeit Kellers an die
Spitze der unter den Arbeiten des Vereins vertretenen kritischen Leistungen.

Die auf französischem Boden heimische Sage von Karl dem Großen und
seinen Helden, die das Rolandslied des Pfaffen Konrad in Deutschland bekannt
machte, wurde um das Jahr 1300 mit andern Werken aus demselben Sagen¬
kreise zu einem großen Karlsepos zusammengeschmolzen. Es führt den Titel
Karlmeinet und wurde gleichfalls durch Keller der wissenschaftlichen Be¬
nutzung zugänglich gemacht.

Ein besondres Verdienst hat sich der Literarische Verein um die Novellistik
und die Schwankliteratur des 16. und 16. Jahrhunderts erworben. Auch hier
ist Keller in erster Linie mit seiner Ausgabe von Steinhöwels Decameron
M nennen, der ersten Verdeutschung von Boccaccios bekannter Novellensammlung,
sowie mit den von Augustin Tünger für Eberhard den Bärtigen von Würtem-
berg bestimmten 1?g.Lötias, die inhaltlich allerdings von wenig Interesse sind,
literargeschichtlich aber große Bedeutung haben, insofern sie zeigen, daß derartige
Geschichten auch in fürstlichen Kreisen Beifall fanden. Neben Keller ist auf
diesem Gebiete vor allen Oesterley, Bibliothekar in Breslau, zu nennen. Ihm


Grenzboten I. 1884. 70
Der Literarische verein in Stuttgart.

Wir beginnen mit den Werken, welche dem Gebiete der deutschen Poesie
angehören, die, wie schon oben bemerkt wurde, am eifrigsten von dem Verein
gefördert worden ist,

Es ist bekannt, daß die Lieder unsrer deutschen Minnesinger in der Weise,
wie sie von den Dichtern oder ihren Schreibern aufgezeichnet wurden, uns nicht
erhalten sind. Sie wurden zunächst auf Wachstafeln niedergeschrieben und von
diesen auf Pergamentrollen übertragen, von denen uns aber keine erhalten ist.
Von ihrer Verwendung haben wir jedoch viele Spuren. In der Gestalt von
Pergamentrollen übergab der Dichter seine Lieder einem Boten oder auch einem
als Boten dienenden Fahrenden, der sie der Geliebten überbrachte. Aus den
einzelnen Rollen wurden dann kleine Liederbücher zusammengestellt. Solche soll,
wie uns der schweizerische Minnesinger Hadlaub erzählt, der Züricher Ratsherr
Rüdiger von Manche gesammelt haben. Jedenfalls beruhen auf ihnen die drei
auf uns gekommenen größeren Liederhandschriften der Minnesinger. Die
berühmteste derselben ist bekanntlich die Pariser Handschrift, welche früher den
Namen der Manessischen führte. Zwei andre befinden sich in Deutschland, die
Weingärtner, früher dem Kloster Weingarten gehörig, jetzt in Stuttgart, und
die Heidelberger, an der wir die kleinen Liederbücher noch am besten erkennen
können. Die beiden letztgenannten Handschriften gab nun Franz Pfeiffer
für den Verein mit musterhafter Sorgfalt heraus, während F. Fellner die bei¬
gegebenen Reproduktionen in kolorirten Holzschnitten besorgte.

Dem Fleiße Kellers verdanken wir die Herausgabe von Konrads von
Würzburg Trojanischen Kriege, jenem umfangreichen, an 50000 Verse
umfassenden Gedichte, mit dem noch einmal der vergebliche Versuch einer mittel¬
alterlichen Ilias gemacht wurde. Bechstein stellt diese Arbeit Kellers an die
Spitze der unter den Arbeiten des Vereins vertretenen kritischen Leistungen.

Die auf französischem Boden heimische Sage von Karl dem Großen und
seinen Helden, die das Rolandslied des Pfaffen Konrad in Deutschland bekannt
machte, wurde um das Jahr 1300 mit andern Werken aus demselben Sagen¬
kreise zu einem großen Karlsepos zusammengeschmolzen. Es führt den Titel
Karlmeinet und wurde gleichfalls durch Keller der wissenschaftlichen Be¬
nutzung zugänglich gemacht.

