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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Carl von Noorden.

gebiete, den kirchlichen Häresien und den kirchenreformatorischen Ansätzen im
12, und 13. Jahrhundert, weiter dem Emporkommen der Staatsgewalten in
den verschiedenen europäischen Ländern und endlich der literarwissenschaftlicheu
wie der religiös-kirchlichen Geistesbeweguug des vierzehnten Jahrhunderts. Auf
solchem Unterbau erst begann er den konziliaren Gedanken und seine Geschichte
aufzubauen, um sich dann nach einer umfassenden Ansicht des abendländischen
Staatenshstems in der Epoche des Überganges vom Mittelalter zur Neuzeit
seiner engeren Aufgabe zuzuwenden. Der Kreis seiner Vorlesungen umfaßte
ursprünglich die gesamte mittlere und neuere Geschichte. Erst in Bonn und
Leipzig mußte er sich als Professor für neuere Geschichte auf letzteres Gebiet
beschränken. In einem Cyklus von vier Vorlesungen pflegte er dasselbe vor¬
zutragen. An das Reformationszeitalter schloß sich die Geschichte des sieb¬
zehnten und achtzehnten Jahrhunderts, welche er bis 1763 führte. Dann
folgte die französische Revolution, genauer bezeichnet die Geschichte Europas
von 1763 bis 1814. Den Schluß machte die begreiflicherweise besonders stark
besuchte Vorlesung über die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Aber
auch jetzt war der Kreis seiner Vorlesungen darum kein abgeschlossener: wo
sich das Bedürfnis fühlbar machte, griff er auch auf andre Gebiete hinüber.
So arbeitete er erst in den letzten Jahren die Geschichte des deutschen Kaiser¬
tums und des Papsttums im Mittelalter wieder ans, ein Gebiet, welches er
-- die Zeit des spanischen Erbfolgckrieges abgerechnet -- wie kaum ein andres
sonst von Grund aus beherrschte.

Noordens Vorlesungen waren in Aufbau und Darstellung in sich
abgeschlossene Kunstwerke. Und gerade darum wirkten sie auch so mächtig,
zogen sie fortwährend sowohl Studenten aller Fakultäten wie auch außerhalb
des Universitätsverbandes stehende Hospitanten an. Die durchschnittliche Zahl
seiner Zuhörer in Leipzig betrug ungefähr 206. Und wenn ein besonders
interessanter Gegenstand in Aussicht stand, vermehrte sich diese Zahl so, daß
die Sitzplätze nicht ausreichten und sich an Wänden und Fenstern Gruppen
von Stehenden bildeten. Wenn Noorden dann in diesen gefüllten Saal ein¬
trat und in seinem eiligen Schritt aufs Katheder zustürmte, erhob sich ein
donnerndes Beifallsgetrampel, das die ersten Worte des beginnenden Vortrages
noch verschlang. Die gleiche stanbanfwirbelnde Ovation wiederholte sich am
Schlüsse jeder Vorlesung. Erst mehrfache Bitten und ernsthafte Vorstellungen
des bescheidenen Mannes bewogen die Leipziger Studenten, auf dieses ihr er¬
erbtes Recht, Beifall und Zustimmung auszudrücken, in Noordenschcn Kollegien
fernerhin zu verzichten. Von da ab vernahm man nur uoch am Anfang und
am Schluß des Semesters diese Kundgebung.

Noordens Vortrag war frei. Auf dem Papiere vor sich hatte er nur die reiche
Literatur, die er am Anfang jedes Kapitels kurz angab, die wesentlichsten Daten und
Zahlen und das Gerippe dieses oder jenes Hauptgedankens verzeichnet. Nicht als ob


Carl von Noorden.

gebiete, den kirchlichen Häresien und den kirchenreformatorischen Ansätzen im
12, und 13. Jahrhundert, weiter dem Emporkommen der Staatsgewalten in
den verschiedenen europäischen Ländern und endlich der literarwissenschaftlicheu
wie der religiös-kirchlichen Geistesbeweguug des vierzehnten Jahrhunderts. Auf
solchem Unterbau erst begann er den konziliaren Gedanken und seine Geschichte
aufzubauen, um sich dann nach einer umfassenden Ansicht des abendländischen
Staatenshstems in der Epoche des Überganges vom Mittelalter zur Neuzeit
seiner engeren Aufgabe zuzuwenden. Der Kreis seiner Vorlesungen umfaßte
ursprünglich die gesamte mittlere und neuere Geschichte. Erst in Bonn und
Leipzig mußte er sich als Professor für neuere Geschichte auf letzteres Gebiet
beschränken. In einem Cyklus von vier Vorlesungen pflegte er dasselbe vor¬
zutragen. An das Reformationszeitalter schloß sich die Geschichte des sieb¬
zehnten und achtzehnten Jahrhunderts, welche er bis 1763 führte. Dann
folgte die französische Revolution, genauer bezeichnet die Geschichte Europas
von 1763 bis 1814. Den Schluß machte die begreiflicherweise besonders stark
besuchte Vorlesung über die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Aber
auch jetzt war der Kreis seiner Vorlesungen darum kein abgeschlossener: wo
sich das Bedürfnis fühlbar machte, griff er auch auf andre Gebiete hinüber.
So arbeitete er erst in den letzten Jahren die Geschichte des deutschen Kaiser¬
tums und des Papsttums im Mittelalter wieder ans, ein Gebiet, welches er
— die Zeit des spanischen Erbfolgckrieges abgerechnet — wie kaum ein andres
sonst von Grund aus beherrschte.

