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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Die Einverleibung von Merw.

ausdrückten, aber diejenigen kamen der Wahrheit näher, welche sie nur für bestimmt
ansahen, "die britische Erregtheit zu beschwichtigen,".,. Vier Jahre nach Erlaß
jenes Rundschreibens war Nußland schon in Samarkand, nach zehn Jahren hatte
es sich zum Herrn von Chiwa gemacht, und nach kaum zwanzig Jahren hatte es
die Teke-Turkmenen erdrückt, eine Eisenbahn dnrch ihre Oase gebaut, von Persien
Gebictsabtretuugen erzwungen und schließlich seinen Eroberungen Merw hinzu¬
gefügt, ,,. Der innerste Grund des russischen Vordringens gegen Nordpersien und
Afghanistan ist der, daß dieser Vormarsch eine Operationsbasis gegen Lahore und
Delhi schafft, um die Eroberung Stambuls zu erleichtern,,,. Die Sache ist deshalb
nicht weniger ernst, weil Deutschland und Österreich in Betreff der Zukunft Kon-
stantinopels empfindlich sind, Unser Anteil an den Noten, welche aus dem großen,
jetzt durch die Erwerbung Merws von neuem beleuchteten Plane Rußlands ent¬
springen können, wird dndnrch, daß Rnszlcmd von der Straße nach dem Bosporus
abgelenkt und weiter uach Osten hingewiesen worden ist, nicht im mindeste" ge¬
schmälert worden. Auch darf man die moralische Wirkung der letzten russischen
Feldzüge und der Einverleibung von Merw uicht übersehen. Die letztere wird
sicherlich Aufregung in Indien verursachen, sie versetzt Persien in größere Ab¬
hängigkeit von Rußland, die Afghanen werden, gleich andern Leuten, geneigt sein,
die aufgehende Sonne anzubeten. Der einzige Akt zur Vereitelung der Projekte
Rußlands, der unsrerseits geschehen ist, bestand darin, daß man ans der Landkarte
eine Linie zog, welche die Grenze angab, über welche man Rußland nicht hinaus-
zugehen erlauben wollte. Jetzt wird sich zeigen, was damit gewonnen wurde. Es
handelt sich nicht um die Scheidelinie, die ein großer Strom bildet, sondern um
Steppen, wo Grenzmarken nicht so sichtbar sind."

Wir schließen mit der Bemerkung, daß uus Deutsche die Sache nur sehr
mittelbar angeht, England ist nicht unser Bundesgenosse, und Gladstone ist niemals
unser Freund gewesen, er steht uns mit Mißgunst und liberalem Vorurteil gegenüber.




Die Einverleibung von Merw.

ausdrückten, aber diejenigen kamen der Wahrheit näher, welche sie nur für bestimmt
ansahen, »die britische Erregtheit zu beschwichtigen,«.,. Vier Jahre nach Erlaß
jenes Rundschreibens war Nußland schon in Samarkand, nach zehn Jahren hatte
es sich zum Herrn von Chiwa gemacht, und nach kaum zwanzig Jahren hatte es
die Teke-Turkmenen erdrückt, eine Eisenbahn dnrch ihre Oase gebaut, von Persien
Gebictsabtretuugen erzwungen und schließlich seinen Eroberungen Merw hinzu¬
gefügt, ,,. Der innerste Grund des russischen Vordringens gegen Nordpersien und
Afghanistan ist der, daß dieser Vormarsch eine Operationsbasis gegen Lahore und
Delhi schafft, um die Eroberung Stambuls zu erleichtern,,,. Die Sache ist deshalb
nicht weniger ernst, weil Deutschland und Österreich in Betreff der Zukunft Kon-
stantinopels empfindlich sind, Unser Anteil an den Noten, welche aus dem großen,
jetzt durch die Erwerbung Merws von neuem beleuchteten Plane Rußlands ent¬
springen können, wird dndnrch, daß Rnszlcmd von der Straße nach dem Bosporus
abgelenkt und weiter uach Osten hingewiesen worden ist, nicht im mindeste» ge¬
schmälert worden. Auch darf man die moralische Wirkung der letzten russischen
Feldzüge und der Einverleibung von Merw uicht übersehen. Die letztere wird
sicherlich Aufregung in Indien verursachen, sie versetzt Persien in größere Ab¬
hängigkeit von Rußland, die Afghanen werden, gleich andern Leuten, geneigt sein,
die aufgehende Sonne anzubeten. Der einzige Akt zur Vereitelung der Projekte
Rußlands, der unsrerseits geschehen ist, bestand darin, daß man ans der Landkarte
eine Linie zog, welche die Grenze angab, über welche man Rußland nicht hinaus-
zugehen erlauben wollte. Jetzt wird sich zeigen, was damit gewonnen wurde. Es
handelt sich nicht um die Scheidelinie, die ein großer Strom bildet, sondern um
Steppen, wo Grenzmarken nicht so sichtbar sind."

