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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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I. P. k^edel in seinen Briefen.

notwendig ist und ohne was man nicht weiter lesen kann, und hat seine fleißigen
biographischen, historischen, geographischen u, s, w, Erläuterungen zu den Briefen
in einen Anhang verwiesen. Dieser ist von mäßigem Umfange und verschont
den Leser mit den üblich gewordenen Auseinandersetzungen über alles und noch
einiges. Kurz, wenn man sich überhaupt mit der modischen Materialpublikation
einverstanden erklärt und es für notwendig und ersprießlich erachtet, daß ohne
Gnade und Barmherzigkeit alles gedruckt werde, was die Schriftsteller früherer
Tage hinterlassen haben, so kann man an der hier gegebenen Briefsammlung
und an den Aussichten, die sich für die Zukunft eröffnen, seine Freude haben.

Wir gestehen aber offen, daß unsre Frende dieser wie beinahe allen ähn¬
lichen Veröffentlichungen gegenüber eine sehr geteilte ist. Die Literaturgeschichte
droht sich mehr und mehr in eine bloße Materialanhciufnng zu verwandeln,
und die Zahl der noch zu edirenden Korrespondenzen läßt sich garnicht ab¬
schätzen, wenn kein andrer Maßstab an bisher ungedruckte Briefe gelegt wird
als der, daß der Name der Briefsteller der Litcmtnrgeschichtc angehört. Nie¬
mand wird einem Schriftsteller wie Hebel das Prädikat des Klassikers streitig
machen, und war etwa die allemanischcn Gedichte und das Schatzkästlein nur
vom Hörensagen kennt, der hat alle Ursache, sich einen bisher entbehrten hohen
Genuß alsbald zu verschaffen. Nun vergegenwärtige man sich aber, wie viele
Schriftsteller vom Rang und Wert des prächtigen Hebel unsre große und reiche
Literatur zählt, vergegenwärtige sich, daß die Lust an neuen Funden unfehlbar
gar manchen tief unter Hebel stehenden Autor zu der Bedeutung emporschrauben
wird, welche die Voraussetzung für Ausgrabung, Sammlung und Herausgabe
aller bei seinen Lebzeiten geschriebenen Briefe bilden soll. Je mehr es für
"wissenschaftlich" gilt, ohne Auswahl und jeden andern Gesichtspunkt als den
der Treue und Vollständigkeit mißachtend, alles "Material" zu publiziren,
welches "neu" ist, je mehr man sich in die Vorstellung hineinredet, daß jedes
Blatt, das für den Forscher, den Biographen, den Herausgeber der Werte
eines Schriftstellers von Wichtigkeit ist, eine Wichtigkeit anch für das größere
Publikum oder wenigstens für die Fachgenossen habe, deren Begriff dann im
weitesten Sinne genommen wird, eine umso bedenklichere Perspektive eröffnet
sich. Unsre Bibliotheken füllen sich schon jetzt mit ganzen Reihen von Werken,
die ungefähr die Bedeutung und Wirkung wohlaufbewahrter Manuskripte
haben; wie soll es in Zukunft werden, wenn sich die Heransgaben in ent¬
sprechender Progression steigern? Es klingt ganz leidlich, wenn uns gesagt
wird, der Einzelne habe hier lediglich zu thun, was seines Amtes sei, und sich
um die Folgen im ganzen nicht zu kümmern. Der Mann der Wissenschaft
ist aber doch kein Handlanger, der Stein ans Stein herzuschleppt, ohne Ver¬
antwortung dafür, wozu die Steine im Ban endlich verwendet werden. Und
die notwendige Schranke hat sich hier die Wissenschaft selbst zu errichte". Es ist
ja richtig, daß der Buchhandel dem zu weit getriebenen Eifer eine Art Dämpfer


I. P. k^edel in seinen Briefen.

notwendig ist und ohne was man nicht weiter lesen kann, und hat seine fleißigen
biographischen, historischen, geographischen u, s, w, Erläuterungen zu den Briefen
in einen Anhang verwiesen. Dieser ist von mäßigem Umfange und verschont
den Leser mit den üblich gewordenen Auseinandersetzungen über alles und noch
einiges. Kurz, wenn man sich überhaupt mit der modischen Materialpublikation
einverstanden erklärt und es für notwendig und ersprießlich erachtet, daß ohne
Gnade und Barmherzigkeit alles gedruckt werde, was die Schriftsteller früherer
Tage hinterlassen haben, so kann man an der hier gegebenen Briefsammlung
und an den Aussichten, die sich für die Zukunft eröffnen, seine Freude haben.

