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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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L. Geibels und F. A. v. Schacks sämtliche Werke.

poetische Stimmung im anschaulichen Bilde verkörpert. Die Gedichte "Böse
Träume" (1850). "Den Bauleuten, bei Eröffnung des ersten norddeutschen
Parlaments" (1866), "Am 3. September" (1870) belegen dies am besten,
andre erheben sich wenigstens in einzelnen Versen zu gleich mächtiger und nach¬
haltiger Wirkung. Wer aber so wie Geibel den Umschwung der Dinge sehnend
begleitet hat, dem mag es schwer fallen, die Kehrseite erfüllter Hoffnungen zu
erblicken.

Der fünfte Band der "Gesammelten Werke" bringt eine Dichtung "Judas
Ischarioth," die zu den bei Gelegenheit der "Neuen Gedichte" charakterisirten
ergreifenden Monologen und Phantasiestücken gehört, die "Dichtungen in antiker
Form" und das "Klassische Liederbuch," Übertragungen aus dem Griechischen
und Lateinischen, in denen Geibels Altersmuse der deutschen Literatur manche
schöne Ode glücklich gewonnen hat. Unter den eignen Dichtungen in antiken
Maßen sind die "Distichen vom Strande der See" vielleicht die anmutendsten,
die Oden charakterisirt Geibel selbst als Versuche, die Rhythmen Klopstocks,
Hölderlins und Platens aus unsrer Poesie nicht verschwinden zu lassen.

Der sechste und siebente Band umfassen Geibels dramatische Dichtungen
unter die der Dichter sein ältestes Trauerspiel "König Roderich" nicht aufge¬
nommen hat. Wir erhalten nur die Tragödien "Brunhild" und "Sophonisbe,"
das Lustspiel "Meister Andrea," das dramatisirte Sprichwort "Echtes Gold
wird klar im Feuer" und die für Felix Mendelssohn gedichtete, von diesem
leider nur zum kleinsten Teil komponirte Operndichtung "Loreleh," endlich "Die
Jagd von Beziers," das Bruchstück einer beabsichtigt gewesnen, aber unvollendet
gelassenen Albigensertragödie. Geibels dramatische Dichtung steht zweifellos
nicht auf der Höhe seiner lyrischen und lyrisch-epischen Dichtung. Während das
Fehlen der bisher charakterisirten Schöpfungen eine wahrhafte Lücke in unsrer
Literatur bezeichnen würde, haben die Tragödien "Brunhild" und "Sophonisbe"
weder in den Entwicklungsgang des neuern deutschen Dramas eingegriffen, noch
offenbaren sie eine Eigentümlichkeit oder einen Teil des innern Lebens des
Dichters in entscheidender Weise. Natürlich läßt sich diesen ernsten Anläufen
nicht die armselige Weisheit jener "theatralisch-praktischen" Bühnenkundigen
gegenüberstellen, für die es ausgemacht ist, daß eine dramatische Dichtung ver¬
fehlt sei, sobald sie überhaupt einer poetischen Phantasie entstammt und eine
formvolle künstlerische Haltung behauptet. Der Grundmängel der Geibelschen
Tragödien liegt nach unsrer Empfindung darin, daß der Dichter dem modernen
Drama eine falsche Aufgabe stellte. Ob ihm überhaupt die Fähigkeit gebrach,
in die Tiefen des Lebens hinabzusteigen, aus denen die großen dramatischen Leiden¬
schaften und Konflikte erwachsen, ob er jene feste Gestaltungskraft besaß, welche
dramatische Charaktere durch den ganzen Verlauf einer Handlung gleichmäßig
und doch wechselreich zu entfalten weiß, kann dabei zunächst unerörtert bleiben.
Geibels Tragödien, namentlich "Brunhild," aber auch "Sophonisbe," legen der


L. Geibels und F. A. v. Schacks sämtliche Werke.

poetische Stimmung im anschaulichen Bilde verkörpert. Die Gedichte „Böse
Träume" (1850). „Den Bauleuten, bei Eröffnung des ersten norddeutschen
Parlaments" (1866), „Am 3. September" (1870) belegen dies am besten,
andre erheben sich wenigstens in einzelnen Versen zu gleich mächtiger und nach¬
haltiger Wirkung. Wer aber so wie Geibel den Umschwung der Dinge sehnend
begleitet hat, dem mag es schwer fallen, die Kehrseite erfüllter Hoffnungen zu
erblicken.

Der fünfte Band der „Gesammelten Werke" bringt eine Dichtung „Judas
Ischarioth," die zu den bei Gelegenheit der „Neuen Gedichte" charakterisirten
ergreifenden Monologen und Phantasiestücken gehört, die „Dichtungen in antiker
Form" und das „Klassische Liederbuch," Übertragungen aus dem Griechischen
und Lateinischen, in denen Geibels Altersmuse der deutschen Literatur manche
schöne Ode glücklich gewonnen hat. Unter den eignen Dichtungen in antiken
Maßen sind die „Distichen vom Strande der See" vielleicht die anmutendsten,
die Oden charakterisirt Geibel selbst als Versuche, die Rhythmen Klopstocks,
Hölderlins und Platens aus unsrer Poesie nicht verschwinden zu lassen.

Der sechste und siebente Band umfassen Geibels dramatische Dichtungen
unter die der Dichter sein ältestes Trauerspiel „König Roderich" nicht aufge¬
nommen hat. Wir erhalten nur die Tragödien „Brunhild" und „Sophonisbe,"
das Lustspiel „Meister Andrea," das dramatisirte Sprichwort „Echtes Gold
wird klar im Feuer" und die für Felix Mendelssohn gedichtete, von diesem
leider nur zum kleinsten Teil komponirte Operndichtung „Loreleh," endlich „Die
Jagd von Beziers," das Bruchstück einer beabsichtigt gewesnen, aber unvollendet
gelassenen Albigensertragödie. Geibels dramatische Dichtung steht zweifellos
nicht auf der Höhe seiner lyrischen und lyrisch-epischen Dichtung. Während das
Fehlen der bisher charakterisirten Schöpfungen eine wahrhafte Lücke in unsrer
Literatur bezeichnen würde, haben die Tragödien „Brunhild" und „Sophonisbe"
weder in den Entwicklungsgang des neuern deutschen Dramas eingegriffen, noch
offenbaren sie eine Eigentümlichkeit oder einen Teil des innern Lebens des
Dichters in entscheidender Weise. Natürlich läßt sich diesen ernsten Anläufen
nicht die armselige Weisheit jener „theatralisch-praktischen" Bühnenkundigen
gegenüberstellen, für die es ausgemacht ist, daß eine dramatische Dichtung ver¬
fehlt sei, sobald sie überhaupt einer poetischen Phantasie entstammt und eine
formvolle künstlerische Haltung behauptet. Der Grundmängel der Geibelschen
Tragödien liegt nach unsrer Empfindung darin, daß der Dichter dem modernen
Drama eine falsche Aufgabe stellte. Ob ihm überhaupt die Fähigkeit gebrach,
in die Tiefen des Lebens hinabzusteigen, aus denen die großen dramatischen Leiden¬
schaften und Konflikte erwachsen, ob er jene feste Gestaltungskraft besaß, welche
dramatische Charaktere durch den ganzen Verlauf einer Handlung gleichmäßig
und doch wechselreich zu entfalten weiß, kann dabei zunächst unerörtert bleiben.
Geibels Tragödien, namentlich „Brunhild," aber auch „Sophonisbe," legen der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/33>, abgerufen am 28.09.2024.