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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Die deutsche Universita'es-Entwicklung in den letzten fünfzig Jahren.

aus dem Überschuß von Professoren in der theologischen und dein Mangel der¬
selben in andern Fakultäten. Scheint in der medizinischen Fakultät die Er¬
richtung neuer Lehrstühle mit der Entwicklung der Wissenschaften und der Zu¬
nahme der Studenten Schritt gehalten zu haben, kommt es ferner bei den
juristischen Vorlesungen im allgemeinen, da Übungen in dieser Fakultät zu den
seltenern Vorkommnissen gehören, auf eine Erhöhung der Durchschnittszahl der
Studenten nicht an, so lassen die Zahlen der philosophischen Fakultät doch auf
ein Mißverhältnis schließen. Bei ihr ist augenscheinlich die Fürsorge für
Beschaffung neuer Katheder, dem Entwicklungsstande der betreffenden Wissen¬
schaften gemäß, weniger lebhaft gewesen. In der That zeigen gerade die zu
ihr gerechneten Wissensgebiete trotz der nicht zu leugnenden Entwicklung manche
Lücken. Die Zahl der Professoren für Kunstgeschichte, romanische Philologie,
Geographie, Nationalökonomie und Statistik in. könnte größer sein. Vielleicht
erklärt es sich aus diesen Verhältnissen, daß die Zahl der Privatdozenten relativ
gleich geblieben ist. Sie betrug im Jahre 1835 24,79, im Jahre 1840 26,9,
im Jahre 1865 24,57. im Jahre 1875 26,9, im Jahre 1880 25,37 Prozent
aller Universitätslehrer.

Es fragt sich nun, inwieweit die nachgewiesene Zunahme des Universitäts¬
studiums als erfreuliches Zeichen eines erweiterten Bildungsstrebens anzusehen
sei. Conrad führt den Aufschwung zum kleinsten Teile auf den Idealismus der
Jugend zurück; vielmehr sieht er ihn begründet in der bevorzugten sozialen
Stellung der Studirten bei uns, der zu Liebe mancher auf pekuniäre Vorteile
verzichtet; in der Verallgemeinerung der klassischen Bildung und Verbreitung
der höheren Bildungsnnstalten; endlich in der wirtschaftlichen Depression, die in
letzter Zeit den Landwirt, den Kaufmann, den Handwerker u. s. w. darauf be¬
dacht sein ließ, seine Söhne dem eignen ungewissen Erwerbszweige zu entziehen
und dem Studium zuzuführen. Demgemäß erwartet er eine Abhilfe namentlich
von einer Reorganisation des Schulwesens, welche die Zahl der Gymnasien und
gelehrten Schulen reduziren, die der lateinlosen Real- und Mittelschulen ver¬
mehren soll; von einer Erhöhung des Schulgeldes in den Gymnasien, um den
Strom von diesen abzuleiten und mit den Einnahmen die Kosten derselben decken
zu können, damit die gegenwärtig denselben gewährten hohen Unterstützungen
für andre Schulen frei werden; endlich von einer Änderung der Bedingungen
der Vorbildung, wie sie für die Berechtigung zum einjährigen Dienst und für
die Staatsämter aufgestellt sind. Da für viele Zweige erst das Reifezeugnis
der höhern Schule den Zugang eröffnet, da man ferner mit dem Maturitäts¬
zeugnis einer Bürgerschule oder dem Primanerzeugnis einer Realschule dasselbe
erreicht wie durch den Bestich der Sekunda eines Gymnasiums oder Realgym¬
nasiums, so ziehen es die Eltern jetzt vor, ihre Kinder den höchsten Schulen
zu übergeben, um ihnen alle Wege für die Zukunft offen zu halten.


Die deutsche Universita'es-Entwicklung in den letzten fünfzig Jahren.

aus dem Überschuß von Professoren in der theologischen und dein Mangel der¬
selben in andern Fakultäten. Scheint in der medizinischen Fakultät die Er¬
richtung neuer Lehrstühle mit der Entwicklung der Wissenschaften und der Zu¬
nahme der Studenten Schritt gehalten zu haben, kommt es ferner bei den
juristischen Vorlesungen im allgemeinen, da Übungen in dieser Fakultät zu den
seltenern Vorkommnissen gehören, auf eine Erhöhung der Durchschnittszahl der
Studenten nicht an, so lassen die Zahlen der philosophischen Fakultät doch auf
ein Mißverhältnis schließen. Bei ihr ist augenscheinlich die Fürsorge für
Beschaffung neuer Katheder, dem Entwicklungsstande der betreffenden Wissen¬
schaften gemäß, weniger lebhaft gewesen. In der That zeigen gerade die zu
ihr gerechneten Wissensgebiete trotz der nicht zu leugnenden Entwicklung manche
Lücken. Die Zahl der Professoren für Kunstgeschichte, romanische Philologie,
Geographie, Nationalökonomie und Statistik in. könnte größer sein. Vielleicht
erklärt es sich aus diesen Verhältnissen, daß die Zahl der Privatdozenten relativ
gleich geblieben ist. Sie betrug im Jahre 1835 24,79, im Jahre 1840 26,9,
im Jahre 1865 24,57. im Jahre 1875 26,9, im Jahre 1880 25,37 Prozent
aller Universitätslehrer.

