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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Die ZVostmächto und die Ägyptische Krisis.

Diese Rücksichten bewogen das Ministerium Scherif Pascha, lieber zurück¬
zutreten, als die Verantwortlichkeit für die Räumung des Sudan zu übernehmen.
Der Chedive konnte sagen, vermutlich hätte über kurz oder lang ein Zufall ihm
aus der Verlegenheit geholfen. Die mvrgenlündischen Regierungen huldigen
in ihren Noten immer dem Grundsätze: "Es wird sich schon ein Ausweg finden,
also warten wir." Und in der That konnte der Mahdi eines Tages in der
geheimnisvollen und plötzlichen Weise verschwinden, welche die persönliche Politik
des Orients charakterisirt. Er ist kein Volk und keine Negierung, sondern ein
einzelner Mann, der eine Idee vertritt, die mit seinem Tode untergehen könnte.
Es wäre möglich, daß er von einem Muslim, der nicht an seine Sendung
glaubte, getötet würde, ein Preis auf seinem Kopf gesetzt, könnte ihm einen
verräterischen Dolchstoß oder eine Tasse Kaffee zuziehen, die ihm nicht bekäme.
Alle diese Möglichkeiten konnten einem muhamedanischen Fürsten vor Augen
stehen, der mit einem religiösen Prätendenten zu thun hatte. Verwirklicht sich
keine davon, so muß England, das ihm den Säbel aus der Hand genommen
hat, für ihn eintreten: die Londoner Negierung ist mit andern Worten ver¬
pflichtet, dein Chedive, den sie durch ihren Befehl zum Aufgeben von drei
Vierteln seines Reiches gezwungen hat, den Besitz des letzten Viertels sicher¬
zustellen. Das Gegenteil hiervon, ein ungeschütztes und unkontrolirtes Ägypten,
wäre eine unerhörte und durch nichts zu verteidigende Thatsache.

Erfüllt also England nur seine Pflicht, wenn es Ägypten aus der schweren
Verlegenheit heraushilft, in die es Arabi, die britische Einmischung und Tel
El Kabir, der Mahdi und das Verbot, ihn im Sudan weiter zu bekämpfen,
gebracht haben, so wird das politische Chaos, das jetzt dort herrscht, wenigstens
eine gute Folge haben. Das eigentliche Ägypten wird in kurzer Zeit von der
Unterdrückung, die seit unvordenklichen Zeiten auf seiner Bevölkerung lastet,
befreit werden, wenn England dort gebietet. Mittlerweile ist die Entfernung
aller Behörden aus dem Sudan eine sehr ernste Sache. Chartum, das auf¬
gegeben werden soll, ist ein wichtiger Punkt für den Handel, dessen Einfuhr
und Ausfuhr fortwährend gewachsen ist. Gäbe es zwischen Suakin und Berber
eine Eisenbahn, so hätte es selbst ein ägyptisches Heer leicht halten können.
Natürlich begreift sich die Versuchung, die Gladstone empfand, den Chedive zum
Aufgeben der abgelegenen und gegenwärtig kostspieligen Provinz zu nötigen,
vom rein englischen Standpunkte sehr wohl. Will England Ägypten nehmen,
so kann es ihm ohne den Sudan angenehmer erscheinen. Zwischen dem eigent¬
lichen Ägypten und dem Sudan erstreckt sich eine Wüste, welche das von Trans¬
portmitteln entblößte Heer des Mahdi nicht rasch durchschreiten kann, und die
englischen Minister glauben ohne Zweifel, daß ein fünfzig Meilen breiter Sand¬
streifen einen guten Sanitätskordon abgeben wird, wenn es gilt, die Ansteckung
der religiösen Schwärmerei aufzuhalten. Vom internationalen Standpunkte
aus betrachtet, sieht die Sache aber doch etwas anders aus. Die französischen


Die ZVostmächto und die Ägyptische Krisis.

Diese Rücksichten bewogen das Ministerium Scherif Pascha, lieber zurück¬
zutreten, als die Verantwortlichkeit für die Räumung des Sudan zu übernehmen.
Der Chedive konnte sagen, vermutlich hätte über kurz oder lang ein Zufall ihm
aus der Verlegenheit geholfen. Die mvrgenlündischen Regierungen huldigen
in ihren Noten immer dem Grundsätze: „Es wird sich schon ein Ausweg finden,
also warten wir." Und in der That konnte der Mahdi eines Tages in der
geheimnisvollen und plötzlichen Weise verschwinden, welche die persönliche Politik
des Orients charakterisirt. Er ist kein Volk und keine Negierung, sondern ein
einzelner Mann, der eine Idee vertritt, die mit seinem Tode untergehen könnte.
Es wäre möglich, daß er von einem Muslim, der nicht an seine Sendung
glaubte, getötet würde, ein Preis auf seinem Kopf gesetzt, könnte ihm einen
verräterischen Dolchstoß oder eine Tasse Kaffee zuziehen, die ihm nicht bekäme.
Alle diese Möglichkeiten konnten einem muhamedanischen Fürsten vor Augen
stehen, der mit einem religiösen Prätendenten zu thun hatte. Verwirklicht sich
keine davon, so muß England, das ihm den Säbel aus der Hand genommen
hat, für ihn eintreten: die Londoner Negierung ist mit andern Worten ver¬
pflichtet, dein Chedive, den sie durch ihren Befehl zum Aufgeben von drei
Vierteln seines Reiches gezwungen hat, den Besitz des letzten Viertels sicher¬
zustellen. Das Gegenteil hiervon, ein ungeschütztes und unkontrolirtes Ägypten,
wäre eine unerhörte und durch nichts zu verteidigende Thatsache.

