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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Künstler und Kritiker.

so muß man ebenso von zwölf verschiednen Künstlern, welche dasselbe Thema
bearbeiten, zwölf verschiedne Auffassungen erwarten, vorausgesetzt, daß jeder
Künstler eine ausgeprägte Individualität besitzt. Nehmen wir z, V. an, daß
ihnen die Aufgabe gestellt sei, den Abschied eines preußischen Soldaten, der in
den Krieg zieht, von seiner Geliebten zu malen. Piloty würde die beiden Fi¬
guren, dem Ernste des Moments entsprechend, mit theatralischen Pathos er¬
füllen, etwa wie Hektors Abschied von Andromache. Unter Thumanns Händen
würde die Braut in Jammer zerfließen, und der Krieger würde auch einer
Thränenweide ähnlicher sehen als einem preußischen Grenadier. Kraus würde
sich die Szene mit etwas Humor zurechtmachen, etwa nach der Melodie:
"Lavise! Lavise! wisch ab dein Gesicht! Eine jede Kugel, die trifft ja nicht!"
Gussow würde die beiden Figuren zu Trägern gewagter Farbencxperimente
machen, und A. v. Werner würde vor allen Dingen darauf sehen, daß die Uni¬
formknöpfe richtig sitzen, er würde darauf halten, daß die Soldatenstiefel recht
natürlich aussehen, der Waffenrock recht blau gemalt ist, und sich im übrigen um die
seelische Stimmung der beiden Leutchen nicht im mindesten kümmern. Jeder
wird behaupten, daß er von seinem Standpunkte aus Recht habe, weil sich die
Situation in seinem Gemüte so widergespiegelt hat, wie er sie zum Ausdrucke
gebrocht hat.

Muß man nicht das gleiche Recht subjektiver Anschauungs- und Empfindungs-
weise dem Laien zugestehen, welcher ein Bild betrachtet, dem Kritiker, welcher
das Resultat seiner Betrachtungen in Worten formulirt? Ebensowenig wie
einer jener Künstler von sich sagen kann und wird, daß er einen Gegenstand
allein und voll und ganz erschöpft habe, ebensowenig wird ein Kritiker sein
Urteil als allein- und allgemeingiltig proklamiren können und wollen. Wenn
es hüben und drüben dünkelhafte Leute geben sollte, die solches dennoch thun,
so wären das doch nur vereinzelte Ausnahmen, um deretwillen nicht alle
übrigen leiden dürfen. Wenn ein Künstler statt eines Literaten die kritische
Feder führt, was die Künstler fortwährend verlangen, so ist er genau denselben
subjektiven Stimmungen unterworfen wie der Laienkritiker, der nicht zeichnen
oder malen kann, und man wird genau ebensoviele, einander widersprechende
Urteile finden, wenn man die Kritiken der Maler zusammenstellt, als sie Quidam
bei den Literaten gefunden hat. Man vergleiche nur, was Friedrich Pecht und
Ludwig Pietsch, zwei Maler, die freilich nicht mehr malen, über Berliner Künstler
urteilen. Der erstere verfolgt alles, was in Berlin gemalt, gezeichnet, gemeißelt
und gebaut wird, mit unerbittlicher Strenge, während der amore für alle
Äußerungen des Berliner Kunstgeistes eine zärtliche Liebe hegt. Beides ist er¬
klärlich: der Süddeutsche Pecht ist mit der Münchner Künstlerschaft so innig
verwachsen, daß er den unbefangnen Blick für alles, was außerhalb Münchens
geschaffen wird, völlig eingebüßt hat, und zwar bis zu einem Grade, daß er
z. B. A. v. Werners Kongreßbild, auf welchem die Zierden der europäischen


Künstler und Kritiker.

so muß man ebenso von zwölf verschiednen Künstlern, welche dasselbe Thema
bearbeiten, zwölf verschiedne Auffassungen erwarten, vorausgesetzt, daß jeder
Künstler eine ausgeprägte Individualität besitzt. Nehmen wir z, V. an, daß
ihnen die Aufgabe gestellt sei, den Abschied eines preußischen Soldaten, der in
den Krieg zieht, von seiner Geliebten zu malen. Piloty würde die beiden Fi¬
guren, dem Ernste des Moments entsprechend, mit theatralischen Pathos er¬
füllen, etwa wie Hektors Abschied von Andromache. Unter Thumanns Händen
würde die Braut in Jammer zerfließen, und der Krieger würde auch einer
Thränenweide ähnlicher sehen als einem preußischen Grenadier. Kraus würde
sich die Szene mit etwas Humor zurechtmachen, etwa nach der Melodie:
„Lavise! Lavise! wisch ab dein Gesicht! Eine jede Kugel, die trifft ja nicht!"
Gussow würde die beiden Figuren zu Trägern gewagter Farbencxperimente
machen, und A. v. Werner würde vor allen Dingen darauf sehen, daß die Uni¬
formknöpfe richtig sitzen, er würde darauf halten, daß die Soldatenstiefel recht
natürlich aussehen, der Waffenrock recht blau gemalt ist, und sich im übrigen um die
seelische Stimmung der beiden Leutchen nicht im mindesten kümmern. Jeder
wird behaupten, daß er von seinem Standpunkte aus Recht habe, weil sich die
Situation in seinem Gemüte so widergespiegelt hat, wie er sie zum Ausdrucke
gebrocht hat.

