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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Rußland "nid die mmcnischo Fiag^.

lichkeit der armenischen Kirche treten derartige Erwägungen natürlich noch weit
mehr in den Vordergrund, So kommt es, daß dieselbe und mit ihr der Pa¬
triarch kein reges Verlangen trägt, die armenischen Rajahs aus dem türkischen
Unterthanenverbande ausscheiden zu sehen. Der armenische Klerus war bisher
mit der Türkenherrschaft nicht unzufrieden, welche in allen geistlichen Angelegen¬
heiten der nichtmohamcdanischen Unterthanen bekanntlich die größte Toleranz zu
üben Pflegte, sich nie in die kirchlichen Händel der verschiednen Kongregationen
einmischte und so dem Patriarchat in allen diesen Fragen eine Unabhängigkeit
gewährte, welche es weder in einem Nationalstaat noch unter dem russischen
Zepter genießen würde.

Es scheint freilich, daß neuerdings von der Pforte Versuche gemacht werden,
die Funktionen der geistlichen Oberhäupter zu beschränken und einzelne ihrer
alten Privilegien aufzuheben. Der zwischen der türkischen Regierung und dem
ökumenische" Patriarchat kürzlich ausgebrochene Konflikt läßt erkennen, daß die
erstere bestrebt ist, die Autorität des Staates in einzelnen, bisher ausschließlich
der geistlichen Jurisdiktion unterstehenden Angelegenheiten mehr zur Geltung zu
bringen. Es liegt aber auf der Hand, daß die Spitze dieser Bestrebungen nicht
sowohl gegen das geistliche Oberhaupt als gegen die auf das letztere einwirkenden
fremden -- in diesem Spezialfall russischen -- Einflüsse gerichtet ist. Freilich
verläßt die Pfortenrcgierung damit die Bahnen ihrer alten Politik, und es ist
mehr als fraglich, ob eine solche Neuerung thatsächlich zum gewünschten Ziele
führen wird. Das System, die christlichen Unterthanen durch ihre Kircheu-
häupter regieren zu lassen, hat sich bisher bewährt; es entsprach dem Prinzip
der Türkciiherrschaft, welche die unterjochten Volksstümme nicht zu einem Ein-
heitsstaate zusammenschmelzen, sondern nnr beherrschen wollte. Die Eigentümlich¬
keiten der Rassen, die Verschiedenheiten des Glaubens waren den Eroberern
gleichgiltig gewesen, sie verfolgten keine nationalen oder idealen Ziele. Die
kriegerischen Sultane früherer Jahrhunderte kümmerte es wenig, was ihre christ¬
lichen Unterthanen glaubten, wenn sie nur gehorchten und zahlten. Von dem
Militärdienst, der Justiz und Verwaltung waren die Christen ausgeschlossen.
Mochten sie also immerhin ihre innern Angelegenheiten unter sich regeln. Der
allgemeine Begriff ottomanischer Unterthanschaft war unbekannt; es gab nur
Sieger und Besiegte, eine herrschende und eine unterdrückte Klasse. Obwohl
die Halts von 1839 und 1856 die Gleichberechtigung aller Unterthanen pro-
klamirten und unter den letzten Sultanen Christen zu höhern Staatsämtern
gelangen konnten, so blieben doch die Kirchenverfassuugeu der christlichen Kon¬
gregationen durch diese Neuerungen thatsächlich unberührt. Es war für die
Pforte viel bequemer, diesen Teil ihrer Unterthanen durch die Kirchenoberhcinptcr
zu regieren. Mit den Patriarchen wurde man leicht fertig. Diese hatten selbst
kein Interesse an der Abänderung vou Einrichtungen, denen sie gerade Ansehen
und Einfluß verdankten. Wenn die Pforte sich jetzt in die internen Angelegen-


Rußland »nid die mmcnischo Fiag^.

lichkeit der armenischen Kirche treten derartige Erwägungen natürlich noch weit
mehr in den Vordergrund, So kommt es, daß dieselbe und mit ihr der Pa¬
triarch kein reges Verlangen trägt, die armenischen Rajahs aus dem türkischen
Unterthanenverbande ausscheiden zu sehen. Der armenische Klerus war bisher
mit der Türkenherrschaft nicht unzufrieden, welche in allen geistlichen Angelegen¬
heiten der nichtmohamcdanischen Unterthanen bekanntlich die größte Toleranz zu
üben Pflegte, sich nie in die kirchlichen Händel der verschiednen Kongregationen
einmischte und so dem Patriarchat in allen diesen Fragen eine Unabhängigkeit
gewährte, welche es weder in einem Nationalstaat noch unter dem russischen
Zepter genießen würde.

