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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Natur und Kultur.

und die spezifische" nationalen Unterschiede abzulegen; aber daß auch sie, wem
schon prüvalirend, so doch nicht unbestritten herrscht, zeigt der wohlgcfiigte Be¬
stand der komplizirten und uralten chinesischen Zivilisation. So weist schon
diese flüchtige Erwägung mit Entschiedenheit ans die territorialen Grenzen hin,
welche eine volkstümliche Bildung umschließen, und da diese ihrerseits das Pro¬
dukt der einzelnen Stämme ist, so würde es sich für ihre Herleitung aus der
Natur um die Eigenart dieses letzten erreichbaren Faktoren der Eutwickluugs-
Mschichte handeln.

Was lehrt uns nun die vorurteilsfreie Wissenschaft über den gesamten
Typus dieser sogenannten Naturvölker? Auch hier ist es gleichgiltig, ob, wie
Humboldt sich ausdrückt, die Volksstämme, die wir gegenwärtig Wilde nennen,
alle im Zustande ursprünglich natürlicher Rohheit sind, oder ob nicht viele unter
unter ihnen, wie der Bau ihrer Sprachen es oft vermuten läßt, verwilderte
Stämme, gleichsam zerstreute Trümmer aus den Schiffbrüchen einer früh unter¬
gegangenen Kultur sind (n. a. O, S. l47). Bekanntlich ist der zweite Fall von
dem Dogmatismus der bibclglüubigen Forschung, unter Anlehnung an anderweitige
kosmvlogische Traditionen, als prinzipieller Ausgangspunkt'statuirt worden.
Die Ethnologie hat ihrerseits auf induktiven Wege festgestellt, daß trotz des
klaffenden Unterschiedes zwischen unsern Anschauungen und denen der Urzeit sich
nicht nur relevante, freilich häufig überwucherte Beziehungen zwischen beiden
nachweisen lassen, sondern daß ein Urmensch, dem völlig jegliche Gesittung ab¬
ginge,, der gleichsam als es-but^ ra^ anzusehen sei, thatsächlich nicht existirt hat
noch auch jetzt irgendwo vorkommt. Zunächst figurirt sür die wissenschaftliche
Forschung der Mensch nicht (wie ihn verzückt die poetische Schwärmerei des
v"ngen Jahrhunderts ausmalte) als isolirtes Individuum, sondern immer nur
als soziales Wesen, sei es in einer auch noch so dürftigen Organisntionsform.
Andrerseits vertragen sich alle jene Meinungen nicht mit der Wirklichkeit, welche
diesen Anfänger" der Menschheit (8it venin vsrbo!) jegliche psychische An¬
lage absprechen, sie ohne religiöse Kenntnis, ohne die Kunst der Feuerbereitung
ein allerdings recht dürftiges Leben führen lassen. Diese Anschauung kann heute
für überwunden gelten- gerade so wenig wie ein sprachloses Volk giebt es ein
religionsloses; nur muß mau nicht in völlig ungerechter Weise die primitiven
Regungen dieses Gefühles (die sich vielleicht für uns sehr abschreckend mani-
festiren) mit den geläuterten Begriffen unsrer Bildung zusammenstellen. Das,
was wir als krassen Aberglauben verlachen, als blöden Fetischismus bemitleiden,
erscheint dem Wilden als Fundament unerschütterlichen und (subjektiv gemessen)
reinen Glaubens. Deshalb bemerkt Hcllmald richtig: "Wo ist überhaupt die
Grenze zu ziehen zwischen Glauben nud Aberglauben? Wurzeln doch beide in
dem nämlichen Boden, beide haben ja als gemeinsames Grundmerkmal die Be¬
ziehung auf ein Übersinnliches." (Natnrgesch. d. Menschen I, SS.) Dasselbe gilt
vom Besitz des Feuers, wie ausführlich von Kühn und Tylor erwiesen. Mithin


