Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Kritik zum neuen Aktiengesetz.

vorgekommen seien; und die öffentliche Meinung Deutschlands habe niemals
über das Gründertum eine moralische Vehme geübt. Und doch hat Delbrück
während dieser ganzen Zeit in der Reichshauptstadt gelebt, und es kann ihm
das Treiben jener Zeit nicht ganz unbekannt geblieben sein. Es sind ihm auch
wohl die seitdem vorgekommenen zahlreichen Gründerprozesse nicht entgangen,
welche die öffentliche Meinung umsomehr aufregten, als sie meist mit Frei¬
sprechung endigten; ein Beweis, daß unsre Gesetze unzureichend sind, Handlungen
zu sühnen, welche den Zusammenbruch vieler Existenzen zur Folge gehabt haben.
Aber er brauchte auch nur, um die Wirksamkeit jener Zeit zu erkennen, einen
Blick auf den täglichen Kurszettel, insonderheit die Rubrik "Jndustriepapiere,"
zu werfen, die einem Schlachtfelde voll Schwerverwundeter gleicht; nicht zu
gedenken der großen Zahl der Toten, die man bereits hinweggetragen und be¬
graben hat, sowie derer, die mit Hilfe der bekannten Reduktionen zu Krüppeln
kurirt worden sind.

Delbrück findet, daß die Verfasser des -neuen Entwurfs "die realen Ver¬
hältnisse, ans welche das Gesetz Anwendung finden soll," nicht genügend gekannt
haben, "Nicht ans der Fülle des unendlich verschieden gestalteten Lebens haben
sie die Erkenntnis geschöpft, und nicht die Anschauung von dem, was wahr,
gut und erhaltcnswert ist, hat sie geleitet, sondern das Bestreben, das, was sich
schmarotzerhaft angesetzt hat, zu beseitigen, hat sie verführt, den Baum nicht
zu schonen, an den die Schmarotzerpflanze sich gehängt hat." Diese "akade-
demische Arbeit" könne auch eine wesentliche Änderung nicht vertragen. Jede
Änderung würde das Werk nur verschlechtern, (Also fort damit ins Feuer!)
Auf einer ganz andern Basis müsse das Gesetz aufgebaut werden, "Ob es
jetzt an der Zeit ist, unabhängig von der großen Revision der bürgerlichen Ge¬
setzgebung, unter dem Eindrucke noch ungeklärter Zustände, die Lösung einer
solchen Aufgabe zu versuchen, mag dahingestellt bleiben. Aber eine unrichtige
Lösung gerade in der jetzigen Zeit widerstreitender Interessen würde schwer¬
wiegende Nachteile bringen." (Also nach allem, was wir erlebt, sind wir über
die Sache noch nicht klar geworden; nur etwa die umfassende Weisheit der
Zivilgesetzkommission könnte die Aufgabe lösen,)

Treten wir nun den Gründen näher, aus welchen Delbrück ein so ver¬
nichtendes Urteil über den Entwurf ausspricht, so finden sie ihren Ausdruck in
folgenden prinzipiellen Sätzen: "Diejenigen, welche die Mühe und Arbeit, die
Gedanken und die volle juristische und moralische Verantwortlichkeit haben,
werden preisgegeben, um diejenigen zu schützen, welche, ohne anders eine Hand
zu rühren als zum Kouponsabschneiden, mühelos und ohne andre Sorge als
um ihr eignes Wohl höhern Gewinn suchen, als die depositalmäßigen Papiere
gewähren. Volkswirtschaftlich ist das nicht gedacht..., Nicht der wirtschaftliche
Gedanke, zu dessen Nealisirmig Kapitalien zusammengeschossen werden, nicht die
produktive Thätigkeit, die sich in den Anlagen knndthut, nicht die geistigen Kräfte,


Die Kritik zum neuen Aktiengesetz.