Es scheint freilich, daß neuerdings von der Pforte Versuche gemacht werden,
die Funktionen der geistlichen Oberhäupter zu beschränken und einzelne ihrer
alten Privilegien aufzuheben. Der zwischen der türkischen Regierung und dem
ökumenische» Patriarchat kürzlich ausgebrochene Konflikt läßt erkennen, daß die
erstere bestrebt ist, die Autorität des Staates in einzelnen, bisher ausschließlich
der geistlichen Jurisdiktion unterstehenden Angelegenheiten mehr zur Geltung zu
bringen. Es liegt aber auf der Hand, daß die Spitze dieser Bestrebungen nicht
sowohl gegen das geistliche Oberhaupt als gegen die auf das letztere einwirkenden
fremden — in diesem Spezialfall russischen — Einflüsse gerichtet ist. Freilich
verläßt die Pfortenrcgierung damit die Bahnen ihrer alten Politik, und es ist
mehr als fraglich, ob eine solche Neuerung thatsächlich zum gewünschten Ziele
führen wird. Das System, die christlichen Unterthanen durch ihre Kircheu-
häupter regieren zu lassen, hat sich bisher bewährt; es entsprach dem Prinzip
der Türkciiherrschaft, welche die unterjochten Volksstümme nicht zu einem Ein-
heitsstaate zusammenschmelzen, sondern nnr beherrschen wollte. Die Eigentümlich¬
keiten der Rassen, die Verschiedenheiten des Glaubens waren den Eroberern
gleichgiltig gewesen, sie verfolgten keine nationalen oder idealen Ziele. Die
kriegerischen Sultane früherer Jahrhunderte kümmerte es wenig, was ihre christ¬
lichen Unterthanen glaubten, wenn sie nur gehorchten und zahlten. Von dem
Militärdienst, der Justiz und Verwaltung waren die Christen ausgeschlossen.
Mochten sie also immerhin ihre innern Angelegenheiten unter sich regeln. Der
allgemeine Begriff ottomanischer Unterthanschaft war unbekannt; es gab nur
Sieger und Besiegte, eine herrschende und eine unterdrückte Klasse. Obwohl
die Halts von 1839 und 1856 die Gleichberechtigung aller Unterthanen pro-
klamirten und unter den letzten Sultanen Christen zu höhern Staatsämtern
gelangen konnten, so blieben doch die Kirchenverfassuugeu der christlichen Kon¬
gregationen durch diese Neuerungen thatsächlich unberührt. Es war für die
Pforte viel bequemer, diesen Teil ihrer Unterthanen durch die Kirchenoberhcinptcr
zu regieren. Mit den Patriarchen wurde man leicht fertig. Diese hatten selbst
kein Interesse an der Abänderung vou Einrichtungen, denen sie gerade Ansehen
und Einfluß verdankten. Wenn die Pforte sich jetzt in die internen Angelegen-


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[0447] Rußland »nid die mmcnischo Fiag^. lichkeit der armenischen Kirche treten derartige Erwägungen natürlich noch weit mehr in den Vordergrund, So kommt es, daß dieselbe und mit ihr der Pa¬ triarch kein reges Verlangen trägt, die armenischen Rajahs aus dem türkischen Unterthanenverbande ausscheiden zu sehen. Der armenische Klerus war bisher mit der Türkenherrschaft nicht unzufrieden, welche in allen geistlichen Angelegen¬ heiten der nichtmohamcdanischen Unterthanen bekanntlich die größte Toleranz zu üben Pflegte, sich nie in die kirchlichen Händel der verschiednen Kongregationen einmischte und so dem Patriarchat in allen diesen Fragen eine Unabhängigkeit gewährte, welche es weder in einem Nationalstaat noch unter dem russischen Zepter genießen würde. Es scheint freilich, daß neuerdings von der Pforte Versuche gemacht werden, die Funktionen der geistlichen Oberhäupter zu beschränken und einzelne ihrer alten Privilegien aufzuheben. Der zwischen der türkischen Regierung und dem ökumenische» Patriarchat kürzlich ausgebrochene Konflikt läßt erkennen, daß die erstere bestrebt ist, die Autorität des Staates in einzelnen, bisher ausschließlich der geistlichen Jurisdiktion unterstehenden Angelegenheiten mehr zur Geltung zu bringen. Es liegt aber auf der Hand, daß die Spitze dieser Bestrebungen nicht sowohl gegen das geistliche Oberhaupt als gegen die auf das letztere einwirkenden fremden — in diesem Spezialfall russischen — Einflüsse gerichtet ist. Freilich verläßt die Pfortenrcgierung damit die Bahnen ihrer alten Politik, und es ist mehr als fraglich, ob eine solche Neuerung thatsächlich zum gewünschten Ziele führen wird. Das System, die christlichen Unterthanen durch ihre Kircheu- häupter regieren zu lassen, hat sich bisher bewährt; es entsprach dem Prinzip der Türkciiherrschaft, welche die unterjochten Volksstümme nicht zu einem Ein- heitsstaate zusammenschmelzen, sondern nnr beherrschen wollte. Die Eigentümlich¬ keiten der Rassen, die Verschiedenheiten des Glaubens waren den Eroberern gleichgiltig gewesen, sie verfolgten keine nationalen oder idealen Ziele. Die kriegerischen Sultane früherer Jahrhunderte kümmerte es wenig, was ihre christ¬ lichen Unterthanen glaubten, wenn sie nur gehorchten und zahlten. Von dem Militärdienst, der Justiz und Verwaltung waren die Christen ausgeschlossen. Mochten sie also immerhin ihre innern Angelegenheiten unter sich regeln. Der allgemeine Begriff ottomanischer Unterthanschaft war unbekannt; es gab nur Sieger und Besiegte, eine herrschende und eine unterdrückte Klasse. Obwohl die Halts von 1839 und 1856 die Gleichberechtigung aller Unterthanen pro- klamirten und unter den letzten Sultanen Christen zu höhern Staatsämtern gelangen konnten, so blieben doch die Kirchenverfassuugeu der christlichen Kon¬ gregationen durch diese Neuerungen thatsächlich unberührt. Es war für die Pforte viel bequemer, diesen Teil ihrer Unterthanen durch die Kirchenoberhcinptcr zu regieren. Mit den Patriarchen wurde man leicht fertig. Diese hatten selbst kein Interesse an der Abänderung vou Einrichtungen, denen sie gerade Ansehen und Einfluß verdankten. Wenn die Pforte sich jetzt in die internen Angelegen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/447>, abgerufen am 25.07.2024.