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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

Bogen. Wilhelm ritt ihm entgegen und sah ihn mit Wehmut an. Ach, sagte
er zu sich selbst, erscheinen uns denn eben die schönsten Farben des Lebens nur
aus dunkelm Grunde? und müssen Tropfen fallen, wenn wir entzückt werden
sollen?" n, s. w. Ein Jugcndgcdicht, das "Maillet" (Wie herrlich leuchtet
mir die Natur) übergehen wir, weil es nur aus den seit Hagedorn geläufigen
Ausrufen besteht und auch von Gleim, Uz oder I. G. Jacobi hätte gedichtet
sein können, ebenso das nicht bedeutende Lied "Frühzeitiger Frühling" (vom
Anfang des neuen Jahrhunderts), und wenden uns zu dem von einer sommer¬
lichen, lichtvollen Phantasie eingegebenen Weltbilde, das sich "Hermann und
Dorothea" nennt. Wie Faust am Osterfest sich mit der ganzen Natur wieder
auferstanden fühlt und "der Frühlingsfeier freies Glück" genießt, wie Werther
mit einer Art Maitrnnkenheit beginnt, dann gegen den Schluß, unmittelbar vor
der schrecklichen That, dnrch die finstere, feuchte Winternacht irrt: "es stiebte
zwischen Regen und Schnee" und naß und verstört und ohne Hut nach Hause
kehrt, wie es Herbst geworden war, als in den Wahlverwandtschaften die beiden
Liebenden, für die auf Erden kein Bleibens mehr war, zur ewigen Ruhe ein¬
gingen und auf Ottiliens Haupt ein Kranz von Astern gesetzt wurde, "die wie
traurige Gestirne ahnungsvoll glänzten," so waltet in dem griechisch gedachte"
Epos der Hochsommer, die Zeit, wo für eine Weile mich im Norden, wie
unter dem Himmel Ioniens, das Leben der Menschen an die freie Natur tritt,
die Hüllen fallen, die Farben sich hervorwagen und unter Bäumen, auf Wege",
in Garten, vor den Thüren der Häuser Gestalten und Gruppen sich bilden.
Wir durchleben in "Hermann und Dorothea" einen Sommertag vom Mittag bis
zum Abend. Glühend brennt die Sonne, der Wind weht sanft von Osten, kein
Wölkchen schwebt am Himmel, das Heu ist schon herein, auch das Korn ist reif,
die Ernte steht für morgen, Montag, bevor. Die Fliegen umstimmen die Gläser
und wer kann, zieht sich ins Innere des Hauses, in das kühlere Gemach, zurück.
Draußen quillt der Staub unter den Hufen der Pferde, und Hermann ersieht
sich, um mit ihnen zu halten, den schattigen Platz unter den Linden. Alles
begehrt nach Wasser, nach einem frischen Trunk, und so kommt Dorothea mit
ihren Krügen zum Brunnen und findet ihren jungen Freund daselbst. Gegen
Abend steigt der klare Vollmond auf, mit ihm ein schweres Gewitter; schon die
Sonne hat beim Untergehen mit getürmten Wolken gekämpft und bald hier,
bald dort hervorbrechend, ein glühendes Streiflicht über die Gegend geworfen:
spater, als es völlig Nacht geworden, blickt der Mond mit schwankenden Lich¬
tern durch das Laub des Weinbergs, durch den die Liebenden schreiten, bis ihn
die schwarzen Wetterwolken gänzlich umhüllen. Und während im Hause das
reinste Glück sich vollendet, hat sich die Nacht immer tiefer gesenkt, der Sturm
saust, der Donner grollt und Regengüsse schlagen gewaltsam herab. Hoffen
wir, daß, wenn die Hausgenossen am nächsten Morgen sich aufs Feld begeben,
das Unwetter nichts verdorben hat und das Geschäft fröhlich vollbracht werde.


Grenzboten I. I8L4. 50
Gedanken über Goethe.