vorgekommen seien; und die öffentliche Meinung Deutschlands habe niemals
über das Gründertum eine moralische Vehme geübt. Und doch hat Delbrück
während dieser ganzen Zeit in der Reichshauptstadt gelebt, und es kann ihm
das Treiben jener Zeit nicht ganz unbekannt geblieben sein. Es sind ihm auch
wohl die seitdem vorgekommenen zahlreichen Gründerprozesse nicht entgangen,
welche die öffentliche Meinung umsomehr aufregten, als sie meist mit Frei¬
sprechung endigten; ein Beweis, daß unsre Gesetze unzureichend sind, Handlungen
zu sühnen, welche den Zusammenbruch vieler Existenzen zur Folge gehabt haben.
Aber er brauchte auch nur, um die Wirksamkeit jener Zeit zu erkennen, einen
Blick auf den täglichen Kurszettel, insonderheit die Rubrik „Jndustriepapiere,"
zu werfen, die einem Schlachtfelde voll Schwerverwundeter gleicht; nicht zu
gedenken der großen Zahl der Toten, die man bereits hinweggetragen und be¬
graben hat, sowie derer, die mit Hilfe der bekannten Reduktionen zu Krüppeln
kurirt worden sind.

Delbrück findet, daß die Verfasser des -neuen Entwurfs „die realen Ver¬
hältnisse, ans welche das Gesetz Anwendung finden soll," nicht genügend gekannt
haben, „Nicht ans der Fülle des unendlich verschieden gestalteten Lebens haben
sie die Erkenntnis geschöpft, und nicht die Anschauung von dem, was wahr,
gut und erhaltcnswert ist, hat sie geleitet, sondern das Bestreben, das, was sich
schmarotzerhaft angesetzt hat, zu beseitigen, hat sie verführt, den Baum nicht
zu schonen, an den die Schmarotzerpflanze sich gehängt hat." Diese „akade-
demische Arbeit" könne auch eine wesentliche Änderung nicht vertragen. Jede
Änderung würde das Werk nur verschlechtern, (Also fort damit ins Feuer!)
Auf einer ganz andern Basis müsse das Gesetz aufgebaut werden, „Ob es
jetzt an der Zeit ist, unabhängig von der großen Revision der bürgerlichen Ge¬
setzgebung, unter dem Eindrucke noch ungeklärter Zustände, die Lösung einer
solchen Aufgabe zu versuchen, mag dahingestellt bleiben. Aber eine unrichtige
Lösung gerade in der jetzigen Zeit widerstreitender Interessen würde schwer¬
wiegende Nachteile bringen." (Also nach allem, was wir erlebt, sind wir über
die Sache noch nicht klar geworden; nur etwa die umfassende Weisheit der
Zivilgesetzkommission könnte die Aufgabe lösen,)