Grenzboten I. 1884. 48
Natur und Kultur.

und die spezifische» nationalen Unterschiede abzulegen; aber daß auch sie, wem
schon prüvalirend, so doch nicht unbestritten herrscht, zeigt der wohlgcfiigte Be¬
stand der komplizirten und uralten chinesischen Zivilisation. So weist schon
diese flüchtige Erwägung mit Entschiedenheit ans die territorialen Grenzen hin,
welche eine volkstümliche Bildung umschließen, und da diese ihrerseits das Pro¬
dukt der einzelnen Stämme ist, so würde es sich für ihre Herleitung aus der
Natur um die Eigenart dieses letzten erreichbaren Faktoren der Eutwickluugs-
Mschichte handeln.

Was lehrt uns nun die vorurteilsfreie Wissenschaft über den gesamten
Typus dieser sogenannten Naturvölker? Auch hier ist es gleichgiltig, ob, wie
Humboldt sich ausdrückt, die Volksstämme, die wir gegenwärtig Wilde nennen,
alle im Zustande ursprünglich natürlicher Rohheit sind, oder ob nicht viele unter
unter ihnen, wie der Bau ihrer Sprachen es oft vermuten läßt, verwilderte
Stämme, gleichsam zerstreute Trümmer aus den Schiffbrüchen einer früh unter¬
gegangenen Kultur sind (n. a. O, S. l47). Bekanntlich ist der zweite Fall von
dem Dogmatismus der bibclglüubigen Forschung, unter Anlehnung an anderweitige
kosmvlogische Traditionen, als prinzipieller Ausgangspunkt'statuirt worden.
Die Ethnologie hat ihrerseits auf induktiven Wege festgestellt, daß trotz des
klaffenden Unterschiedes zwischen unsern Anschauungen und denen der Urzeit sich
nicht nur relevante, freilich häufig überwucherte Beziehungen zwischen beiden
nachweisen lassen, sondern daß ein Urmensch, dem völlig jegliche Gesittung ab¬
ginge,, der gleichsam als es-but^ ra^ anzusehen sei, thatsächlich nicht existirt hat
noch auch jetzt irgendwo vorkommt. Zunächst figurirt sür die wissenschaftliche
Forschung der Mensch nicht (wie ihn verzückt die poetische Schwärmerei des
v»ngen Jahrhunderts ausmalte) als isolirtes Individuum, sondern immer nur
als soziales Wesen, sei es in einer auch noch so dürftigen Organisntionsform.
Andrerseits vertragen sich alle jene Meinungen nicht mit der Wirklichkeit, welche
diesen Anfänger» der Menschheit (8it venin vsrbo!) jegliche psychische An¬
lage absprechen, sie ohne religiöse Kenntnis, ohne die Kunst der Feuerbereitung
ein allerdings recht dürftiges Leben führen lassen. Diese Anschauung kann heute
für überwunden gelten- gerade so wenig wie ein sprachloses Volk giebt es ein
religionsloses; nur muß mau nicht in völlig ungerechter Weise die primitiven
Regungen dieses Gefühles (die sich vielleicht für uns sehr abschreckend mani-
festiren) mit den geläuterten Begriffen unsrer Bildung zusammenstellen. Das,
was wir als krassen Aberglauben verlachen, als blöden Fetischismus bemitleiden,
erscheint dem Wilden als Fundament unerschütterlichen und (subjektiv gemessen)
reinen Glaubens. Deshalb bemerkt Hcllmald richtig: „Wo ist überhaupt die
Grenze zu ziehen zwischen Glauben nud Aberglauben? Wurzeln doch beide in
dem nämlichen Boden, beide haben ja als gemeinsames Grundmerkmal die Be¬
ziehung auf ein Übersinnliches." (Natnrgesch. d. Menschen I, SS.) Dasselbe gilt
vom Besitz des Feuers, wie ausführlich von Kühn und Tylor erwiesen. Mithin