Wir gestehen aber offen, daß unsre Frende dieser wie beinahe allen ähn¬
lichen Veröffentlichungen gegenüber eine sehr geteilte ist. Die Literaturgeschichte
droht sich mehr und mehr in eine bloße Materialanhciufnng zu verwandeln,
und die Zahl der noch zu edirenden Korrespondenzen läßt sich garnicht ab¬
schätzen, wenn kein andrer Maßstab an bisher ungedruckte Briefe gelegt wird
als der, daß der Name der Briefsteller der Litcmtnrgeschichtc angehört. Nie¬
mand wird einem Schriftsteller wie Hebel das Prädikat des Klassikers streitig
machen, und war etwa die allemanischcn Gedichte und das Schatzkästlein nur
vom Hörensagen kennt, der hat alle Ursache, sich einen bisher entbehrten hohen
Genuß alsbald zu verschaffen. Nun vergegenwärtige man sich aber, wie viele
Schriftsteller vom Rang und Wert des prächtigen Hebel unsre große und reiche
Literatur zählt, vergegenwärtige sich, daß die Lust an neuen Funden unfehlbar
gar manchen tief unter Hebel stehenden Autor zu der Bedeutung emporschrauben
wird, welche die Voraussetzung für Ausgrabung, Sammlung und Herausgabe
aller bei seinen Lebzeiten geschriebenen Briefe bilden soll. Je mehr es für
„wissenschaftlich" gilt, ohne Auswahl und jeden andern Gesichtspunkt als den
der Treue und Vollständigkeit mißachtend, alles „Material" zu publiziren,
welches „neu" ist, je mehr man sich in die Vorstellung hineinredet, daß jedes
Blatt, das für den Forscher, den Biographen, den Herausgeber der Werte
eines Schriftstellers von Wichtigkeit ist, eine Wichtigkeit anch für das größere
Publikum oder wenigstens für die Fachgenossen habe, deren Begriff dann im
weitesten Sinne genommen wird, eine umso bedenklichere Perspektive eröffnet
sich. Unsre Bibliotheken füllen sich schon jetzt mit ganzen Reihen von Werken,
die ungefähr die Bedeutung und Wirkung wohlaufbewahrter Manuskripte
haben; wie soll es in Zukunft werden, wenn sich die Heransgaben in ent¬
sprechender Progression steigern? Es klingt ganz leidlich, wenn uns gesagt
wird, der Einzelne habe hier lediglich zu thun, was seines Amtes sei, und sich
um die Folgen im ganzen nicht zu kümmern. Der Mann der Wissenschaft
ist aber doch kein Handlanger, der Stein ans Stein herzuschleppt, ohne Ver¬
antwortung dafür, wozu die Steine im Ban endlich verwendet werden. Und
die notwendige Schranke hat sich hier die Wissenschaft selbst zu errichte». Es ist
ja richtig, daß der Buchhandel dem zu weit getriebenen Eifer eine Art Dämpfer


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[0357] I. P. k^edel in seinen Briefen. notwendig ist und ohne was man nicht weiter lesen kann, und hat seine fleißigen biographischen, historischen, geographischen u, s, w, Erläuterungen zu den Briefen in einen Anhang verwiesen. Dieser ist von mäßigem Umfange und verschont den Leser mit den üblich gewordenen Auseinandersetzungen über alles und noch einiges. Kurz, wenn man sich überhaupt mit der modischen Materialpublikation einverstanden erklärt und es für notwendig und ersprießlich erachtet, daß ohne Gnade und Barmherzigkeit alles gedruckt werde, was die Schriftsteller früherer Tage hinterlassen haben, so kann man an der hier gegebenen Briefsammlung und an den Aussichten, die sich für die Zukunft eröffnen, seine Freude haben. Wir gestehen aber offen, daß unsre Frende dieser wie beinahe allen ähn¬ lichen Veröffentlichungen gegenüber eine sehr geteilte ist. Die Literaturgeschichte droht sich mehr und mehr in eine bloße Materialanhciufnng zu verwandeln, und die Zahl der noch zu edirenden Korrespondenzen läßt sich garnicht ab¬ schätzen, wenn kein andrer Maßstab an bisher ungedruckte Briefe gelegt wird als der, daß der Name der Briefsteller der Litcmtnrgeschichtc angehört. Nie¬ mand wird einem Schriftsteller wie Hebel das Prädikat des Klassikers streitig machen, und war etwa die allemanischcn Gedichte und das Schatzkästlein nur vom Hörensagen kennt, der hat alle Ursache, sich einen bisher entbehrten hohen Genuß alsbald zu verschaffen. Nun vergegenwärtige man sich aber, wie viele Schriftsteller vom Rang und Wert des prächtigen Hebel unsre große und reiche Literatur zählt, vergegenwärtige sich, daß die Lust an neuen Funden unfehlbar gar manchen tief unter Hebel stehenden Autor zu der Bedeutung emporschrauben wird, welche die Voraussetzung für Ausgrabung, Sammlung und Herausgabe aller bei seinen Lebzeiten geschriebenen Briefe bilden soll. Je mehr es für „wissenschaftlich" gilt, ohne Auswahl und jeden andern Gesichtspunkt als den der Treue und Vollständigkeit mißachtend, alles „Material" zu publiziren, welches „neu" ist, je mehr man sich in die Vorstellung hineinredet, daß jedes Blatt, das für den Forscher, den Biographen, den Herausgeber der Werte eines Schriftstellers von Wichtigkeit ist, eine Wichtigkeit anch für das größere Publikum oder wenigstens für die Fachgenossen habe, deren Begriff dann im weitesten Sinne genommen wird, eine umso bedenklichere Perspektive eröffnet sich. Unsre Bibliotheken füllen sich schon jetzt mit ganzen Reihen von Werken, die ungefähr die Bedeutung und Wirkung wohlaufbewahrter Manuskripte haben; wie soll es in Zukunft werden, wenn sich die Heransgaben in ent¬ sprechender Progression steigern? Es klingt ganz leidlich, wenn uns gesagt wird, der Einzelne habe hier lediglich zu thun, was seines Amtes sei, und sich um die Folgen im ganzen nicht zu kümmern. Der Mann der Wissenschaft ist aber doch kein Handlanger, der Stein ans Stein herzuschleppt, ohne Ver¬ antwortung dafür, wozu die Steine im Ban endlich verwendet werden. Und die notwendige Schranke hat sich hier die Wissenschaft selbst zu errichte». Es ist ja richtig, daß der Buchhandel dem zu weit getriebenen Eifer eine Art Dämpfer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/357>, abgerufen am 01.07.2024.