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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Natur und Kultur.

schmeichelten. Es bedürfte kaum der genaueren geographischen und ethnogra¬
phischen Entdeckungen unsers Jahrhunderts, um dies anmutige Bild einer
phantastischen Sentimentalität in sich selbst zerfließen zu lasse"; schon die viel¬
fachen UnUvälznngen und Kämpfe, welche dem Besitz der eigenen Zivilisation
galten, zerstörten jene philanthropischen Träumereien gründlich. Der früheren
pessimistischen Stimmung folgte eine ebenso einseitig optimistische, die von der
Höhe ihrer weltgeschichtlichen Stellung aus die seltsam verschlungenen Verhält¬
nisse der Naturvölker kaum eines Blickes würdigte und sie höchstens zu den
unschuldigen Anregungen einer gestaltuugsbedürftigen Einbildungskraft verwandt
wissen wollte. Auch noch jetzt, nachdem Männer wie Lubbock und Thlor oder
Peschel, Bastian, Fr. Müller und andre unzählige mehr jenes bunte Raritäten-
kabinet zu einem systematisch geordneten Museum umgeschaffen haben, schwanken
die Meinungen haltlos zwischen den Extremen hin und her; daher dürfte eine
kritische Übersicht und Würdigung der wesentlichsten Momente dieses Problems
wohl am Platze sein.

Wenn wir im gewöhnlichen Lauf der Dinge unbefangen von Kultur sprechen,
so haben wir durchschnittlich, dank der einseitig klassisch-historischen Erziehung,
das reiche Leben der Völker vor Augen, die am Mittelmeere heimisch, allmählich
andre Stämme in ihre Ideenkreise hineinzogen; wenig kümmert es uns, w"
diese griechisch-römische Gesittung ihren Ursprung gefunden und in welchem Zu¬
sammenhange sie mit andern Mittelpunkten der Bildung stand. Und glaubt die
moderne Forschung vielfältige Beziehungen zu ägyptischen Mustern nachgewiesen
zu haben, und hat auch die vergleichende Sprachwissenschaft einen leidlich soli¬
darischen Konnex in der indogermanischen Welt hergestellt, so lassen wir uns
mir ungern an die Existenz andrer Kulturzentren erinnern. Die Lehre von der
Einheit des Menschengeschlechtes im physischen und selbst im psychischen Sinne
läßt sich nur schwer, oder besser gesagt garnicht, mit dem historischen Entwick¬
lungsgange in Einklang setzen, dem die einzelnen Glieder jener Urfcunilie etwa
gefolgt sind. Die Worte Alexanders von Humboldt gelten noch heute: "Die
Geschichte, soweit sie durch menschliche Zeugnisse begründet ist, kennt kein Ur-
volk, keinen einigen ersten Sitz der Kultur, keine Urphysik oder Naturweisheit,
deren Glanz durch die sündige Barbarei späterer Jahrhunderte verdunkelt worden
wäre. Der Geschichtsforscher durchbricht die vielen übereinander gelagerten
Nebelschichten symbolisirender Mythen, um auf den festen Boden zu gelange",
wo sich die ersten Keime menschlicher Gesittung nach natürlichen Gesetzen ent¬
wickelt haben. Im grauen Altertume, gleichsam am äußersten Horizont de?
wahrhaft historischen Wissens, erblicken wir schon gleichzeitig mehrere leuchtende
Punkte, Zentren der Kultur, die gegeneinander erstrahlen: so Ägypten, ans das
wenigste fünftausend Jahre vor unsrer Zeitrechnung; Babylon, Ninive, Kaschmir,
Iran und China." (Kosmos II, 146.) Erst unsre moderne europäische Kultur
beginnt immer mehr und mehr einen internationalen Charakter anzunehmen


Natur und Kultur.

schmeichelten. Es bedürfte kaum der genaueren geographischen und ethnogra¬
phischen Entdeckungen unsers Jahrhunderts, um dies anmutige Bild einer
phantastischen Sentimentalität in sich selbst zerfließen zu lasse»; schon die viel¬
fachen UnUvälznngen und Kämpfe, welche dem Besitz der eigenen Zivilisation
galten, zerstörten jene philanthropischen Träumereien gründlich. Der früheren
pessimistischen Stimmung folgte eine ebenso einseitig optimistische, die von der
Höhe ihrer weltgeschichtlichen Stellung aus die seltsam verschlungenen Verhält¬
nisse der Naturvölker kaum eines Blickes würdigte und sie höchstens zu den
unschuldigen Anregungen einer gestaltuugsbedürftigen Einbildungskraft verwandt
wissen wollte. Auch noch jetzt, nachdem Männer wie Lubbock und Thlor oder
Peschel, Bastian, Fr. Müller und andre unzählige mehr jenes bunte Raritäten-
kabinet zu einem systematisch geordneten Museum umgeschaffen haben, schwanken
die Meinungen haltlos zwischen den Extremen hin und her; daher dürfte eine
kritische Übersicht und Würdigung der wesentlichsten Momente dieses Problems
wohl am Platze sein.

Wenn wir im gewöhnlichen Lauf der Dinge unbefangen von Kultur sprechen,
so haben wir durchschnittlich, dank der einseitig klassisch-historischen Erziehung,
das reiche Leben der Völker vor Augen, die am Mittelmeere heimisch, allmählich
andre Stämme in ihre Ideenkreise hineinzogen; wenig kümmert es uns, w»
diese griechisch-römische Gesittung ihren Ursprung gefunden und in welchem Zu¬
sammenhange sie mit andern Mittelpunkten der Bildung stand. Und glaubt die
moderne Forschung vielfältige Beziehungen zu ägyptischen Mustern nachgewiesen
zu haben, und hat auch die vergleichende Sprachwissenschaft einen leidlich soli¬
darischen Konnex in der indogermanischen Welt hergestellt, so lassen wir uns
mir ungern an die Existenz andrer Kulturzentren erinnern. Die Lehre von der
Einheit des Menschengeschlechtes im physischen und selbst im psychischen Sinne
läßt sich nur schwer, oder besser gesagt garnicht, mit dem historischen Entwick¬
lungsgange in Einklang setzen, dem die einzelnen Glieder jener Urfcunilie etwa
gefolgt sind. Die Worte Alexanders von Humboldt gelten noch heute: „Die
Geschichte, soweit sie durch menschliche Zeugnisse begründet ist, kennt kein Ur-
volk, keinen einigen ersten Sitz der Kultur, keine Urphysik oder Naturweisheit,
deren Glanz durch die sündige Barbarei späterer Jahrhunderte verdunkelt worden
wäre. Der Geschichtsforscher durchbricht die vielen übereinander gelagerten
Nebelschichten symbolisirender Mythen, um auf den festen Boden zu gelange»,
wo sich die ersten Keime menschlicher Gesittung nach natürlichen Gesetzen ent¬
wickelt haben. Im grauen Altertume, gleichsam am äußersten Horizont de?
wahrhaft historischen Wissens, erblicken wir schon gleichzeitig mehrere leuchtende
Punkte, Zentren der Kultur, die gegeneinander erstrahlen: so Ägypten, ans das
wenigste fünftausend Jahre vor unsrer Zeitrechnung; Babylon, Ninive, Kaschmir,
Iran und China." (Kosmos II, 146.) Erst unsre moderne europäische Kultur
beginnt immer mehr und mehr einen internationalen Charakter anzunehmen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/386>, abgerufen am 30.06.2024.