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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Aus dem neuen Griechenland.

und daß er infolge dessen die heilige Pflicht hatte, gegenüber den Leiden der
übrigen unterjochten griechischen Provinzen sich nicht taub zu zeigen? Oder
wäre es gerechter gewesen, wenn der junge Staat die in den türkischen Pro¬
vinzen kämpfenden Griechen ihrem Schicksal überlasse" hätte, und zwar zu einer
Zeit, wo die Vertreter des Panslavismus jenen den Schutz des russische"
Adlers versprachen, wenn sie ihren einzigen Traum, ihren heißen Wunsch, die
Vereinigung mit der Mutter Hellas, aufgeben wollten? Man hat freilich
Griechenland einen Vorwurf daraus gemacht, daß es entweder aus phhletischeu
oder aus politischen Gründen oder endlich wegen der Gemeinsamkeit der Ge¬
schichte, der Wünsche und Meinungen die für Erlangung der Freiheit aufgestan¬
denen Brüder ermunterte, und selbst Drohungen blieben ihm nicht erspart,
wenn man sür die Störung des europäischen Friedens besorgt war.

Und doch hat Griechenland, als es vor dein Beginn des russisch-türkischen
Krieges aufgefordert wurde, Unruhen in den unter der Herrschaft der Türkei
stehenden griechischen Ländern zu veranlassen, damit der Sturz des nieder¬
sinkenden türkischen Reiches vollständiger werde, sich geweigert, diesem Ansinnen
nachzugeben, da es klar eingesehen hat, daß eine solche vorzeitige Zerteilung des
türkischen Reiches und zwar unter der Obhut und den Vorschriften Rußlands
ebensowenig den griechischen Hoffnungen wie den allgemeinen europäischen
Interessen entsprechen würde. Der Lohn dafür war -- der Vertrag von
San Stefano. Da allerdings war es ein Ding der Unmöglichkeit, daß die helle¬
nische Nation noch länger in Geduld verharrte, nachdem sie gesehen, wie alle ihre
Ansprüche durch diese" Vertrag in den Hintergrund gedrängt wurden. Ein Sturm
der Entrüstung erhob sich. Und in diesem Sturme mußten die Worte des damaligen
englischen Premierministers Beaeonsfield wie eine bittere Ironie erklingen, der,
nachdem Europa die Hoffnungen der Griechen genährt hatte, sie plötzlich zur Ruhe,
zur Geduld ermahnte und auf bessere künftige Zeiten verwies. Obwohl ganz
unvorbereitet, entschloß sich die griechische Regierung alles aufs Spiel zu setzen.
Nicht ein einziger von all den Deputaten der verschiedenen Parteien erhob
sich dagegen, als sie vor der Volksvertretung erschien, um den nötigen Kredit
zur allgemeinen Ausrüstung zu verlangen. Die politischen Leidenschaften, welche
gewöhnlich in Griechenland die Patrioten auseinanderhalten, waren damals
gänzlich unterdrückt, und die ganze Nation beeilte sich einstimmig, die Regierung
in ihrem Werke zu unterstützen. Haufenweise eilten alle zu den Reihen des
Heeres, alle bereit, dahin zu schreiten, wohin sie die Ehre und das Vaterland
rief, alle entschlossen, wenn nichts andres, so wenigstens der zivilistrteu
Welt nochmals zu zeigen, daß sie in dem Kampfe für die Freiheit zu sterben
wüßte". Das Budget der Ausgaben, welches beinahe 40 Millionen im Frieden
betrug, stieg auf 122 Millionen Drachmen, eine Summe, welche gegenüber den
bescheidenen Einnahme" des kleinen Staates ungeheuer war. Kurz, es herrschte
damals eine solche Gährung, ein so leidenschaftlicher Aufschwung aller Ge-


Grenzbotcn I. 1884. 37
Aus dem neuen Griechenland.

und daß er infolge dessen die heilige Pflicht hatte, gegenüber den Leiden der
übrigen unterjochten griechischen Provinzen sich nicht taub zu zeigen? Oder
wäre es gerechter gewesen, wenn der junge Staat die in den türkischen Pro¬
vinzen kämpfenden Griechen ihrem Schicksal überlasse» hätte, und zwar zu einer
Zeit, wo die Vertreter des Panslavismus jenen den Schutz des russische»
Adlers versprachen, wenn sie ihren einzigen Traum, ihren heißen Wunsch, die
Vereinigung mit der Mutter Hellas, aufgeben wollten? Man hat freilich
Griechenland einen Vorwurf daraus gemacht, daß es entweder aus phhletischeu
oder aus politischen Gründen oder endlich wegen der Gemeinsamkeit der Ge¬
schichte, der Wünsche und Meinungen die für Erlangung der Freiheit aufgestan¬
denen Brüder ermunterte, und selbst Drohungen blieben ihm nicht erspart,
wenn man sür die Störung des europäischen Friedens besorgt war.

