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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

ungeduldig, bis das volle Laub hervortritt, bis die Landschaft sich verkörpert
und der Baum sich als eine Gestalt uns eutgegcndrängt." Ein ähnlicher Ge¬
danke schon 1781. an Frau von Stein (15. November): "Das abgefallene Laub
gewährt nur nichts Gutes, -- als daß ich deine Wohnung sehen kann," und
ganz spät, in den "Chinesisch-deutschen Jahres- und Tageszeiten," aus dem Jahre
^-327, vom Sommer:


Auch mir hat er tels leichte Land
An jenein Baum verdichtet,
Durch das ich sonst zu schönstem iüaub
Den Liebesblick gerichtet.

Aber es giebt Länder, wo die Bäume im Herbst ihr Laub uicht abwerfen;
es sind die hesperischen Gegenden der immergrünen Flora, in denen der Winter
nicht kahl ist. Auch diesen Süden jenseits des Alpengebirges hat der Dichter
>n der Jugend geahnt, dann dichterisch erraten, dann in der Gegenwart mit
allen Sinnen in sich aufgenommen. Dort leuchtet ein andrer Himmel:


Ein weißer Glanz ruht über Land und Meer,
Und duftend schwebt der Äther ohne Wolken.

Der Luftton färbt die Uferfelsen blau, und so sieht sie der Schiffer aus der Ferne:


Sieht die Berge schon blau, die scheidenden -- (Alexis und Dom),
Des väterlichen Hafens blaue Berge -- (Iphigenie),

der Tag ist dort farbiger, die Nacht durchsichtiger:


Nun nmlenchtet der Glanz des heiteren ÄthetS die Seine,
Phöbus rufet, der Gott, Formen und Farben hervor.
Sternhell glänzet die Nacht, sie klingt von weichen Gefangen
lind mir leuchtet der Mond Heller als nordischer Tag.

Eine südliche Ruiucnszenc in Abendstimmung malt uns der "Wandrer," die
Garde" in Italien die erste Strophe von Mignons berühmtem Liede und das
schöne Fragment der Nausikaa, die Villa des Reichen im Frühling mit den
Bildern der epischen Dichter die erste Szene des Tasso:


schwankend wiegen
Im Morgenwinde sich die jungen Zweige;
Die Blumen von den Beeten schauen uus
Mit ihren Kinderaugen freundlich ein;
Der Gärtner deckt getrost das Winterhaus
Schon der Zitronen und Orangen ab,
Der blaue Himmel ruhet über uns
Und um dem Horizonte löst der Schnee
Der fernen Berge sich in leisen Dust.

Zwar wurde in Rom nur der "gebildete" Stein, nicht der natürliche, an¬
gesehen; "die Form hatte allen Anteil an der Materie verdrängt" (an Knebel,


Gedanken über Goethe.

ungeduldig, bis das volle Laub hervortritt, bis die Landschaft sich verkörpert
und der Baum sich als eine Gestalt uns eutgegcndrängt." Ein ähnlicher Ge¬
danke schon 1781. an Frau von Stein (15. November): „Das abgefallene Laub
gewährt nur nichts Gutes, — als daß ich deine Wohnung sehen kann," und
ganz spät, in den „Chinesisch-deutschen Jahres- und Tageszeiten," aus dem Jahre
^-327, vom Sommer:


Auch mir hat er tels leichte Land
An jenein Baum verdichtet,
Durch das ich sonst zu schönstem iüaub
Den Liebesblick gerichtet.

Aber es giebt Länder, wo die Bäume im Herbst ihr Laub uicht abwerfen;
es sind die hesperischen Gegenden der immergrünen Flora, in denen der Winter
nicht kahl ist. Auch diesen Süden jenseits des Alpengebirges hat der Dichter
>n der Jugend geahnt, dann dichterisch erraten, dann in der Gegenwart mit
allen Sinnen in sich aufgenommen. Dort leuchtet ein andrer Himmel:


Ein weißer Glanz ruht über Land und Meer,
Und duftend schwebt der Äther ohne Wolken.