Ein besondres Verdienst hat sich der Literarische Verein um die Novellistik
und die Schwankliteratur des 16. und 16. Jahrhunderts erworben. Auch hier
ist Keller in erster Linie mit seiner Ausgabe von Steinhöwels Decameron
M nennen, der ersten Verdeutschung von Boccaccios bekannter Novellensammlung,
sowie mit den von Augustin Tünger für Eberhard den Bärtigen von Würtem-
berg bestimmten 1?g.Lötias, die inhaltlich allerdings von wenig Interesse sind,
literargeschichtlich aber große Bedeutung haben, insofern sie zeigen, daß derartige
Geschichten auch in fürstlichen Kreisen Beifall fanden. Neben Keller ist auf
diesem Gebiete vor allen Oesterley, Bibliothekar in Breslau, zu nennen. Ihm


Grenzboten I. 1884. 70
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0563" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/155446"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Literarische verein in Stuttgart.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2262"> Wir beginnen mit den Werken, welche dem Gebiete der deutschen Poesie<lb/>
angehören, die, wie schon oben bemerkt wurde, am eifrigsten von dem Verein<lb/>
gefördert worden ist,</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2263"> Es ist bekannt, daß die Lieder unsrer deutschen Minnesinger in der Weise,<lb/>
wie sie von den Dichtern oder ihren Schreibern aufgezeichnet wurden, uns nicht<lb/>
erhalten sind. Sie wurden zunächst auf Wachstafeln niedergeschrieben und von<lb/>
diesen auf Pergamentrollen übertragen, von denen uns aber keine erhalten ist.<lb/>
Von ihrer Verwendung haben wir jedoch viele Spuren. In der Gestalt von<lb/>
Pergamentrollen übergab der Dichter seine Lieder einem Boten oder auch einem<lb/>
als Boten dienenden Fahrenden, der sie der Geliebten überbrachte. Aus den<lb/>
einzelnen Rollen wurden dann kleine Liederbücher zusammengestellt. Solche soll,<lb/>
wie uns der schweizerische Minnesinger Hadlaub erzählt, der Züricher Ratsherr<lb/>
Rüdiger von Manche gesammelt haben. Jedenfalls beruhen auf ihnen die drei<lb/>
auf uns gekommenen größeren Liederhandschriften der Minnesinger. Die<lb/>
berühmteste derselben ist bekanntlich die Pariser Handschrift, welche früher den<lb/>
Namen der Manessischen führte. Zwei andre befinden sich in Deutschland, die<lb/>
Weingärtner, früher dem Kloster Weingarten gehörig, jetzt in Stuttgart, und<lb/>
die Heidelberger, an der wir die kleinen Liederbücher noch am besten erkennen<lb/>
können. Die beiden letztgenannten Handschriften gab nun Franz Pfeiffer<lb/>
für den Verein mit musterhafter Sorgfalt heraus, während F. Fellner die bei¬<lb/>
gegebenen Reproduktionen in kolorirten Holzschnitten besorgte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2264"> Dem Fleiße Kellers verdanken wir die Herausgabe von Konrads von<lb/>
Würzburg Trojanischen Kriege, jenem umfangreichen, an 50000 Verse<lb/>
umfassenden Gedichte, mit dem noch einmal der vergebliche Versuch einer mittel¬<lb/>
alterlichen Ilias gemacht wurde. Bechstein stellt diese Arbeit Kellers an die<lb/>
Spitze der unter den Arbeiten des Vereins vertretenen kritischen Leistungen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2265"> Die auf französischem Boden heimische Sage von Karl dem Großen und<lb/>
seinen Helden, die das Rolandslied des Pfaffen Konrad in Deutschland bekannt<lb/>
machte, wurde um das Jahr 1300 mit andern Werken aus demselben Sagen¬<lb/>
kreise zu einem großen Karlsepos zusammengeschmolzen. Es führt den Titel<lb/>
Karlmeinet und wurde gleichfalls durch Keller der wissenschaftlichen Be¬<lb/>
nutzung zugänglich gemacht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2266" next="#ID_2267"> Ein besondres Verdienst hat sich der Literarische Verein um die Novellistik<lb/>
und die Schwankliteratur des 16. und 16. Jahrhunderts erworben. Auch hier<lb/>