Und doch hat Griechenland, als es vor dein Beginn des russisch-türkischen
Krieges aufgefordert wurde, Unruhen in den unter der Herrschaft der Türkei
stehenden griechischen Ländern zu veranlassen, damit der Sturz des nieder¬
sinkenden türkischen Reiches vollständiger werde, sich geweigert, diesem Ansinnen
nachzugeben, da es klar eingesehen hat, daß eine solche vorzeitige Zerteilung des
türkischen Reiches und zwar unter der Obhut und den Vorschriften Rußlands
ebensowenig den griechischen Hoffnungen wie den allgemeinen europäischen
Interessen entsprechen würde. Der Lohn dafür war — der Vertrag von
San Stefano. Da allerdings war es ein Ding der Unmöglichkeit, daß die helle¬
nische Nation noch länger in Geduld verharrte, nachdem sie gesehen, wie alle ihre
Ansprüche durch diese» Vertrag in den Hintergrund gedrängt wurden. Ein Sturm
der Entrüstung erhob sich. Und in diesem Sturme mußten die Worte des damaligen
englischen Premierministers Beaeonsfield wie eine bittere Ironie erklingen, der,
nachdem Europa die Hoffnungen der Griechen genährt hatte, sie plötzlich zur Ruhe,
zur Geduld ermahnte und auf bessere künftige Zeiten verwies. Obwohl ganz
unvorbereitet, entschloß sich die griechische Regierung alles aufs Spiel zu setzen.
Nicht ein einziger von all den Deputaten der verschiedenen Parteien erhob
sich dagegen, als sie vor der Volksvertretung erschien, um den nötigen Kredit
zur allgemeinen Ausrüstung zu verlangen. Die politischen Leidenschaften, welche
gewöhnlich in Griechenland die Patrioten auseinanderhalten, waren damals
gänzlich unterdrückt, und die ganze Nation beeilte sich einstimmig, die Regierung
in ihrem Werke zu unterstützen. Haufenweise eilten alle zu den Reihen des
Heeres, alle bereit, dahin zu schreiten, wohin sie die Ehre und das Vaterland
rief, alle entschlossen, wenn nichts andres, so wenigstens der zivilistrteu
Welt nochmals zu zeigen, daß sie in dem Kampfe für die Freiheit zu sterben
wüßte». Das Budget der Ausgaben, welches beinahe 40 Millionen im Frieden
betrug, stieg auf 122 Millionen Drachmen, eine Summe, welche gegenüber den
bescheidenen Einnahme» des kleinen Staates ungeheuer war. Kurz, es herrschte
damals eine solche Gährung, ein so leidenschaftlicher Aufschwung aller Ge-


Grenzbotcn I. 1884. 37
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[0299] Aus dem neuen Griechenland. und daß er infolge dessen die heilige Pflicht hatte, gegenüber den Leiden der übrigen unterjochten griechischen Provinzen sich nicht taub zu zeigen? Oder wäre es gerechter gewesen, wenn der junge Staat die in den türkischen Pro¬ vinzen kämpfenden Griechen ihrem Schicksal überlasse» hätte, und zwar zu einer Zeit, wo die Vertreter des Panslavismus jenen den Schutz des russische» Adlers versprachen, wenn sie ihren einzigen Traum, ihren heißen Wunsch, die Vereinigung mit der Mutter Hellas, aufgeben wollten? Man hat freilich Griechenland einen Vorwurf daraus gemacht, daß es entweder aus phhletischeu oder aus politischen Gründen oder endlich wegen der Gemeinsamkeit der Ge¬ schichte, der Wünsche und Meinungen die für Erlangung der Freiheit aufgestan¬ denen Brüder ermunterte, und selbst Drohungen blieben ihm nicht erspart, wenn man sür die Störung des europäischen Friedens besorgt war. Und doch hat Griechenland, als es vor dein Beginn des russisch-türkischen Krieges aufgefordert wurde, Unruhen in den unter der Herrschaft der Türkei stehenden griechischen Ländern zu veranlassen, damit der Sturz des nieder¬ sinkenden türkischen Reiches vollständiger werde, sich geweigert, diesem Ansinnen nachzugeben, da es klar eingesehen hat, daß eine solche vorzeitige Zerteilung des türkischen Reiches und zwar unter der Obhut und den Vorschriften Rußlands ebensowenig den griechischen Hoffnungen wie den allgemeinen europäischen Interessen entsprechen würde. Der Lohn dafür war — der Vertrag von San Stefano. Da allerdings war es ein Ding der Unmöglichkeit, daß die helle¬ nische Nation noch länger in Geduld verharrte, nachdem sie gesehen, wie alle ihre Ansprüche durch diese» Vertrag in den Hintergrund gedrängt wurden. Ein Sturm der Entrüstung erhob sich. Und in diesem Sturme mußten die Worte des damaligen englischen Premierministers Beaeonsfield wie eine bittere Ironie erklingen, der, nachdem Europa die Hoffnungen der Griechen genährt hatte, sie plötzlich zur Ruhe, zur Geduld ermahnte und auf bessere künftige Zeiten verwies. Obwohl ganz unvorbereitet, entschloß sich die griechische Regierung alles aufs Spiel zu setzen. Nicht ein einziger von all den Deputaten der verschiedenen Parteien erhob sich dagegen, als sie vor der Volksvertretung erschien, um den nötigen Kredit zur allgemeinen Ausrüstung zu verlangen. Die politischen Leidenschaften, welche gewöhnlich in Griechenland die Patrioten auseinanderhalten, waren damals gänzlich unterdrückt, und die ganze Nation beeilte sich einstimmig, die Regierung in ihrem Werke zu unterstützen. Haufenweise eilten alle zu den Reihen des Heeres, alle bereit, dahin zu schreiten, wohin sie die Ehre und das Vaterland rief, alle entschlossen, wenn nichts andres, so wenigstens der zivilistrteu Welt nochmals zu zeigen, daß sie in dem Kampfe für die Freiheit zu sterben wüßte». Das Budget der Ausgaben, welches beinahe 40 Millionen im Frieden betrug, stieg auf 122 Millionen Drachmen, eine Summe, welche gegenüber den bescheidenen Einnahme» des kleinen Staates ungeheuer war. Kurz, es herrschte damals eine solche Gährung, ein so leidenschaftlicher Aufschwung aller Ge- Grenzbotcn I. 1884. 37

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/299>, abgerufen am 22.07.2024.