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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Der Umschwung in Spanien.

ganz Spanien hat. Ein solcher Wechsel in der Verwaltung würde in Frank¬
reich das Land einer allgemeinen Reaktion unterwerfen, in dem lateinischen
Schwesterstaate aber verhält es sich wesentlich anders. Hier begegnen wir von
alten Zeiten her einer weitverbreiteten und stark ausgebildeten Selbstregierung
der verschiedenen Landesteile. Die Lokalparlamente -- viputsolonk" ?rovm-
eialss -- haben beinahe so viel Rechte und Vollmachten wie die Landtage in
den Einzelstaaten des deutschen Reiches. Sie besteuern sich selbst, bewahren
lokale Einrichtungen und Gewohnheiten, verwalten ihre Polizei selbst und sind
überhaupt in großem Maße unabhängig von der Zentralverwaltung. Unter
ihnen erfreuen sich endlich die Gemeinden, welche die Lokalparlamente wählen,
einer ausgedehnten munizipalen Gewalt und Berechtigung, die in manchen Be¬
ziehungen sogar weiter geht als die der englischen städtischen Korporationen.
So unterscheidet sich Spanien ganz erheblich von Frankreich, wo alle politische
Gewalt sich in Paris konzentrirt. Spanien gleicht hierin mehr Italien, nur
daß hier der Patriotismus die altherkömmlichen Eigentümlichkeiten zu verwischen
strebt, während dort der Provinzialgeist mit Erfolg bemüht ist. sie zu erhalten.
Die Spanier sind stolz auf ihre Provinzen, auf ihre lokalen Statuten und
Gesetze, Sitten und Bräuche, sogar auf ihre verschiedenen Dialekte, und das ist
>" manchen Beziehungen von Vorteil, aber es hat auch seine Nachteile,
vor allen den, daß es das Entstehen einer nationalen Politik hindert. Es ist
für Fernstehende oft erstaunlich, zu sehen, wie ein stolzes und edles Volk sich
ohne Widerstand dem zufälligen Emporkommen eines Günstlings des Hofes
oder eines Diktators aus der Kaserne unterwirft. Die Sache erklärt sich aber
ziemlich leicht, wenn man weiß, daß die Vorgänge in Madrid die Freiheiten
und den Wohlstand der Provinzen nicht sehr beeinflussen. Die letzteren setzen
dabei gelassen ihren Weg fort und widmen dem König und den Cortes nur
vorübergehend Beachtung. Dieses kräftige lokale Leben und diese Schwäche
des Zentrums erklärt es zum Teile, wenn Spanien während der letzten hundert
Jahre die bedeutsame Stelle, die es in der europäischen Politik früher einnahm,
""gebüßt hat. Nachdem es sein amerikanisches Kolonialreich bis auf Cuba
verloren, besaßen seine Herrscher nicht mehr die zur Führung großer Kriege
erforderlichen Mittel, und die Lotalparlamcnte verhinderten mit ihren Befug¬
nissen eine Erhöhung der Steuer", welche diesen Ausfall in den Finanzen ersetzt
hatte. In der That, Madrid ist in wichtigen Beziehungen nicht so sehr die
Hauptstadt eines Staates als die Zentralstadt einer Anzahl von Provinzen,
die so eng miteinander verbunden sind, daß der Fremde nicht bemerkt, wie
wesentlich sie sich von einander unterscheiden. Die Geschichte aber zeigt uns,
daß Föderalstaaten stärker in der Verteidigung als im Angriffe sind, und daß
sie deshalb keinen aggressiven Charakter tragen. Die Vereinigten Staaten und
die schweizerische Eidgenossenschaft haben praktisch genommen so gut wie gar
keine auswärtige Politik, Österreich-Ungarn, eine Föderation unter einem Kaiser,


Grenzboten I. 1384.
Der Umschwung in Spanien.

