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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Unser Reichskanzler.

Es ist daher für den objektiven Beobachter, das heißt, für jemand, der keiner
Partei angehört, ein höchst ergötzliches und zugleich erhabenes Schauspiel, Vis-
marcks Politik, seinen Kampf mit äußern und innern Feinden zu betrachten.
ES ist ein noch schönerer Anblick, als ihn die Dramen Shakespeares gewähren
können, denn diese haben nur einen Menschen, jenes die Gottheit selber zum
Verfasser, und unser Held steht noch viel folgerichtiger, natürlicher und an¬
schaulicher unter den Personen zweiten Ranges, als die Helden im Drama der
Bühne.

Die auf das Leben, auf das Wirken gerichteten Eigenschaften beherrschen
das Dasein des Helden der That durchaus und machen ihn in der Hauptsache
zum eigentlichen Gegensatz des Gcdcmkenhelden. Als ein Beispiel hierfür möchte
ich die Anekdote von dem Freiherr" vom Stein anführen, welche Busch S. 427
des zweiten Bandes erzählt. Dieser große Staatsmann ließ sich durch vieles
Recke" und Scherzen dahin bringen, Goethes Faust zu lesen. Er erhielt
das Buch am Vormittage um zehn Uhr, sandte es nachmittags um vier Uhr
gelesen zurück und verlangte den zweiten Teil, machte am Abend Konversation
darüber und erklärte, der Faust sei ein unanständiges Buch, von dem man in
guter Gesellschaft nicht reden dürfte. Dem Reichskanzler, der übrigens mit dem
Herrn vom Stein etwa so zu vergleichen ist wie der Löwe mit einer Katze, ist
die beständige Thätigkeit ebenso notwendig, wie dem Denker die Ruhe ist. Hat
der Sturm nachgelassen, ist das augenblickliche Ziel erreicht, kommt eine Zeit,
wie sie dem Philosophen erwünscht und wahrhaft beseligend sein würde, so
wird der Reichskanzler vor Unmut und Langeweile krank. Die in ihm thätigen
Kräfte finden keinen würdigen Gegenstand mehr, das Gezänk mit den Kleinen
in den Kammern ekelt ihn an, er säugt an nachzudenken, und die nun not¬
wendige Vermutung, daß der Gewinn das Spiel nicht wert sei, macht ihn so
mißmutig, daß auch der Körper darunter leidet. Er selber denkt, daß sein
Leiden von Überarbeitung herrühre, und gewiß hat diese ihr Teil dazu bei¬
getragen, aber ich möchte in aller Bescheidenheit die Vermutung aussprechen,
daß ein plötzlich ausgeführter Überfall von feiten Frankreichs und Rußlands
-- den Gott in Gnaden verhüten möge --, daß wichtige ministerielle Beratungen,
die Eile der Botschafter, der Sturm der Depeschen, das Wiehern der Schlacht¬
rosse, der Dampf der von Kolonnen durchpflügten Erde und das Brüllen der
Kanonen die Nerven des Helden schneller kuriren würden, als alle Vertreter
aller Zweige der medizinischen Wissenschaft mit dem Inhalt aller Apotheke".
Es ist aber das Loos aller Helde" der That, die nicht etwa früh schon vom
Schicksal zu Boden geworfen werden und auf dem Schlachtfelde oder durch
Meuchelmord fallen, daß ihnen das Lebe" und die Welt immer trüber und
wirrer erscheinen, je älter sie werden. Sie lernen durch die Erfahrung, was
der Philosoph seinerseits intuitio erkannte: daß die Folgen der menschlichen
Handlungen unberechenbar sind und daß das Unternehme", die Menschen besser


Unser Reichskanzler.

Es ist daher für den objektiven Beobachter, das heißt, für jemand, der keiner
Partei angehört, ein höchst ergötzliches und zugleich erhabenes Schauspiel, Vis-
marcks Politik, seinen Kampf mit äußern und innern Feinden zu betrachten.
ES ist ein noch schönerer Anblick, als ihn die Dramen Shakespeares gewähren
können, denn diese haben nur einen Menschen, jenes die Gottheit selber zum
Verfasser, und unser Held steht noch viel folgerichtiger, natürlicher und an¬
schaulicher unter den Personen zweiten Ranges, als die Helden im Drama der
Bühne.