Grenzboten I. 1884. 48
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[0387] Natur und Kultur. und die spezifische» nationalen Unterschiede abzulegen; aber daß auch sie, wem schon prüvalirend, so doch nicht unbestritten herrscht, zeigt der wohlgcfiigte Be¬ stand der komplizirten und uralten chinesischen Zivilisation. So weist schon diese flüchtige Erwägung mit Entschiedenheit ans die territorialen Grenzen hin, welche eine volkstümliche Bildung umschließen, und da diese ihrerseits das Pro¬ dukt der einzelnen Stämme ist, so würde es sich für ihre Herleitung aus der Natur um die Eigenart dieses letzten erreichbaren Faktoren der Eutwickluugs- Mschichte handeln. Was lehrt uns nun die vorurteilsfreie Wissenschaft über den gesamten Typus dieser sogenannten Naturvölker? Auch hier ist es gleichgiltig, ob, wie Humboldt sich ausdrückt, die Volksstämme, die wir gegenwärtig Wilde nennen, alle im Zustande ursprünglich natürlicher Rohheit sind, oder ob nicht viele unter unter ihnen, wie der Bau ihrer Sprachen es oft vermuten läßt, verwilderte Stämme, gleichsam zerstreute Trümmer aus den Schiffbrüchen einer früh unter¬ gegangenen Kultur sind (n. a. O, S. l47). Bekanntlich ist der zweite Fall von dem Dogmatismus der bibclglüubigen Forschung, unter Anlehnung an anderweitige kosmvlogische Traditionen, als prinzipieller Ausgangspunkt'statuirt worden. Die Ethnologie hat ihrerseits auf induktiven Wege festgestellt, daß trotz des klaffenden Unterschiedes zwischen unsern Anschauungen und denen der Urzeit sich nicht nur relevante, freilich häufig überwucherte Beziehungen zwischen beiden nachweisen lassen, sondern daß ein Urmensch, dem völlig jegliche Gesittung ab¬ ginge,, der gleichsam als es-but^ ra^ anzusehen sei, thatsächlich nicht existirt hat noch auch jetzt irgendwo vorkommt. Zunächst figurirt sür die wissenschaftliche Forschung der Mensch nicht (wie ihn verzückt die poetische Schwärmerei des v»ngen Jahrhunderts ausmalte) als isolirtes Individuum, sondern immer nur als soziales Wesen, sei es in einer auch noch so dürftigen Organisntionsform. Andrerseits vertragen sich alle jene Meinungen nicht mit der Wirklichkeit, welche diesen Anfänger» der Menschheit (8it venin vsrbo!) jegliche psychische An¬ lage absprechen, sie ohne religiöse Kenntnis, ohne die Kunst der Feuerbereitung ein allerdings recht dürftiges Leben führen lassen. Diese Anschauung kann heute für überwunden gelten- gerade so wenig wie ein sprachloses Volk giebt es ein religionsloses; nur muß mau nicht in völlig ungerechter Weise die primitiven Regungen dieses Gefühles (die sich vielleicht für uns sehr abschreckend mani- festiren) mit den geläuterten Begriffen unsrer Bildung zusammenstellen. Das, was wir als krassen Aberglauben verlachen, als blöden Fetischismus bemitleiden, erscheint dem Wilden als Fundament unerschütterlichen und (subjektiv gemessen) reinen Glaubens. Deshalb bemerkt Hcllmald richtig: „Wo ist überhaupt die Grenze zu ziehen zwischen Glauben nud Aberglauben? Wurzeln doch beide in dem nämlichen Boden, beide haben ja als gemeinsames Grundmerkmal die Be¬ ziehung auf ein Übersinnliches." (Natnrgesch. d. Menschen I, SS.) Dasselbe gilt vom Besitz des Feuers, wie ausführlich von Kühn und Tylor erwiesen. Mithin Grenzboten I. 1884. 48

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/387>, abgerufen am 02.07.2024.