Wir schließen mit der Bemerkung, daß uus Deutsche die Sache nur sehr
mittelbar angeht, England ist nicht unser Bundesgenosse, und Gladstone ist niemals
unser Freund gewesen, er steht uns mit Mißgunst und liberalem Vorurteil gegenüber.




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[0526] Die Einverleibung von Merw. ausdrückten, aber diejenigen kamen der Wahrheit näher, welche sie nur für bestimmt ansahen, »die britische Erregtheit zu beschwichtigen,«.,. Vier Jahre nach Erlaß jenes Rundschreibens war Nußland schon in Samarkand, nach zehn Jahren hatte es sich zum Herrn von Chiwa gemacht, und nach kaum zwanzig Jahren hatte es die Teke-Turkmenen erdrückt, eine Eisenbahn dnrch ihre Oase gebaut, von Persien Gebictsabtretuugen erzwungen und schließlich seinen Eroberungen Merw hinzu¬ gefügt, ,,. Der innerste Grund des russischen Vordringens gegen Nordpersien und Afghanistan ist der, daß dieser Vormarsch eine Operationsbasis gegen Lahore und Delhi schafft, um die Eroberung Stambuls zu erleichtern,,,. Die Sache ist deshalb nicht weniger ernst, weil Deutschland und Österreich in Betreff der Zukunft Kon- stantinopels empfindlich sind, Unser Anteil an den Noten, welche aus dem großen, jetzt durch die Erwerbung Merws von neuem beleuchteten Plane Rußlands ent¬ springen können, wird dndnrch, daß Rnszlcmd von der Straße nach dem Bosporus abgelenkt und weiter uach Osten hingewiesen worden ist, nicht im mindeste» ge¬ schmälert worden. Auch darf man die moralische Wirkung der letzten russischen Feldzüge und der Einverleibung von Merw uicht übersehen. Die letztere wird sicherlich Aufregung in Indien verursachen, sie versetzt Persien in größere Ab¬ hängigkeit von Rußland, die Afghanen werden, gleich andern Leuten, geneigt sein, die aufgehende Sonne anzubeten. Der einzige Akt zur Vereitelung der Projekte Rußlands, der unsrerseits geschehen ist, bestand darin, daß man ans der Landkarte eine Linie zog, welche die Grenze angab, über welche man Rußland nicht hinaus- zugehen erlauben wollte. Jetzt wird sich zeigen, was damit gewonnen wurde. Es handelt sich nicht um die Scheidelinie, die ein großer Strom bildet, sondern um Steppen, wo Grenzmarken nicht so sichtbar sind." Wir schließen mit der Bemerkung, daß uus Deutsche die Sache nur sehr mittelbar angeht, England ist nicht unser Bundesgenosse, und Gladstone ist niemals unser Freund gewesen, er steht uns mit Mißgunst und liberalem Vorurteil gegenüber.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/526>, abgerufen am 30.06.2024.