ganz Spanien hat. Ein solcher Wechsel in der Verwaltung würde in Frank¬
reich das Land einer allgemeinen Reaktion unterwerfen, in dem lateinischen
Schwesterstaate aber verhält es sich wesentlich anders. Hier begegnen wir von
alten Zeiten her einer weitverbreiteten und stark ausgebildeten Selbstregierung
der verschiedenen Landesteile. Die Lokalparlamente — viputsolonk« ?rovm-
eialss — haben beinahe so viel Rechte und Vollmachten wie die Landtage in
den Einzelstaaten des deutschen Reiches. Sie besteuern sich selbst, bewahren
lokale Einrichtungen und Gewohnheiten, verwalten ihre Polizei selbst und sind
überhaupt in großem Maße unabhängig von der Zentralverwaltung. Unter
ihnen erfreuen sich endlich die Gemeinden, welche die Lokalparlamente wählen,
einer ausgedehnten munizipalen Gewalt und Berechtigung, die in manchen Be¬
ziehungen sogar weiter geht als die der englischen städtischen Korporationen.
So unterscheidet sich Spanien ganz erheblich von Frankreich, wo alle politische
Gewalt sich in Paris konzentrirt. Spanien gleicht hierin mehr Italien, nur
daß hier der Patriotismus die altherkömmlichen Eigentümlichkeiten zu verwischen
strebt, während dort der Provinzialgeist mit Erfolg bemüht ist. sie zu erhalten.
Die Spanier sind stolz auf ihre Provinzen, auf ihre lokalen Statuten und
Gesetze, Sitten und Bräuche, sogar auf ihre verschiedenen Dialekte, und das ist
>" manchen Beziehungen von Vorteil, aber es hat auch seine Nachteile,
vor allen den, daß es das Entstehen einer nationalen Politik hindert. Es ist
für Fernstehende oft erstaunlich, zu sehen, wie ein stolzes und edles Volk sich
ohne Widerstand dem zufälligen Emporkommen eines Günstlings des Hofes
oder eines Diktators aus der Kaserne unterwirft. Die Sache erklärt sich aber
ziemlich leicht, wenn man weiß, daß die Vorgänge in Madrid die Freiheiten
und den Wohlstand der Provinzen nicht sehr beeinflussen. Die letzteren setzen
dabei gelassen ihren Weg fort und widmen dem König und den Cortes nur
vorübergehend Beachtung. Dieses kräftige lokale Leben und diese Schwäche
des Zentrums erklärt es zum Teile, wenn Spanien während der letzten hundert
Jahre die bedeutsame Stelle, die es in der europäischen Politik früher einnahm,
"»gebüßt hat. Nachdem es sein amerikanisches Kolonialreich bis auf Cuba
verloren, besaßen seine Herrscher nicht mehr die zur Führung großer Kriege
erforderlichen Mittel, und die Lotalparlamcnte verhinderten mit ihren Befug¬
nissen eine Erhöhung der Steuer», welche diesen Ausfall in den Finanzen ersetzt
hatte. In der That, Madrid ist in wichtigen Beziehungen nicht so sehr die
Hauptstadt eines Staates als die Zentralstadt einer Anzahl von Provinzen,
die so eng miteinander verbunden sind, daß der Fremde nicht bemerkt, wie
wesentlich sie sich von einander unterscheiden. Die Geschichte aber zeigt uns,
daß Föderalstaaten stärker in der Verteidigung als im Angriffe sind, und daß
sie deshalb keinen aggressiven Charakter tragen. Die Vereinigten Staaten und
die schweizerische Eidgenossenschaft haben praktisch genommen so gut wie gar
keine auswärtige Politik, Österreich-Ungarn, eine Föderation unter einem Kaiser,


Grenzboten I. 1384.
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[0315] Der Umschwung in Spanien. ganz Spanien hat. Ein solcher Wechsel in der Verwaltung würde in Frank¬ reich das Land einer allgemeinen Reaktion unterwerfen, in dem lateinischen Schwesterstaate aber verhält es sich wesentlich anders. Hier begegnen wir von alten Zeiten her einer weitverbreiteten und stark ausgebildeten Selbstregierung der verschiedenen Landesteile. Die Lokalparlamente — viputsolonk« ?rovm- eialss — haben beinahe so viel Rechte und Vollmachten wie die Landtage in den Einzelstaaten des deutschen Reiches. Sie besteuern sich selbst, bewahren lokale Einrichtungen und Gewohnheiten, verwalten ihre Polizei selbst und sind überhaupt in großem Maße unabhängig von der Zentralverwaltung. Unter ihnen erfreuen sich endlich die Gemeinden, welche die Lokalparlamente wählen, einer ausgedehnten munizipalen Gewalt und Berechtigung, die in manchen Be¬ ziehungen sogar weiter geht als die der englischen städtischen Korporationen. So unterscheidet sich Spanien ganz erheblich von Frankreich, wo alle politische Gewalt sich in Paris konzentrirt. Spanien gleicht hierin mehr Italien, nur daß hier der Patriotismus die altherkömmlichen Eigentümlichkeiten zu verwischen strebt, während dort der Provinzialgeist mit Erfolg bemüht ist. sie zu erhalten. Die Spanier sind stolz auf ihre Provinzen, auf ihre lokalen Statuten und Gesetze, Sitten und Bräuche, sogar auf ihre verschiedenen Dialekte, und das ist >" manchen Beziehungen von Vorteil, aber es hat auch seine Nachteile, vor allen den, daß es das Entstehen einer nationalen Politik hindert. Es ist für Fernstehende oft erstaunlich, zu sehen, wie ein stolzes und edles Volk sich ohne Widerstand dem zufälligen Emporkommen eines Günstlings des Hofes oder eines Diktators aus der Kaserne unterwirft. Die Sache erklärt sich aber ziemlich leicht, wenn man weiß, daß die Vorgänge in Madrid die Freiheiten und den Wohlstand der Provinzen nicht sehr beeinflussen. Die letzteren setzen dabei gelassen ihren Weg fort und widmen dem König und den Cortes nur vorübergehend Beachtung. Dieses kräftige lokale Leben und diese Schwäche des Zentrums erklärt es zum Teile, wenn Spanien während der letzten hundert Jahre die bedeutsame Stelle, die es in der europäischen Politik früher einnahm, "»gebüßt hat. Nachdem es sein amerikanisches Kolonialreich bis auf Cuba verloren, besaßen seine Herrscher nicht mehr die zur Führung großer Kriege erforderlichen Mittel, und die Lotalparlamcnte verhinderten mit ihren Befug¬ nissen eine Erhöhung der Steuer», welche diesen Ausfall in den Finanzen ersetzt hatte. In der That, Madrid ist in wichtigen Beziehungen nicht so sehr die Hauptstadt eines Staates als die Zentralstadt einer Anzahl von Provinzen, die so eng miteinander verbunden sind, daß der Fremde nicht bemerkt, wie wesentlich sie sich von einander unterscheiden. Die Geschichte aber zeigt uns, daß Föderalstaaten stärker in der Verteidigung als im Angriffe sind, und daß sie deshalb keinen aggressiven Charakter tragen. Die Vereinigten Staaten und die schweizerische Eidgenossenschaft haben praktisch genommen so gut wie gar keine auswärtige Politik, Österreich-Ungarn, eine Föderation unter einem Kaiser, Grenzboten I. 1384.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/315>, abgerufen am 24.08.2024.