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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Die niederländische Genre- und Landschaftsmalerei.

blicken wir in ein niedriges, durch rnndbogige Fenster geöffnetes Zimmer mit
schwerer Balkendecke, in welchem Maria, vor einem Bctpulte kniend, die Botschaft
des Engels empfängt, daß von ihr das Heil der Welt kommen soll. In einer
gothischen Nische an der Fensterwand steht ein flaches Waschbecken und darüber
hängt an einer Kette ein kupfernes, ampelartigcs Gerät, vielleicht eine ewige
Lampe. In einer zweiten, durch wagerechte Bretter eingekeilten Nische ist einiges
HauSgerät aufbewahrt, eine Kanne, ein Becher, ein Leuchter und zwei Bücher.
Sonst ist es leer in dem sauber getäfelten Raume. Aber durch die offenen
Fenster, vor welchen der sonst übliche schützende Vorhang fehlt, fällt das volle
Sonnenlicht in das Gemach und erzeugt bereits jenes dämmerige Halbdunkel,
dessen wunderbares Spiel im Innenraum zwei Jahrhunderte später Pieter de
Hooch mit so großartiger Virtuosität zu behandeln wußte. Auf einem kleinen
Gemälde der Berliner Galerie, welches, wenn es nicht von Jan van Esel selbst
herrührt, so doch in seiner Werkstatt oder nach einem (verloren gegangenen)
Originale von ihm gemalt worden ist, sieht man noch deutlicher, welche Voll¬
kommenheit die Eycksche Schule bereits in der feinfühligen Wiedergabe der Licht¬
effekte und in der Durchbildung des Helldunkels erreicht hatte.

Der Realismus der Brüder van Esel, d. h. das von ihnen mit vollem Be¬
wußtsein in die niederländische Kunst eingeführte Streben nach höchster Natur¬
wahrheit, fand aber zunächst über den Genter Altar hinaus im Porträt seine
weitere Ausbildung. Der Mann mit den Nelken in der Hand und dem
Se. Antoniuskrenze auf der Brust (in der Berliner Galerie) ist wohl die voll¬
endetste Leistung Jan van Eycks auf diesem Gebiete, ein Bild, welches mit der
Lupe betrachtet werden muß, damit die sorgfältige Detaillirung desselben nach
Gebühr gewürdigt werden kann. Es ist bezeichnend für die ganze Anschauungs¬
weise Jan van Eycks, daß er diesem Bildnisse ursprünglich ein genreartigcs
Gepräge aufdrücken wollte; man sieht nämlich ganz deutlich, daß der Künstler
unten noch eine Tischplatte gemalt hatte, auf welcher die Hände des Darge¬
stellten auflagen. Das war bereits angelegt, als es dem Künstler später in
den Sinn kam, die Anlage wieder zu übermalen. Ganz hat er dagegen den
Charakter eines Genrebildes bei dem Doppelporträt eines Braut- oder Ehe-
Paares in der Londoner Nationalgalerie festgehalten. Wenn wir nicht aus
Urkunden wüßten, daß die Dargestellten der Brügger Tuchhändler Arnolfini
und sein Eheweib sind, so würden wir beim ersten Anblick auf ein Genrebild
raten. Die beiden Personen halten einander bei der Hand gefaßt, als wollten
sie sich noch einmal Treue schwören. Der Hochzeitsstaat, welchen beide tragen,
deutet darauf hin, daß sie entweder eben aus der Kirche gekommen sind
oder sich nach derselben begeben wollen. Wohl das erstere. Denn das Ge¬
mach, in welchem sie sich befinden, ist offenbar die gemeinschaftliche Wohnung
des Paares. Die Ausstattung des Raumes, in welchem die Perspektive und
die Luft- und Lichtstimmung besonders meisterlich behandelt sind, ist immer noch


Die niederländische Genre- und Landschaftsmalerei.

blicken wir in ein niedriges, durch rnndbogige Fenster geöffnetes Zimmer mit
schwerer Balkendecke, in welchem Maria, vor einem Bctpulte kniend, die Botschaft
des Engels empfängt, daß von ihr das Heil der Welt kommen soll. In einer
gothischen Nische an der Fensterwand steht ein flaches Waschbecken und darüber
hängt an einer Kette ein kupfernes, ampelartigcs Gerät, vielleicht eine ewige
Lampe. In einer zweiten, durch wagerechte Bretter eingekeilten Nische ist einiges
HauSgerät aufbewahrt, eine Kanne, ein Becher, ein Leuchter und zwei Bücher.
Sonst ist es leer in dem sauber getäfelten Raume. Aber durch die offenen
Fenster, vor welchen der sonst übliche schützende Vorhang fehlt, fällt das volle
Sonnenlicht in das Gemach und erzeugt bereits jenes dämmerige Halbdunkel,
dessen wunderbares Spiel im Innenraum zwei Jahrhunderte später Pieter de
Hooch mit so großartiger Virtuosität zu behandeln wußte. Auf einem kleinen
Gemälde der Berliner Galerie, welches, wenn es nicht von Jan van Esel selbst
herrührt, so doch in seiner Werkstatt oder nach einem (verloren gegangenen)
Originale von ihm gemalt worden ist, sieht man noch deutlicher, welche Voll¬
kommenheit die Eycksche Schule bereits in der feinfühligen Wiedergabe der Licht¬
effekte und in der Durchbildung des Helldunkels erreicht hatte.

