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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Die niederländische Genre- und Lcmdschafismcilerci.

gebaut; ihre Glieder sind zu dünn oder zu lang, ihre Köpfe meist zu groß und
ihre Bewegungen eckig und unbeholfen. Bei seinem Nachfolger und Schüler
Memling werden diese Mängel durch ein unverkennbares Streben nach Anmut
und Lieblichkeit, durch die schüchterne Holdseligkeit der Frauen, durch eine große
Innigkeit der Empfindung verdeckt. Indessen haben beide Künstler aus der
Schultradition immer noch ein ausgeprägtes Naturgefühl und dabei auch einen
lebhaften Sinn für die Landschaft bewahrt. Roger van der Wcyden liebt es
sogar, auf seinen Altarbildern die landschaftlichen Fernsichten möglichst weit
auszudehnen, damit er auf ihnen noch Szenen mit kleinen Figuren darstellen
kann, welche den Hanptvorgang im Vordergründe episch ergänzen und er¬
läutern. Flußthäler, die von zackigen Bergen und Felsen eingeschlossen sind,
in saftigen, Grün prangende Wiesen und vereinzelte Bäume, welche offenbar
auf direkten Naturstudien beruhen, sind die Hauptelemente dieser Landschaft.
Eine gleichmäßig klare Luft ist über dieselbe ausgebreitet: im Vorder¬
gründe liegt ein Heller grüner Schimmer auf den Flächen, der allmählich
gegen den Hintergrund in einen blauen Duft übergeht. Auch bei Memling
findet sich noch diese feine Abstufung der Töne, während ein älterer Meister,
der aus Harlem stammt, Dierick Bouts, in den reichen landschaftlichen Hinter¬
gründen seiner Gemälde schon viel derber vorgeht und mehr nach energischen
Kontrasten strebt. Es ist auffallend und nicht anders als aus lokalen Ein¬
flüssen zu erklären, daß dieser Künstler, welcher unter allen Nachfolgern van
Eycks den stärkste" realistischen Zug auszuweisen hat, aus jenem nördlichen Teile
der Niederlande stammt, in welchem zwei Jahrhunderte später die realistische
Kunst zur höchsten Entfaltung kommen sollte. Bouts war schon um 1448 in
Löwen, wo er vermutlich den Einfluß Rogers van der Weydcn erfuhr. Auch
er liebt es, die landschaftlichen Hintergründe möglichst weit auszudehnen und
sie, wie Memling, mit stattlichen Bauwerken, mit Schlössern, Türmen, Kathe¬
dralen, ja mit ganzen Städten zu besetzen, welche so eingehend dctaillirt sind,
daß man noch jetzt manches Bauwerk identifiziren kann. Seine Landschaften
haben meist einen hügligen Charakter. Auf den Kuppen der Hügel stehen ver¬
einzelte Bäume, seltener in Gruppen zusammen, und wenn man auf den Vorder¬
grund blickt, kau" mau jede Pflanze, jede Blume botanisch bestimmen, so
charaktervoll und sorgsam ist eine jede Staude, ein jedes Blatt, eine jede Blüte
ausgeführt, und selbst die Tiere, welche ini Grünen kriechen. Dierick Bouts
hat weder eigentliche Landschaften noch Genrebilder gemalt; aber er hat beide
Elemente, das gcnrehaftc wie das landschaftliche, auf seinen Gemälden so stark
betont, daß man einen Teil seines Hauptwerkes, des Altars für die Brüder¬
schaft des Sakraments in der Peterskirche zu Löwen, für ein Genrebild halten
könnte, wenn seine Zugehörigkeit zu dem Mittelbilde, dem noch an Ort und
Stelle befindlichen heiligen Abendmahl, und damit seine symbolische Bedeutung
nicht unzweifelhaft wäre. Jener Altar hatte nämlich vier Flügelbilder, die


Die niederländische Genre- und Lcmdschafismcilerci.

