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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Unser Wuchergesetz.

es müssen konkret die Leistungen nach den gegenseitigen Verhältnissen abgewogen,
namentlich auch das von dem Gläubiger übernommene Risiko in Betracht ge¬
zogen werden. Ein solches Risiko wird in sehr vielen Fällen vorhanden sein,
denn erfahrungsmäßig spielt der Wucher seine Hauptrolle bei den kleinen Leuten,
die ihren Personalkredit in übertriebener Weise anstrengen, oder deren über¬
schuldetes Besitztum den Realkredit zu einem leeren Schein herabdrückt.

Unter diesen Gesichtspunkten erscheinen die statistischen Zahlen, wie sie
eingangs erwähnt worden sind, freilich in einem andern Lichte, als in der trüben
Dämmerung der Etatsdebatte im Abgeordnetenhause. Diese Zahlen beweisen zu
voller Überzeugung, daß das Gesetz vom 24, Mai 1880 den Wucher nicht unter¬
drückt hat und auch garnicht geeignet ist, ihn zu unterdrücken. Es ist bekannt, daß
dieses Gesetz ein Kompromiß der Parteien darstellt; als es aus der Initiative des
Reichstages nach schweren Kämpfen hervorgegangen war, vermochte die Reichs¬
regierung bei der Aussichtslosigkeit des Erfolges nicht erst andre Mittel in
Vorschlag zu bringen. Es hat freilich nicht an Stimmen gefehlt, welche die
Mißerfolge des Gesetzes vorhergesagt haben. Der damalige Reichstagsabgeordnete
Graf Wilhelm von Bismarck bekämpfte das Gesetz mit aller Entschiedenheit und
beantragte die Fixirung eiues Zinsmaximums, dessen Überschreitung unter allen
Umstände" als Wucher bestraft werden sollte. Sein Antrag fand keinen An¬
klang, aber sieht sich jetzt vollkommen gerechtfertigt. Es muß heute nach diesen
Erfahrungen ernstlich gefragt werden, ob ein so unvollkommenes Gesetz noch
länger bestehen soll, ob noch länger dem Volke, das nach Brot verlangt, statt
dessen Steine oder schöne Reden seiner Abgeordneten gewährt werden dürfen.
Eine wirksame Begrenzung des Wuchers wird sich in der That nur durch Be-
stimmung eines Zinsmaximums erreichen lassen. Kaufleuten gegenüber mag man
eine volle Zinsfreiheit hinstellen und nur die im Art. 10 des Handelsgesetzbuches
genannten kleinen Geschäftsleute und Handwerker ausnehmen. Für alle übrigen
Fälle mag das Gesetz oder der Bundesrat mit nachträglicher Genehmigung des
Reichstags dieses Zinsmaximum bestimmen, das sich freilich bei unsern jetzigen
Verhältnissen nicht auf die landesüblichen Zinsen belaufen darf, sondern dieselben
wenigstens um das Doppelte überschreiten muß. Nur dann wird man hoffen
können, des Wuchers Herr zu werden, dieser schmarotzenden Giftpflanze, welche
an dem Marke unsres Volkes zehrt, ganze Geschlechter vernichtet und den innern
Frieden raubt. Auf dieses Ziel sollten aller Bestrebungen gerichtet sein; sie
würden fruchtbringender sein als alle Debatten mit den gegenseitigen Vorwürfen
und Beschwerden.




Grenzboten I- 1884.9
Unser Wuchergesetz.

es müssen konkret die Leistungen nach den gegenseitigen Verhältnissen abgewogen,
namentlich auch das von dem Gläubiger übernommene Risiko in Betracht ge¬
zogen werden. Ein solches Risiko wird in sehr vielen Fällen vorhanden sein,
denn erfahrungsmäßig spielt der Wucher seine Hauptrolle bei den kleinen Leuten,
die ihren Personalkredit in übertriebener Weise anstrengen, oder deren über¬
schuldetes Besitztum den Realkredit zu einem leeren Schein herabdrückt.