Der Luftton färbt die Uferfelsen blau, und so sieht sie der Schiffer aus der Ferne:


Sieht die Berge schon blau, die scheidenden — (Alexis und Dom),
Des väterlichen Hafens blaue Berge — (Iphigenie),

der Tag ist dort farbiger, die Nacht durchsichtiger:


Nun nmlenchtet der Glanz des heiteren ÄthetS die Seine,
Phöbus rufet, der Gott, Formen und Farben hervor.
Sternhell glänzet die Nacht, sie klingt von weichen Gefangen
lind mir leuchtet der Mond Heller als nordischer Tag.

Eine südliche Ruiucnszenc in Abendstimmung malt uns der „Wandrer," die
Garde» in Italien die erste Strophe von Mignons berühmtem Liede und das
schöne Fragment der Nausikaa, die Villa des Reichen im Frühling mit den
Bildern der epischen Dichter die erste Szene des Tasso:


schwankend wiegen
Im Morgenwinde sich die jungen Zweige;
Die Blumen von den Beeten schauen uus
Mit ihren Kinderaugen freundlich ein;
Der Gärtner deckt getrost das Winterhaus
Schon der Zitronen und Orangen ab,
Der blaue Himmel ruhet über uns
Und um dem Horizonte löst der Schnee
Der fernen Berge sich in leisen Dust.

Zwar wurde in Rom nur der „gebildete" Stein, nicht der natürliche, an¬
gesehen; „die Form hatte allen Anteil an der Materie verdrängt" (an Knebel,


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[0405] Gedanken über Goethe. ungeduldig, bis das volle Laub hervortritt, bis die Landschaft sich verkörpert und der Baum sich als eine Gestalt uns eutgegcndrängt." Ein ähnlicher Ge¬ danke schon 1781. an Frau von Stein (15. November): „Das abgefallene Laub gewährt nur nichts Gutes, — als daß ich deine Wohnung sehen kann," und ganz spät, in den „Chinesisch-deutschen Jahres- und Tageszeiten," aus dem Jahre ^-327, vom Sommer: Auch mir hat er tels leichte Land An jenein Baum verdichtet, Durch das ich sonst zu schönstem iüaub Den Liebesblick gerichtet. Aber es giebt Länder, wo die Bäume im Herbst ihr Laub uicht abwerfen; es sind die hesperischen Gegenden der immergrünen Flora, in denen der Winter nicht kahl ist. Auch diesen Süden jenseits des Alpengebirges hat der Dichter >n der Jugend geahnt, dann dichterisch erraten, dann in der Gegenwart mit allen Sinnen in sich aufgenommen. Dort leuchtet ein andrer Himmel: Ein weißer Glanz ruht über Land und Meer, Und duftend schwebt der Äther ohne Wolken. Der Luftton färbt die Uferfelsen blau, und so sieht sie der Schiffer aus der Ferne: Sieht die Berge schon blau, die scheidenden — (Alexis und Dom), Des väterlichen Hafens blaue Berge — (Iphigenie), der Tag ist dort farbiger, die Nacht durchsichtiger: Nun nmlenchtet der Glanz des heiteren ÄthetS die Seine, Phöbus rufet, der Gott, Formen und Farben hervor. Sternhell glänzet die Nacht, sie klingt von weichen Gefangen lind mir leuchtet der Mond Heller als nordischer Tag. Eine südliche Ruiucnszenc in Abendstimmung malt uns der „Wandrer," die Garde» in Italien die erste Strophe von Mignons berühmtem Liede und das schöne Fragment der Nausikaa, die Villa des Reichen im Frühling mit den Bildern der epischen Dichter die erste Szene des Tasso: schwankend wiegen Im Morgenwinde sich die jungen Zweige; Die Blumen von den Beeten schauen uus Mit ihren Kinderaugen freundlich ein; Der Gärtner deckt getrost das Winterhaus Schon der Zitronen und Orangen ab, Der blaue Himmel ruhet über uns Und um dem Horizonte löst der Schnee Der fernen Berge sich in leisen Dust. Zwar wurde in Rom nur der „gebildete" Stein, nicht der natürliche, an¬ gesehen; „die Form hatte allen Anteil an der Materie verdrängt" (an Knebel,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/405>, abgerufen am 01.07.2024.