Muß man nicht das gleiche Recht subjektiver Anschauungs- und Empfindungs-
weise dem Laien zugestehen, welcher ein Bild betrachtet, dem Kritiker, welcher
das Resultat seiner Betrachtungen in Worten formulirt? Ebensowenig wie
einer jener Künstler von sich sagen kann und wird, daß er einen Gegenstand
allein und voll und ganz erschöpft habe, ebensowenig wird ein Kritiker sein
Urteil als allein- und allgemeingiltig proklamiren können und wollen. Wenn
es hüben und drüben dünkelhafte Leute geben sollte, die solches dennoch thun,
so wären das doch nur vereinzelte Ausnahmen, um deretwillen nicht alle
übrigen leiden dürfen. Wenn ein Künstler statt eines Literaten die kritische
Feder führt, was die Künstler fortwährend verlangen, so ist er genau denselben
subjektiven Stimmungen unterworfen wie der Laienkritiker, der nicht zeichnen
oder malen kann, und man wird genau ebensoviele, einander widersprechende
Urteile finden, wenn man die Kritiken der Maler zusammenstellt, als sie Quidam
bei den Literaten gefunden hat. Man vergleiche nur, was Friedrich Pecht und
Ludwig Pietsch, zwei Maler, die freilich nicht mehr malen, über Berliner Künstler
urteilen. Der erstere verfolgt alles, was in Berlin gemalt, gezeichnet, gemeißelt
und gebaut wird, mit unerbittlicher Strenge, während der amore für alle
Äußerungen des Berliner Kunstgeistes eine zärtliche Liebe hegt. Beides ist er¬
klärlich: der Süddeutsche Pecht ist mit der Münchner Künstlerschaft so innig
verwachsen, daß er den unbefangnen Blick für alles, was außerhalb Münchens
geschaffen wird, völlig eingebüßt hat, und zwar bis zu einem Grade, daß er
z. B. A. v. Werners Kongreßbild, auf welchem die Zierden der europäischen


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[0044] Künstler und Kritiker. so muß man ebenso von zwölf verschiednen Künstlern, welche dasselbe Thema bearbeiten, zwölf verschiedne Auffassungen erwarten, vorausgesetzt, daß jeder Künstler eine ausgeprägte Individualität besitzt. Nehmen wir z, V. an, daß ihnen die Aufgabe gestellt sei, den Abschied eines preußischen Soldaten, der in den Krieg zieht, von seiner Geliebten zu malen. Piloty würde die beiden Fi¬ guren, dem Ernste des Moments entsprechend, mit theatralischen Pathos er¬ füllen, etwa wie Hektors Abschied von Andromache. Unter Thumanns Händen würde die Braut in Jammer zerfließen, und der Krieger würde auch einer Thränenweide ähnlicher sehen als einem preußischen Grenadier. Kraus würde sich die Szene mit etwas Humor zurechtmachen, etwa nach der Melodie: „Lavise! Lavise! wisch ab dein Gesicht! Eine jede Kugel, die trifft ja nicht!" Gussow würde die beiden Figuren zu Trägern gewagter Farbencxperimente machen, und A. v. Werner würde vor allen Dingen darauf sehen, daß die Uni¬ formknöpfe richtig sitzen, er würde darauf halten, daß die Soldatenstiefel recht natürlich aussehen, der Waffenrock recht blau gemalt ist, und sich im übrigen um die seelische Stimmung der beiden Leutchen nicht im mindesten kümmern. Jeder wird behaupten, daß er von seinem Standpunkte aus Recht habe, weil sich die Situation in seinem Gemüte so widergespiegelt hat, wie er sie zum Ausdrucke gebrocht hat. Muß man nicht das gleiche Recht subjektiver Anschauungs- und Empfindungs- weise dem Laien zugestehen, welcher ein Bild betrachtet, dem Kritiker, welcher das Resultat seiner Betrachtungen in Worten formulirt? Ebensowenig wie einer jener Künstler von sich sagen kann und wird, daß er einen Gegenstand allein und voll und ganz erschöpft habe, ebensowenig wird ein Kritiker sein Urteil als allein- und allgemeingiltig proklamiren können und wollen. Wenn es hüben und drüben dünkelhafte Leute geben sollte, die solches dennoch thun, so wären das doch nur vereinzelte Ausnahmen, um deretwillen nicht alle übrigen leiden dürfen. Wenn ein Künstler statt eines Literaten die kritische Feder führt, was die Künstler fortwährend verlangen, so ist er genau denselben subjektiven Stimmungen unterworfen wie der Laienkritiker, der nicht zeichnen oder malen kann, und man wird genau ebensoviele, einander widersprechende Urteile finden, wenn man die Kritiken der Maler zusammenstellt, als sie Quidam bei den Literaten gefunden hat. Man vergleiche nur, was Friedrich Pecht und Ludwig Pietsch, zwei Maler, die freilich nicht mehr malen, über Berliner Künstler urteilen. Der erstere verfolgt alles, was in Berlin gemalt, gezeichnet, gemeißelt und gebaut wird, mit unerbittlicher Strenge, während der amore für alle Äußerungen des Berliner Kunstgeistes eine zärtliche Liebe hegt. Beides ist er¬ klärlich: der Süddeutsche Pecht ist mit der Münchner Künstlerschaft so innig verwachsen, daß er den unbefangnen Blick für alles, was außerhalb Münchens geschaffen wird, völlig eingebüßt hat, und zwar bis zu einem Grade, daß er z. B. A. v. Werners Kongreßbild, auf welchem die Zierden der europäischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/44>, abgerufen am 28.09.2024.