Erfüllt also England nur seine Pflicht, wenn es Ägypten aus der schweren
Verlegenheit heraushilft, in die es Arabi, die britische Einmischung und Tel
El Kabir, der Mahdi und das Verbot, ihn im Sudan weiter zu bekämpfen,
gebracht haben, so wird das politische Chaos, das jetzt dort herrscht, wenigstens
eine gute Folge haben. Das eigentliche Ägypten wird in kurzer Zeit von der
Unterdrückung, die seit unvordenklichen Zeiten auf seiner Bevölkerung lastet,
befreit werden, wenn England dort gebietet. Mittlerweile ist die Entfernung
aller Behörden aus dem Sudan eine sehr ernste Sache. Chartum, das auf¬
gegeben werden soll, ist ein wichtiger Punkt für den Handel, dessen Einfuhr
und Ausfuhr fortwährend gewachsen ist. Gäbe es zwischen Suakin und Berber
eine Eisenbahn, so hätte es selbst ein ägyptisches Heer leicht halten können.
Natürlich begreift sich die Versuchung, die Gladstone empfand, den Chedive zum
Aufgeben der abgelegenen und gegenwärtig kostspieligen Provinz zu nötigen,
vom rein englischen Standpunkte sehr wohl. Will England Ägypten nehmen,
so kann es ihm ohne den Sudan angenehmer erscheinen. Zwischen dem eigent¬
lichen Ägypten und dem Sudan erstreckt sich eine Wüste, welche das von Trans¬
portmitteln entblößte Heer des Mahdi nicht rasch durchschreiten kann, und die
englischen Minister glauben ohne Zweifel, daß ein fünfzig Meilen breiter Sand¬
streifen einen guten Sanitätskordon abgeben wird, wenn es gilt, die Ansteckung
der religiösen Schwärmerei aufzuhalten. Vom internationalen Standpunkte
aus betrachtet, sieht die Sache aber doch etwas anders aus. Die französischen


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[0209] Die ZVostmächto und die Ägyptische Krisis. Diese Rücksichten bewogen das Ministerium Scherif Pascha, lieber zurück¬ zutreten, als die Verantwortlichkeit für die Räumung des Sudan zu übernehmen. Der Chedive konnte sagen, vermutlich hätte über kurz oder lang ein Zufall ihm aus der Verlegenheit geholfen. Die mvrgenlündischen Regierungen huldigen in ihren Noten immer dem Grundsätze: „Es wird sich schon ein Ausweg finden, also warten wir." Und in der That konnte der Mahdi eines Tages in der geheimnisvollen und plötzlichen Weise verschwinden, welche die persönliche Politik des Orients charakterisirt. Er ist kein Volk und keine Negierung, sondern ein einzelner Mann, der eine Idee vertritt, die mit seinem Tode untergehen könnte. Es wäre möglich, daß er von einem Muslim, der nicht an seine Sendung glaubte, getötet würde, ein Preis auf seinem Kopf gesetzt, könnte ihm einen verräterischen Dolchstoß oder eine Tasse Kaffee zuziehen, die ihm nicht bekäme. Alle diese Möglichkeiten konnten einem muhamedanischen Fürsten vor Augen stehen, der mit einem religiösen Prätendenten zu thun hatte. Verwirklicht sich keine davon, so muß England, das ihm den Säbel aus der Hand genommen hat, für ihn eintreten: die Londoner Negierung ist mit andern Worten ver¬ pflichtet, dein Chedive, den sie durch ihren Befehl zum Aufgeben von drei Vierteln seines Reiches gezwungen hat, den Besitz des letzten Viertels sicher¬ zustellen. Das Gegenteil hiervon, ein ungeschütztes und unkontrolirtes Ägypten, wäre eine unerhörte und durch nichts zu verteidigende Thatsache. Erfüllt also England nur seine Pflicht, wenn es Ägypten aus der schweren Verlegenheit heraushilft, in die es Arabi, die britische Einmischung und Tel El Kabir, der Mahdi und das Verbot, ihn im Sudan weiter zu bekämpfen, gebracht haben, so wird das politische Chaos, das jetzt dort herrscht, wenigstens eine gute Folge haben. Das eigentliche Ägypten wird in kurzer Zeit von der Unterdrückung, die seit unvordenklichen Zeiten auf seiner Bevölkerung lastet, befreit werden, wenn England dort gebietet. Mittlerweile ist die Entfernung aller Behörden aus dem Sudan eine sehr ernste Sache. Chartum, das auf¬ gegeben werden soll, ist ein wichtiger Punkt für den Handel, dessen Einfuhr und Ausfuhr fortwährend gewachsen ist. Gäbe es zwischen Suakin und Berber eine Eisenbahn, so hätte es selbst ein ägyptisches Heer leicht halten können. Natürlich begreift sich die Versuchung, die Gladstone empfand, den Chedive zum Aufgeben der abgelegenen und gegenwärtig kostspieligen Provinz zu nötigen, vom rein englischen Standpunkte sehr wohl. Will England Ägypten nehmen, so kann es ihm ohne den Sudan angenehmer erscheinen. Zwischen dem eigent¬ lichen Ägypten und dem Sudan erstreckt sich eine Wüste, welche das von Trans¬ portmitteln entblößte Heer des Mahdi nicht rasch durchschreiten kann, und die englischen Minister glauben ohne Zweifel, daß ein fünfzig Meilen breiter Sand¬ streifen einen guten Sanitätskordon abgeben wird, wenn es gilt, die Ansteckung der religiösen Schwärmerei aufzuhalten. Vom internationalen Standpunkte aus betrachtet, sieht die Sache aber doch etwas anders aus. Die französischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/209>, abgerufen am 24.08.2024.