Noordens Vorlesungen waren in Aufbau und Darstellung in sich
abgeschlossene Kunstwerke. Und gerade darum wirkten sie auch so mächtig,
zogen sie fortwährend sowohl Studenten aller Fakultäten wie auch außerhalb
des Universitätsverbandes stehende Hospitanten an. Die durchschnittliche Zahl
seiner Zuhörer in Leipzig betrug ungefähr 206. Und wenn ein besonders
interessanter Gegenstand in Aussicht stand, vermehrte sich diese Zahl so, daß
die Sitzplätze nicht ausreichten und sich an Wänden und Fenstern Gruppen
von Stehenden bildeten. Wenn Noorden dann in diesen gefüllten Saal ein¬
trat und in seinem eiligen Schritt aufs Katheder zustürmte, erhob sich ein
donnerndes Beifallsgetrampel, das die ersten Worte des beginnenden Vortrages
noch verschlang. Die gleiche stanbanfwirbelnde Ovation wiederholte sich am
Schlüsse jeder Vorlesung. Erst mehrfache Bitten und ernsthafte Vorstellungen
des bescheidenen Mannes bewogen die Leipziger Studenten, auf dieses ihr er¬
erbtes Recht, Beifall und Zustimmung auszudrücken, in Noordenschcn Kollegien
fernerhin zu verzichten. Von da ab vernahm man nur uoch am Anfang und
am Schluß des Semesters diese Kundgebung.

Noordens Vortrag war frei. Auf dem Papiere vor sich hatte er nur die reiche
Literatur, die er am Anfang jedes Kapitels kurz angab, die wesentlichsten Daten und
Zahlen und das Gerippe dieses oder jenes Hauptgedankens verzeichnet. Nicht als ob


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[0236] Carl von Noorden. gebiete, den kirchlichen Häresien und den kirchenreformatorischen Ansätzen im 12, und 13. Jahrhundert, weiter dem Emporkommen der Staatsgewalten in den verschiedenen europäischen Ländern und endlich der literarwissenschaftlicheu wie der religiös-kirchlichen Geistesbeweguug des vierzehnten Jahrhunderts. Auf solchem Unterbau erst begann er den konziliaren Gedanken und seine Geschichte aufzubauen, um sich dann nach einer umfassenden Ansicht des abendländischen Staatenshstems in der Epoche des Überganges vom Mittelalter zur Neuzeit seiner engeren Aufgabe zuzuwenden. Der Kreis seiner Vorlesungen umfaßte ursprünglich die gesamte mittlere und neuere Geschichte. Erst in Bonn und Leipzig mußte er sich als Professor für neuere Geschichte auf letzteres Gebiet beschränken. In einem Cyklus von vier Vorlesungen pflegte er dasselbe vor¬ zutragen. An das Reformationszeitalter schloß sich die Geschichte des sieb¬ zehnten und achtzehnten Jahrhunderts, welche er bis 1763 führte. Dann folgte die französische Revolution, genauer bezeichnet die Geschichte Europas von 1763 bis 1814. Den Schluß machte die begreiflicherweise besonders stark besuchte Vorlesung über die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Aber auch jetzt war der Kreis seiner Vorlesungen darum kein abgeschlossener: wo sich das Bedürfnis fühlbar machte, griff er auch auf andre Gebiete hinüber. So arbeitete er erst in den letzten Jahren die Geschichte des deutschen Kaiser¬ tums und des Papsttums im Mittelalter wieder ans, ein Gebiet, welches er — die Zeit des spanischen Erbfolgckrieges abgerechnet — wie kaum ein andres sonst von Grund aus beherrschte. Noordens Vorlesungen waren in Aufbau und Darstellung in sich abgeschlossene Kunstwerke. Und gerade darum wirkten sie auch so mächtig, zogen sie fortwährend sowohl Studenten aller Fakultäten wie auch außerhalb des Universitätsverbandes stehende Hospitanten an. Die durchschnittliche Zahl seiner Zuhörer in Leipzig betrug ungefähr 206. Und wenn ein besonders interessanter Gegenstand in Aussicht stand, vermehrte sich diese Zahl so, daß die Sitzplätze nicht ausreichten und sich an Wänden und Fenstern Gruppen von Stehenden bildeten. Wenn Noorden dann in diesen gefüllten Saal ein¬ trat und in seinem eiligen Schritt aufs Katheder zustürmte, erhob sich ein donnerndes Beifallsgetrampel, das die ersten Worte des beginnenden Vortrages noch verschlang. Die gleiche stanbanfwirbelnde Ovation wiederholte sich am Schlüsse jeder Vorlesung. Erst mehrfache Bitten und ernsthafte Vorstellungen des bescheidenen Mannes bewogen die Leipziger Studenten, auf dieses ihr er¬ erbtes Recht, Beifall und Zustimmung auszudrücken, in Noordenschcn Kollegien fernerhin zu verzichten. Von da ab vernahm man nur uoch am Anfang und am Schluß des Semesters diese Kundgebung. Noordens Vortrag war frei. Auf dem Papiere vor sich hatte er nur die reiche Literatur, die er am Anfang jedes Kapitels kurz angab, die wesentlichsten Daten und Zahlen und das Gerippe dieses oder jenes Hauptgedankens verzeichnet. Nicht als ob

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/236>, abgerufen am 24.08.2024.