Treten wir nun den Gründen näher, aus welchen Delbrück ein so ver¬
nichtendes Urteil über den Entwurf ausspricht, so finden sie ihren Ausdruck in
folgenden prinzipiellen Sätzen: „Diejenigen, welche die Mühe und Arbeit, die
Gedanken und die volle juristische und moralische Verantwortlichkeit haben,
werden preisgegeben, um diejenigen zu schützen, welche, ohne anders eine Hand
zu rühren als zum Kouponsabschneiden, mühelos und ohne andre Sorge als
um ihr eignes Wohl höhern Gewinn suchen, als die depositalmäßigen Papiere
gewähren. Volkswirtschaftlich ist das nicht gedacht..., Nicht der wirtschaftliche
Gedanke, zu dessen Nealisirmig Kapitalien zusammengeschossen werden, nicht die
produktive Thätigkeit, die sich in den Anlagen knndthut, nicht die geistigen Kräfte,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0284" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/155167"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Kritik zum neuen Aktiengesetz.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1165" prev="#ID_1164"> vorgekommen seien; und die öffentliche Meinung Deutschlands habe niemals<lb/>
über das Gründertum eine moralische Vehme geübt. Und doch hat Delbrück<lb/>
während dieser ganzen Zeit in der Reichshauptstadt gelebt, und es kann ihm<lb/>
das Treiben jener Zeit nicht ganz unbekannt geblieben sein. Es sind ihm auch<lb/>
wohl die seitdem vorgekommenen zahlreichen Gründerprozesse nicht entgangen,<lb/>
welche die öffentliche Meinung umsomehr aufregten, als sie meist mit Frei¬<lb/>
sprechung endigten; ein Beweis, daß unsre Gesetze unzureichend sind, Handlungen<lb/>
zu sühnen, welche den Zusammenbruch vieler Existenzen zur Folge gehabt haben.<lb/>
Aber er brauchte auch nur, um die Wirksamkeit jener Zeit zu erkennen, einen<lb/>
Blick auf den täglichen Kurszettel, insonderheit die Rubrik &#x201E;Jndustriepapiere,"<lb/>
zu werfen, die einem Schlachtfelde voll Schwerverwundeter gleicht; nicht zu<lb/>
gedenken der großen Zahl der Toten, die man bereits hinweggetragen und be¬<lb/>
graben hat, sowie derer, die mit Hilfe der bekannten Reduktionen zu Krüppeln<lb/>
kurirt worden sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1166"> Delbrück findet, daß die Verfasser des -neuen Entwurfs &#x201E;die realen Ver¬<lb/>
hältnisse, ans welche das Gesetz Anwendung finden soll," nicht genügend gekannt<lb/>
haben, &#x201E;Nicht ans der Fülle des unendlich verschieden gestalteten Lebens haben<lb/>
sie die Erkenntnis geschöpft, und nicht die Anschauung von dem, was wahr,<lb/>
gut und erhaltcnswert ist, hat sie geleitet, sondern das Bestreben, das, was sich<lb/>
schmarotzerhaft angesetzt hat, zu beseitigen, hat sie verführt, den Baum nicht<lb/>
zu schonen, an den die Schmarotzerpflanze sich gehängt hat." Diese &#x201E;akade-<lb/>
demische Arbeit" könne auch eine wesentliche Änderung nicht vertragen. Jede<lb/>
Änderung würde das Werk nur verschlechtern, (Also fort damit ins Feuer!)<lb/>
Auf einer ganz andern Basis müsse das Gesetz aufgebaut werden, &#x201E;Ob es<lb/>
jetzt an der Zeit ist, unabhängig von der großen Revision der bürgerlichen Ge¬<lb/>
setzgebung, unter dem Eindrucke noch ungeklärter Zustände, die Lösung einer<lb/>
solchen Aufgabe zu versuchen, mag dahingestellt bleiben. Aber eine unrichtige<lb/>
Lösung gerade in der jetzigen Zeit widerstreitender Interessen würde schwer¬<lb/>
wiegende Nachteile bringen." (Also nach allem, was wir erlebt, sind wir über<lb/>
die Sache noch nicht klar geworden; nur etwa die umfassende Weisheit der<lb/>
Zivilgesetzkommission könnte die Aufgabe lösen,)</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1167" next="#ID_1168"> Treten wir nun den Gründen näher, aus welchen Delbrück ein so ver¬<lb/>
nichtendes Urteil über den Entwurf ausspricht, so finden sie ihren Ausdruck in<lb/>
folgenden prinzipiellen Sätzen: &#x201E;Diejenigen, welche die Mühe und Arbeit, die<lb/>