gebaut; ihre Glieder sind zu dünn oder zu lang, ihre Köpfe meist zu groß und
ihre Bewegungen eckig und unbeholfen. Bei seinem Nachfolger und Schüler
Memling werden diese Mängel durch ein unverkennbares Streben nach Anmut
und Lieblichkeit, durch die schüchterne Holdseligkeit der Frauen, durch eine große
Innigkeit der Empfindung verdeckt. Indessen haben beide Künstler aus der
Schultradition immer noch ein ausgeprägtes Naturgefühl und dabei auch einen
lebhaften Sinn für die Landschaft bewahrt. Roger van der Wcyden liebt es
sogar, auf seinen Altarbildern die landschaftlichen Fernsichten möglichst weit
auszudehnen, damit er auf ihnen noch Szenen mit kleinen Figuren darstellen
kann, welche den Hanptvorgang im Vordergründe episch ergänzen und er¬
läutern. Flußthäler, die von zackigen Bergen und Felsen eingeschlossen sind,
in saftigen, Grün prangende Wiesen und vereinzelte Bäume, welche offenbar
auf direkten Naturstudien beruhen, sind die Hauptelemente dieser Landschaft.
Eine gleichmäßig klare Luft ist über dieselbe ausgebreitet: im Vorder¬
gründe liegt ein Heller grüner Schimmer auf den Flächen, der allmählich
gegen den Hintergrund in einen blauen Duft übergeht. Auch bei Memling
findet sich noch diese feine Abstufung der Töne, während ein älterer Meister,
der aus Harlem stammt, Dierick Bouts, in den reichen landschaftlichen Hinter¬
gründen seiner Gemälde schon viel derber vorgeht und mehr nach energischen
Kontrasten strebt. Es ist auffallend und nicht anders als aus lokalen Ein¬
flüssen zu erklären, daß dieser Künstler, welcher unter allen Nachfolgern van
Eycks den stärkste» realistischen Zug auszuweisen hat, aus jenem nördlichen Teile
der Niederlande stammt, in welchem zwei Jahrhunderte später die realistische
Kunst zur höchsten Entfaltung kommen sollte. Bouts war schon um 1448 in
Löwen, wo er vermutlich den Einfluß Rogers van der Weydcn erfuhr. Auch
er liebt es, die landschaftlichen Hintergründe möglichst weit auszudehnen und
sie, wie Memling, mit stattlichen Bauwerken, mit Schlössern, Türmen, Kathe¬
dralen, ja mit ganzen Städten zu besetzen, welche so eingehend dctaillirt sind,
daß man noch jetzt manches Bauwerk identifiziren kann. Seine Landschaften
haben meist einen hügligen Charakter. Auf den Kuppen der Hügel stehen ver¬
einzelte Bäume, seltener in Gruppen zusammen, und wenn man auf den Vorder¬
grund blickt, kau» mau jede Pflanze, jede Blume botanisch bestimmen, so
charaktervoll und sorgsam ist eine jede Staude, ein jedes Blatt, eine jede Blüte
ausgeführt, und selbst die Tiere, welche ini Grünen kriechen. Dierick Bouts
hat weder eigentliche Landschaften noch Genrebilder gemalt; aber er hat beide
Elemente, das gcnrehaftc wie das landschaftliche, auf seinen Gemälden so stark
betont, daß man einen Teil seines Hauptwerkes, des Altars für die Brüder¬
schaft des Sakraments in der Peterskirche zu Löwen, für ein Genrebild halten
könnte, wenn seine Zugehörigkeit zu dem Mittelbilde, dem noch an Ort und
Stelle befindlichen heiligen Abendmahl, und damit seine symbolische Bedeutung
nicht unzweifelhaft wäre. Jener Altar hatte nämlich vier Flügelbilder, die


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[0407] Die niederländische Genre- und Lcmdschafismcilerci. gebaut; ihre Glieder sind zu dünn oder zu lang, ihre Köpfe meist zu groß und ihre Bewegungen eckig und unbeholfen. Bei seinem Nachfolger und Schüler Memling werden diese Mängel durch ein unverkennbares Streben nach Anmut und Lieblichkeit, durch die schüchterne Holdseligkeit der Frauen, durch eine große Innigkeit der Empfindung verdeckt. Indessen haben beide Künstler aus der Schultradition immer noch ein ausgeprägtes Naturgefühl und dabei auch einen lebhaften Sinn für die Landschaft bewahrt. Roger van der Wcyden liebt es sogar, auf seinen Altarbildern die landschaftlichen Fernsichten möglichst weit auszudehnen, damit er auf ihnen noch Szenen mit kleinen Figuren darstellen kann, welche den Hanptvorgang im Vordergründe episch ergänzen und er¬ läutern. Flußthäler, die von zackigen Bergen und Felsen eingeschlossen sind, in saftigen, Grün prangende Wiesen und vereinzelte Bäume, welche offenbar auf direkten Naturstudien beruhen, sind die Hauptelemente dieser Landschaft. Eine gleichmäßig klare Luft ist über dieselbe ausgebreitet: im Vorder¬ gründe liegt ein Heller grüner Schimmer auf den Flächen, der allmählich gegen den Hintergrund in einen blauen Duft übergeht. Auch bei Memling findet sich noch diese feine Abstufung der Töne, während ein älterer Meister, der aus Harlem stammt, Dierick Bouts, in den reichen landschaftlichen Hinter¬ gründen seiner Gemälde schon viel derber vorgeht und mehr nach energischen Kontrasten strebt. Es ist auffallend und nicht anders als aus lokalen Ein¬ flüssen zu erklären, daß dieser Künstler, welcher unter allen Nachfolgern van Eycks den stärkste» realistischen Zug auszuweisen hat, aus jenem nördlichen Teile der Niederlande stammt, in welchem zwei Jahrhunderte später die realistische Kunst zur höchsten Entfaltung kommen sollte. Bouts war schon um 1448 in Löwen, wo er vermutlich den Einfluß Rogers van der Weydcn erfuhr. Auch er liebt es, die landschaftlichen Hintergründe möglichst weit auszudehnen und sie, wie Memling, mit stattlichen Bauwerken, mit Schlössern, Türmen, Kathe¬ dralen, ja mit ganzen Städten zu besetzen, welche so eingehend dctaillirt sind, daß man noch jetzt manches Bauwerk identifiziren kann. Seine Landschaften haben meist einen hügligen Charakter. Auf den Kuppen der Hügel stehen ver¬ einzelte Bäume, seltener in Gruppen zusammen, und wenn man auf den Vorder¬ grund blickt, kau» mau jede Pflanze, jede Blume botanisch bestimmen, so charaktervoll und sorgsam ist eine jede Staude, ein jedes Blatt, eine jede Blüte ausgeführt, und selbst die Tiere, welche ini Grünen kriechen. Dierick Bouts hat weder eigentliche Landschaften noch Genrebilder gemalt; aber er hat beide Elemente, das gcnrehaftc wie das landschaftliche, auf seinen Gemälden so stark betont, daß man einen Teil seines Hauptwerkes, des Altars für die Brüder¬ schaft des Sakraments in der Peterskirche zu Löwen, für ein Genrebild halten könnte, wenn seine Zugehörigkeit zu dem Mittelbilde, dem noch an Ort und Stelle befindlichen heiligen Abendmahl, und damit seine symbolische Bedeutung nicht unzweifelhaft wäre. Jener Altar hatte nämlich vier Flügelbilder, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/407>, abgerufen am 01.07.2024.