Die auf das Leben, auf das Wirken gerichteten Eigenschaften beherrschen
das Dasein des Helden der That durchaus und machen ihn in der Hauptsache
zum eigentlichen Gegensatz des Gcdcmkenhelden. Als ein Beispiel hierfür möchte
ich die Anekdote von dem Freiherr» vom Stein anführen, welche Busch S. 427
des zweiten Bandes erzählt. Dieser große Staatsmann ließ sich durch vieles
Recke» und Scherzen dahin bringen, Goethes Faust zu lesen. Er erhielt
das Buch am Vormittage um zehn Uhr, sandte es nachmittags um vier Uhr
gelesen zurück und verlangte den zweiten Teil, machte am Abend Konversation
darüber und erklärte, der Faust sei ein unanständiges Buch, von dem man in
guter Gesellschaft nicht reden dürfte. Dem Reichskanzler, der übrigens mit dem
Herrn vom Stein etwa so zu vergleichen ist wie der Löwe mit einer Katze, ist
die beständige Thätigkeit ebenso notwendig, wie dem Denker die Ruhe ist. Hat
der Sturm nachgelassen, ist das augenblickliche Ziel erreicht, kommt eine Zeit,
wie sie dem Philosophen erwünscht und wahrhaft beseligend sein würde, so
wird der Reichskanzler vor Unmut und Langeweile krank. Die in ihm thätigen
Kräfte finden keinen würdigen Gegenstand mehr, das Gezänk mit den Kleinen
in den Kammern ekelt ihn an, er säugt an nachzudenken, und die nun not¬
wendige Vermutung, daß der Gewinn das Spiel nicht wert sei, macht ihn so
mißmutig, daß auch der Körper darunter leidet. Er selber denkt, daß sein
Leiden von Überarbeitung herrühre, und gewiß hat diese ihr Teil dazu bei¬
getragen, aber ich möchte in aller Bescheidenheit die Vermutung aussprechen,
daß ein plötzlich ausgeführter Überfall von feiten Frankreichs und Rußlands
— den Gott in Gnaden verhüten möge —, daß wichtige ministerielle Beratungen,
die Eile der Botschafter, der Sturm der Depeschen, das Wiehern der Schlacht¬
rosse, der Dampf der von Kolonnen durchpflügten Erde und das Brüllen der
Kanonen die Nerven des Helden schneller kuriren würden, als alle Vertreter
aller Zweige der medizinischen Wissenschaft mit dem Inhalt aller Apotheke».
Es ist aber das Loos aller Helde» der That, die nicht etwa früh schon vom
Schicksal zu Boden geworfen werden und auf dem Schlachtfelde oder durch
Meuchelmord fallen, daß ihnen das Lebe» und die Welt immer trüber und
wirrer erscheinen, je älter sie werden. Sie lernen durch die Erfahrung, was
der Philosoph seinerseits intuitio erkannte: daß die Folgen der menschlichen
Handlungen unberechenbar sind und daß das Unternehme», die Menschen besser


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[0514] Unser Reichskanzler. Es ist daher für den objektiven Beobachter, das heißt, für jemand, der keiner Partei angehört, ein höchst ergötzliches und zugleich erhabenes Schauspiel, Vis- marcks Politik, seinen Kampf mit äußern und innern Feinden zu betrachten. ES ist ein noch schönerer Anblick, als ihn die Dramen Shakespeares gewähren können, denn diese haben nur einen Menschen, jenes die Gottheit selber zum Verfasser, und unser Held steht noch viel folgerichtiger, natürlicher und an¬ schaulicher unter den Personen zweiten Ranges, als die Helden im Drama der Bühne. Die auf das Leben, auf das Wirken gerichteten Eigenschaften beherrschen das Dasein des Helden der That durchaus und machen ihn in der Hauptsache zum eigentlichen Gegensatz des Gcdcmkenhelden. Als ein Beispiel hierfür möchte ich die Anekdote von dem Freiherr» vom Stein anführen, welche Busch S. 427 des zweiten Bandes erzählt. Dieser große Staatsmann ließ sich durch vieles Recke» und Scherzen dahin bringen, Goethes Faust zu lesen. Er erhielt das Buch am Vormittage um zehn Uhr, sandte es nachmittags um vier Uhr gelesen zurück und verlangte den zweiten Teil, machte am Abend Konversation darüber und erklärte, der Faust sei ein unanständiges Buch, von dem man in guter Gesellschaft nicht reden dürfte. Dem Reichskanzler, der übrigens mit dem Herrn vom Stein etwa so zu vergleichen ist wie der Löwe mit einer Katze, ist die beständige Thätigkeit ebenso notwendig, wie dem Denker die Ruhe ist. Hat der Sturm nachgelassen, ist das augenblickliche Ziel erreicht, kommt eine Zeit, wie sie dem Philosophen erwünscht und wahrhaft beseligend sein würde, so wird der Reichskanzler vor Unmut und Langeweile krank. Die in ihm thätigen Kräfte finden keinen würdigen Gegenstand mehr, das Gezänk mit den Kleinen in den Kammern ekelt ihn an, er säugt an nachzudenken, und die nun not¬ wendige Vermutung, daß der Gewinn das Spiel nicht wert sei, macht ihn so mißmutig, daß auch der Körper darunter leidet. Er selber denkt, daß sein Leiden von Überarbeitung herrühre, und gewiß hat diese ihr Teil dazu bei¬ getragen, aber ich möchte in aller Bescheidenheit die Vermutung aussprechen, daß ein plötzlich ausgeführter Überfall von feiten Frankreichs und Rußlands — den Gott in Gnaden verhüten möge —, daß wichtige ministerielle Beratungen, die Eile der Botschafter, der Sturm der Depeschen, das Wiehern der Schlacht¬ rosse, der Dampf der von Kolonnen durchpflügten Erde und das Brüllen der Kanonen die Nerven des Helden schneller kuriren würden, als alle Vertreter aller Zweige der medizinischen Wissenschaft mit dem Inhalt aller Apotheke». Es ist aber das Loos aller Helde» der That, die nicht etwa früh schon vom Schicksal zu Boden geworfen werden und auf dem Schlachtfelde oder durch Meuchelmord fallen, daß ihnen das Lebe» und die Welt immer trüber und wirrer erscheinen, je älter sie werden. Sie lernen durch die Erfahrung, was der Philosoph seinerseits intuitio erkannte: daß die Folgen der menschlichen Handlungen unberechenbar sind und daß das Unternehme», die Menschen besser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/514>, abgerufen am 28.09.2024.