ist Keller in erster Linie mit seiner Ausgabe von Steinhöwels Decameron<lb/>
M nennen, der ersten Verdeutschung von Boccaccios bekannter Novellensammlung,<lb/>
sowie mit den von Augustin Tünger für Eberhard den Bärtigen von Würtem-<lb/>
berg bestimmten 1?g.Lötias, die inhaltlich allerdings von wenig Interesse sind,<lb/>
literargeschichtlich aber große Bedeutung haben, insofern sie zeigen, daß derartige<lb/>
Geschichten auch in fürstlichen Kreisen Beifall fanden. Neben Keller ist auf<lb/>
diesem Gebiete vor allen Oesterley, Bibliothekar in Breslau, zu nennen. Ihm</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I. 1884. 70</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0563] Der Literarische verein in Stuttgart. Wir beginnen mit den Werken, welche dem Gebiete der deutschen Poesie angehören, die, wie schon oben bemerkt wurde, am eifrigsten von dem Verein gefördert worden ist, Es ist bekannt, daß die Lieder unsrer deutschen Minnesinger in der Weise, wie sie von den Dichtern oder ihren Schreibern aufgezeichnet wurden, uns nicht erhalten sind. Sie wurden zunächst auf Wachstafeln niedergeschrieben und von diesen auf Pergamentrollen übertragen, von denen uns aber keine erhalten ist. Von ihrer Verwendung haben wir jedoch viele Spuren. In der Gestalt von Pergamentrollen übergab der Dichter seine Lieder einem Boten oder auch einem als Boten dienenden Fahrenden, der sie der Geliebten überbrachte. Aus den einzelnen Rollen wurden dann kleine Liederbücher zusammengestellt. Solche soll, wie uns der schweizerische Minnesinger Hadlaub erzählt, der Züricher Ratsherr Rüdiger von Manche gesammelt haben. Jedenfalls beruhen auf ihnen die drei auf uns gekommenen größeren Liederhandschriften der Minnesinger. Die berühmteste derselben ist bekanntlich die Pariser Handschrift, welche früher den Namen der Manessischen führte. Zwei andre befinden sich in Deutschland, die Weingärtner, früher dem Kloster Weingarten gehörig, jetzt in Stuttgart, und die Heidelberger, an der wir die kleinen Liederbücher noch am besten erkennen können. Die beiden letztgenannten Handschriften gab nun Franz Pfeiffer für den Verein mit musterhafter Sorgfalt heraus, während F. Fellner die bei¬ gegebenen Reproduktionen in kolorirten Holzschnitten besorgte. Dem Fleiße Kellers verdanken wir die Herausgabe von Konrads von Würzburg Trojanischen Kriege, jenem umfangreichen, an 50000 Verse umfassenden Gedichte, mit dem noch einmal der vergebliche Versuch einer mittel¬ alterlichen Ilias gemacht wurde. Bechstein stellt diese Arbeit Kellers an die Spitze der unter den Arbeiten des Vereins vertretenen kritischen Leistungen. Die auf französischem Boden heimische Sage von Karl dem Großen und seinen Helden, die das Rolandslied des Pfaffen Konrad in Deutschland bekannt machte, wurde um das Jahr 1300 mit andern Werken aus demselben Sagen¬ kreise zu einem großen Karlsepos zusammengeschmolzen. Es führt den Titel Karlmeinet und wurde gleichfalls durch Keller der wissenschaftlichen Be¬ nutzung zugänglich gemacht. Ein besondres Verdienst hat sich der Literarische Verein um die Novellistik und die Schwankliteratur des 16. und 16. Jahrhunderts erworben. Auch hier ist Keller in erster Linie mit seiner Ausgabe von Steinhöwels Decameron M nennen, der ersten Verdeutschung von Boccaccios bekannter Novellensammlung, sowie mit den von Augustin Tünger für Eberhard den Bärtigen von Würtem- berg bestimmten 1?g.Lötias, die inhaltlich allerdings von wenig Interesse sind, literargeschichtlich aber große Bedeutung haben, insofern sie zeigen, daß derartige Geschichten auch in fürstlichen Kreisen Beifall fanden. Neben Keller ist auf diesem Gebiete vor allen Oesterley, Bibliothekar in Breslau, zu nennen. Ihm Grenzboten I. 1884. 70

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/563
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/563>, abgerufen am 26.08.2024.