Gedanken und die volle juristische und moralische Verantwortlichkeit haben,<lb/>
werden preisgegeben, um diejenigen zu schützen, welche, ohne anders eine Hand<lb/>
zu rühren als zum Kouponsabschneiden, mühelos und ohne andre Sorge als<lb/>
um ihr eignes Wohl höhern Gewinn suchen, als die depositalmäßigen Papiere<lb/>
gewähren. Volkswirtschaftlich ist das nicht gedacht..., Nicht der wirtschaftliche<lb/>
Gedanke, zu dessen Nealisirmig Kapitalien zusammengeschossen werden, nicht die<lb/>
produktive Thätigkeit, die sich in den Anlagen knndthut, nicht die geistigen Kräfte,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0284] Die Kritik zum neuen Aktiengesetz. vorgekommen seien; und die öffentliche Meinung Deutschlands habe niemals über das Gründertum eine moralische Vehme geübt. Und doch hat Delbrück während dieser ganzen Zeit in der Reichshauptstadt gelebt, und es kann ihm das Treiben jener Zeit nicht ganz unbekannt geblieben sein. Es sind ihm auch wohl die seitdem vorgekommenen zahlreichen Gründerprozesse nicht entgangen, welche die öffentliche Meinung umsomehr aufregten, als sie meist mit Frei¬ sprechung endigten; ein Beweis, daß unsre Gesetze unzureichend sind, Handlungen zu sühnen, welche den Zusammenbruch vieler Existenzen zur Folge gehabt haben. Aber er brauchte auch nur, um die Wirksamkeit jener Zeit zu erkennen, einen Blick auf den täglichen Kurszettel, insonderheit die Rubrik „Jndustriepapiere," zu werfen, die einem Schlachtfelde voll Schwerverwundeter gleicht; nicht zu gedenken der großen Zahl der Toten, die man bereits hinweggetragen und be¬ graben hat, sowie derer, die mit Hilfe der bekannten Reduktionen zu Krüppeln kurirt worden sind. Delbrück findet, daß die Verfasser des -neuen Entwurfs „die realen Ver¬ hältnisse, ans welche das Gesetz Anwendung finden soll," nicht genügend gekannt haben, „Nicht ans der Fülle des unendlich verschieden gestalteten Lebens haben sie die Erkenntnis geschöpft, und nicht die Anschauung von dem, was wahr, gut und erhaltcnswert ist, hat sie geleitet, sondern das Bestreben, das, was sich schmarotzerhaft angesetzt hat, zu beseitigen, hat sie verführt, den Baum nicht zu schonen, an den die Schmarotzerpflanze sich gehängt hat." Diese „akade- demische Arbeit" könne auch eine wesentliche Änderung nicht vertragen. Jede Änderung würde das Werk nur verschlechtern, (Also fort damit ins Feuer!) Auf einer ganz andern Basis müsse das Gesetz aufgebaut werden, „Ob es jetzt an der Zeit ist, unabhängig von der großen Revision der bürgerlichen Ge¬ setzgebung, unter dem Eindrucke noch ungeklärter Zustände, die Lösung einer solchen Aufgabe zu versuchen, mag dahingestellt bleiben. Aber eine unrichtige Lösung gerade in der jetzigen Zeit widerstreitender Interessen würde schwer¬ wiegende Nachteile bringen." (Also nach allem, was wir erlebt, sind wir über die Sache noch nicht klar geworden; nur etwa die umfassende Weisheit der Zivilgesetzkommission könnte die Aufgabe lösen,) Treten wir nun den Gründen näher, aus welchen Delbrück ein so ver¬ nichtendes Urteil über den Entwurf ausspricht, so finden sie ihren Ausdruck in folgenden prinzipiellen Sätzen: „Diejenigen, welche die Mühe und Arbeit, die Gedanken und die volle juristische und moralische Verantwortlichkeit haben, werden preisgegeben, um diejenigen zu schützen, welche, ohne anders eine Hand zu rühren als zum Kouponsabschneiden, mühelos und ohne andre Sorge als um ihr eignes Wohl höhern Gewinn suchen, als die depositalmäßigen Papiere gewähren. Volkswirtschaftlich ist das nicht gedacht..., Nicht der wirtschaftliche Gedanke, zu dessen Nealisirmig Kapitalien zusammengeschossen werden, nicht die produktive Thätigkeit, die sich in den Anlagen knndthut, nicht die geistigen Kräfte,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/284
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/284>, abgerufen am 01.07.2024.