Der Realismus der Brüder van Esel, d. h. das von ihnen mit vollem Be¬
wußtsein in die niederländische Kunst eingeführte Streben nach höchster Natur¬
wahrheit, fand aber zunächst über den Genter Altar hinaus im Porträt seine
weitere Ausbildung. Der Mann mit den Nelken in der Hand und dem
Se. Antoniuskrenze auf der Brust (in der Berliner Galerie) ist wohl die voll¬
endetste Leistung Jan van Eycks auf diesem Gebiete, ein Bild, welches mit der
Lupe betrachtet werden muß, damit die sorgfältige Detaillirung desselben nach
Gebühr gewürdigt werden kann. Es ist bezeichnend für die ganze Anschauungs¬
weise Jan van Eycks, daß er diesem Bildnisse ursprünglich ein genreartigcs
Gepräge aufdrücken wollte; man sieht nämlich ganz deutlich, daß der Künstler
unten noch eine Tischplatte gemalt hatte, auf welcher die Hände des Darge¬
stellten auflagen. Das war bereits angelegt, als es dem Künstler später in
den Sinn kam, die Anlage wieder zu übermalen. Ganz hat er dagegen den
Charakter eines Genrebildes bei dem Doppelporträt eines Braut- oder Ehe-
Paares in der Londoner Nationalgalerie festgehalten. Wenn wir nicht aus
Urkunden wüßten, daß die Dargestellten der Brügger Tuchhändler Arnolfini
und sein Eheweib sind, so würden wir beim ersten Anblick auf ein Genrebild
raten. Die beiden Personen halten einander bei der Hand gefaßt, als wollten
sie sich noch einmal Treue schwören. Der Hochzeitsstaat, welchen beide tragen,
deutet darauf hin, daß sie entweder eben aus der Kirche gekommen sind
oder sich nach derselben begeben wollen. Wohl das erstere. Denn das Ge¬
mach, in welchem sie sich befinden, ist offenbar die gemeinschaftliche Wohnung
des Paares. Die Ausstattung des Raumes, in welchem die Perspektive und
die Luft- und Lichtstimmung besonders meisterlich behandelt sind, ist immer noch


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[0249] Die niederländische Genre- und Landschaftsmalerei. blicken wir in ein niedriges, durch rnndbogige Fenster geöffnetes Zimmer mit schwerer Balkendecke, in welchem Maria, vor einem Bctpulte kniend, die Botschaft des Engels empfängt, daß von ihr das Heil der Welt kommen soll. In einer gothischen Nische an der Fensterwand steht ein flaches Waschbecken und darüber hängt an einer Kette ein kupfernes, ampelartigcs Gerät, vielleicht eine ewige Lampe. In einer zweiten, durch wagerechte Bretter eingekeilten Nische ist einiges HauSgerät aufbewahrt, eine Kanne, ein Becher, ein Leuchter und zwei Bücher. Sonst ist es leer in dem sauber getäfelten Raume. Aber durch die offenen Fenster, vor welchen der sonst übliche schützende Vorhang fehlt, fällt das volle Sonnenlicht in das Gemach und erzeugt bereits jenes dämmerige Halbdunkel, dessen wunderbares Spiel im Innenraum zwei Jahrhunderte später Pieter de Hooch mit so großartiger Virtuosität zu behandeln wußte. Auf einem kleinen Gemälde der Berliner Galerie, welches, wenn es nicht von Jan van Esel selbst herrührt, so doch in seiner Werkstatt oder nach einem (verloren gegangenen) Originale von ihm gemalt worden ist, sieht man noch deutlicher, welche Voll¬ kommenheit die Eycksche Schule bereits in der feinfühligen Wiedergabe der Licht¬ effekte und in der Durchbildung des Helldunkels erreicht hatte. Der Realismus der Brüder van Esel, d. h. das von ihnen mit vollem Be¬ wußtsein in die niederländische Kunst eingeführte Streben nach höchster Natur¬ wahrheit, fand aber zunächst über den Genter Altar hinaus im Porträt seine weitere Ausbildung. Der Mann mit den Nelken in der Hand und dem Se. Antoniuskrenze auf der Brust (in der Berliner Galerie) ist wohl die voll¬ endetste Leistung Jan van Eycks auf diesem Gebiete, ein Bild, welches mit der Lupe betrachtet werden muß, damit die sorgfältige Detaillirung desselben nach Gebühr gewürdigt werden kann. Es ist bezeichnend für die ganze Anschauungs¬ weise Jan van Eycks, daß er diesem Bildnisse ursprünglich ein genreartigcs Gepräge aufdrücken wollte; man sieht nämlich ganz deutlich, daß der Künstler unten noch eine Tischplatte gemalt hatte, auf welcher die Hände des Darge¬ stellten auflagen. Das war bereits angelegt, als es dem Künstler später in den Sinn kam, die Anlage wieder zu übermalen. Ganz hat er dagegen den Charakter eines Genrebildes bei dem Doppelporträt eines Braut- oder Ehe- Paares in der Londoner Nationalgalerie festgehalten. Wenn wir nicht aus Urkunden wüßten, daß die Dargestellten der Brügger Tuchhändler Arnolfini und sein Eheweib sind, so würden wir beim ersten Anblick auf ein Genrebild raten. Die beiden Personen halten einander bei der Hand gefaßt, als wollten sie sich noch einmal Treue schwören. Der Hochzeitsstaat, welchen beide tragen, deutet darauf hin, daß sie entweder eben aus der Kirche gekommen sind oder sich nach derselben begeben wollen. Wohl das erstere. Denn das Ge¬ mach, in welchem sie sich befinden, ist offenbar die gemeinschaftliche Wohnung des Paares. Die Ausstattung des Raumes, in welchem die Perspektive und die Luft- und Lichtstimmung besonders meisterlich behandelt sind, ist immer noch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/249>, abgerufen am 04.07.2024.