Es fragt sich nun, inwieweit die nachgewiesene Zunahme des Universitäts¬
studiums als erfreuliches Zeichen eines erweiterten Bildungsstrebens anzusehen
sei. Conrad führt den Aufschwung zum kleinsten Teile auf den Idealismus der
Jugend zurück; vielmehr sieht er ihn begründet in der bevorzugten sozialen
Stellung der Studirten bei uns, der zu Liebe mancher auf pekuniäre Vorteile
verzichtet; in der Verallgemeinerung der klassischen Bildung und Verbreitung
der höheren Bildungsnnstalten; endlich in der wirtschaftlichen Depression, die in
letzter Zeit den Landwirt, den Kaufmann, den Handwerker u. s. w. darauf be¬
dacht sein ließ, seine Söhne dem eignen ungewissen Erwerbszweige zu entziehen
und dem Studium zuzuführen. Demgemäß erwartet er eine Abhilfe namentlich
von einer Reorganisation des Schulwesens, welche die Zahl der Gymnasien und
gelehrten Schulen reduziren, die der lateinlosen Real- und Mittelschulen ver¬
mehren soll; von einer Erhöhung des Schulgeldes in den Gymnasien, um den
Strom von diesen abzuleiten und mit den Einnahmen die Kosten derselben decken
zu können, damit die gegenwärtig denselben gewährten hohen Unterstützungen
für andre Schulen frei werden; endlich von einer Änderung der Bedingungen
der Vorbildung, wie sie für die Berechtigung zum einjährigen Dienst und für
die Staatsämter aufgestellt sind. Da für viele Zweige erst das Reifezeugnis
der höhern Schule den Zugang eröffnet, da man ferner mit dem Maturitäts¬
zeugnis einer Bürgerschule oder dem Primanerzeugnis einer Realschule dasselbe
erreicht wie durch den Bestich der Sekunda eines Gymnasiums oder Realgym¬
nasiums, so ziehen es die Eltern jetzt vor, ihre Kinder den höchsten Schulen
zu übergeben, um ihnen alle Wege für die Zukunft offen zu halten.


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[0464] Die deutsche Universita'es-Entwicklung in den letzten fünfzig Jahren. aus dem Überschuß von Professoren in der theologischen und dein Mangel der¬ selben in andern Fakultäten. Scheint in der medizinischen Fakultät die Er¬ richtung neuer Lehrstühle mit der Entwicklung der Wissenschaften und der Zu¬ nahme der Studenten Schritt gehalten zu haben, kommt es ferner bei den juristischen Vorlesungen im allgemeinen, da Übungen in dieser Fakultät zu den seltenern Vorkommnissen gehören, auf eine Erhöhung der Durchschnittszahl der Studenten nicht an, so lassen die Zahlen der philosophischen Fakultät doch auf ein Mißverhältnis schließen. Bei ihr ist augenscheinlich die Fürsorge für Beschaffung neuer Katheder, dem Entwicklungsstande der betreffenden Wissen¬ schaften gemäß, weniger lebhaft gewesen. In der That zeigen gerade die zu ihr gerechneten Wissensgebiete trotz der nicht zu leugnenden Entwicklung manche Lücken. Die Zahl der Professoren für Kunstgeschichte, romanische Philologie, Geographie, Nationalökonomie und Statistik in. könnte größer sein. Vielleicht erklärt es sich aus diesen Verhältnissen, daß die Zahl der Privatdozenten relativ gleich geblieben ist. Sie betrug im Jahre 1835 24,79, im Jahre 1840 26,9, im Jahre 1865 24,57. im Jahre 1875 26,9, im Jahre 1880 25,37 Prozent aller Universitätslehrer. Es fragt sich nun, inwieweit die nachgewiesene Zunahme des Universitäts¬ studiums als erfreuliches Zeichen eines erweiterten Bildungsstrebens anzusehen sei. Conrad führt den Aufschwung zum kleinsten Teile auf den Idealismus der Jugend zurück; vielmehr sieht er ihn begründet in der bevorzugten sozialen Stellung der Studirten bei uns, der zu Liebe mancher auf pekuniäre Vorteile verzichtet; in der Verallgemeinerung der klassischen Bildung und Verbreitung der höheren Bildungsnnstalten; endlich in der wirtschaftlichen Depression, die in letzter Zeit den Landwirt, den Kaufmann, den Handwerker u. s. w. darauf be¬ dacht sein ließ, seine Söhne dem eignen ungewissen Erwerbszweige zu entziehen und dem Studium zuzuführen. Demgemäß erwartet er eine Abhilfe namentlich von einer Reorganisation des Schulwesens, welche die Zahl der Gymnasien und gelehrten Schulen reduziren, die der lateinlosen Real- und Mittelschulen ver¬ mehren soll; von einer Erhöhung des Schulgeldes in den Gymnasien, um den Strom von diesen abzuleiten und mit den Einnahmen die Kosten derselben decken zu können, damit die gegenwärtig denselben gewährten hohen Unterstützungen für andre Schulen frei werden; endlich von einer Änderung der Bedingungen der Vorbildung, wie sie für die Berechtigung zum einjährigen Dienst und für die Staatsämter aufgestellt sind. Da für viele Zweige erst das Reifezeugnis der höhern Schule den Zugang eröffnet, da man ferner mit dem Maturitäts¬ zeugnis einer Bürgerschule oder dem Primanerzeugnis einer Realschule dasselbe erreicht wie durch den Bestich der Sekunda eines Gymnasiums oder Realgym¬ nasiums, so ziehen es die Eltern jetzt vor, ihre Kinder den höchsten Schulen zu übergeben, um ihnen alle Wege für die Zukunft offen zu halten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/464>, abgerufen am 25.07.2024.