Bogen. Wilhelm ritt ihm entgegen und sah ihn mit Wehmut an. Ach, sagte
er zu sich selbst, erscheinen uns denn eben die schönsten Farben des Lebens nur
aus dunkelm Grunde? und müssen Tropfen fallen, wenn wir entzückt werden
sollen?" n, s. w. Ein Jugcndgcdicht, das „Maillet" (Wie herrlich leuchtet
mir die Natur) übergehen wir, weil es nur aus den seit Hagedorn geläufigen
Ausrufen besteht und auch von Gleim, Uz oder I. G. Jacobi hätte gedichtet
sein können, ebenso das nicht bedeutende Lied „Frühzeitiger Frühling" (vom
Anfang des neuen Jahrhunderts), und wenden uns zu dem von einer sommer¬
lichen, lichtvollen Phantasie eingegebenen Weltbilde, das sich „Hermann und
Dorothea" nennt. Wie Faust am Osterfest sich mit der ganzen Natur wieder
auferstanden fühlt und „der Frühlingsfeier freies Glück" genießt, wie Werther
mit einer Art Maitrnnkenheit beginnt, dann gegen den Schluß, unmittelbar vor
der schrecklichen That, dnrch die finstere, feuchte Winternacht irrt: „es stiebte
zwischen Regen und Schnee" und naß und verstört und ohne Hut nach Hause
kehrt, wie es Herbst geworden war, als in den Wahlverwandtschaften die beiden
Liebenden, für die auf Erden kein Bleibens mehr war, zur ewigen Ruhe ein¬
gingen und auf Ottiliens Haupt ein Kranz von Astern gesetzt wurde, „die wie
traurige Gestirne ahnungsvoll glänzten," so waltet in dem griechisch gedachte»
Epos der Hochsommer, die Zeit, wo für eine Weile mich im Norden, wie
unter dem Himmel Ioniens, das Leben der Menschen an die freie Natur tritt,
die Hüllen fallen, die Farben sich hervorwagen und unter Bäumen, auf Wege»,
in Garten, vor den Thüren der Häuser Gestalten und Gruppen sich bilden.
Wir durchleben in „Hermann und Dorothea" einen Sommertag vom Mittag bis
zum Abend. Glühend brennt die Sonne, der Wind weht sanft von Osten, kein
Wölkchen schwebt am Himmel, das Heu ist schon herein, auch das Korn ist reif,
die Ernte steht für morgen, Montag, bevor. Die Fliegen umstimmen die Gläser
und wer kann, zieht sich ins Innere des Hauses, in das kühlere Gemach, zurück.
Draußen quillt der Staub unter den Hufen der Pferde, und Hermann ersieht
sich, um mit ihnen zu halten, den schattigen Platz unter den Linden. Alles
begehrt nach Wasser, nach einem frischen Trunk, und so kommt Dorothea mit
ihren Krügen zum Brunnen und findet ihren jungen Freund daselbst. Gegen
Abend steigt der klare Vollmond auf, mit ihm ein schweres Gewitter; schon die
Sonne hat beim Untergehen mit getürmten Wolken gekämpft und bald hier,
bald dort hervorbrechend, ein glühendes Streiflicht über die Gegend geworfen:
spater, als es völlig Nacht geworden, blickt der Mond mit schwankenden Lich¬
tern durch das Laub des Weinbergs, durch den die Liebenden schreiten, bis ihn
die schwarzen Wetterwolken gänzlich umhüllen. Und während im Hause das
reinste Glück sich vollendet, hat sich die Nacht immer tiefer gesenkt, der Sturm
saust, der Donner grollt und Regengüsse schlagen gewaltsam herab. Hoffen
wir, daß, wenn die Hausgenossen am nächsten Morgen sich aufs Feld begeben,
das Unwetter nichts verdorben hat und das Geschäft fröhlich vollbracht werde.


Grenzboten I. I8L4. 50
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/403>, abgerufen am 03.07.2024.