Unter diesen Gesichtspunkten erscheinen die statistischen Zahlen, wie sie
eingangs erwähnt worden sind, freilich in einem andern Lichte, als in der trüben
Dämmerung der Etatsdebatte im Abgeordnetenhause. Diese Zahlen beweisen zu
voller Überzeugung, daß das Gesetz vom 24, Mai 1880 den Wucher nicht unter¬
drückt hat und auch garnicht geeignet ist, ihn zu unterdrücken. Es ist bekannt, daß
dieses Gesetz ein Kompromiß der Parteien darstellt; als es aus der Initiative des
Reichstages nach schweren Kämpfen hervorgegangen war, vermochte die Reichs¬
regierung bei der Aussichtslosigkeit des Erfolges nicht erst andre Mittel in
Vorschlag zu bringen. Es hat freilich nicht an Stimmen gefehlt, welche die
Mißerfolge des Gesetzes vorhergesagt haben. Der damalige Reichstagsabgeordnete
Graf Wilhelm von Bismarck bekämpfte das Gesetz mit aller Entschiedenheit und
beantragte die Fixirung eiues Zinsmaximums, dessen Überschreitung unter allen
Umstände» als Wucher bestraft werden sollte. Sein Antrag fand keinen An¬
klang, aber sieht sich jetzt vollkommen gerechtfertigt. Es muß heute nach diesen
Erfahrungen ernstlich gefragt werden, ob ein so unvollkommenes Gesetz noch
länger bestehen soll, ob noch länger dem Volke, das nach Brot verlangt, statt
dessen Steine oder schöne Reden seiner Abgeordneten gewährt werden dürfen.
Eine wirksame Begrenzung des Wuchers wird sich in der That nur durch Be-
stimmung eines Zinsmaximums erreichen lassen. Kaufleuten gegenüber mag man
eine volle Zinsfreiheit hinstellen und nur die im Art. 10 des Handelsgesetzbuches
genannten kleinen Geschäftsleute und Handwerker ausnehmen. Für alle übrigen
Fälle mag das Gesetz oder der Bundesrat mit nachträglicher Genehmigung des
Reichstags dieses Zinsmaximum bestimmen, das sich freilich bei unsern jetzigen
Verhältnissen nicht auf die landesüblichen Zinsen belaufen darf, sondern dieselben
wenigstens um das Doppelte überschreiten muß. Nur dann wird man hoffen
können, des Wuchers Herr zu werden, dieser schmarotzenden Giftpflanze, welche
an dem Marke unsres Volkes zehrt, ganze Geschlechter vernichtet und den innern
Frieden raubt. Auf dieses Ziel sollten aller Bestrebungen gerichtet sein; sie
würden fruchtbringender sein als alle Debatten mit den gegenseitigen Vorwürfen
und Beschwerden.




Grenzboten I- 1884.9
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[0019] Unser Wuchergesetz. es müssen konkret die Leistungen nach den gegenseitigen Verhältnissen abgewogen, namentlich auch das von dem Gläubiger übernommene Risiko in Betracht ge¬ zogen werden. Ein solches Risiko wird in sehr vielen Fällen vorhanden sein, denn erfahrungsmäßig spielt der Wucher seine Hauptrolle bei den kleinen Leuten, die ihren Personalkredit in übertriebener Weise anstrengen, oder deren über¬ schuldetes Besitztum den Realkredit zu einem leeren Schein herabdrückt. Unter diesen Gesichtspunkten erscheinen die statistischen Zahlen, wie sie eingangs erwähnt worden sind, freilich in einem andern Lichte, als in der trüben Dämmerung der Etatsdebatte im Abgeordnetenhause. Diese Zahlen beweisen zu voller Überzeugung, daß das Gesetz vom 24, Mai 1880 den Wucher nicht unter¬ drückt hat und auch garnicht geeignet ist, ihn zu unterdrücken. Es ist bekannt, daß dieses Gesetz ein Kompromiß der Parteien darstellt; als es aus der Initiative des Reichstages nach schweren Kämpfen hervorgegangen war, vermochte die Reichs¬ regierung bei der Aussichtslosigkeit des Erfolges nicht erst andre Mittel in Vorschlag zu bringen. Es hat freilich nicht an Stimmen gefehlt, welche die Mißerfolge des Gesetzes vorhergesagt haben. Der damalige Reichstagsabgeordnete Graf Wilhelm von Bismarck bekämpfte das Gesetz mit aller Entschiedenheit und beantragte die Fixirung eiues Zinsmaximums, dessen Überschreitung unter allen Umstände» als Wucher bestraft werden sollte. Sein Antrag fand keinen An¬ klang, aber sieht sich jetzt vollkommen gerechtfertigt. Es muß heute nach diesen Erfahrungen ernstlich gefragt werden, ob ein so unvollkommenes Gesetz noch länger bestehen soll, ob noch länger dem Volke, das nach Brot verlangt, statt dessen Steine oder schöne Reden seiner Abgeordneten gewährt werden dürfen. Eine wirksame Begrenzung des Wuchers wird sich in der That nur durch Be- stimmung eines Zinsmaximums erreichen lassen. Kaufleuten gegenüber mag man eine volle Zinsfreiheit hinstellen und nur die im Art. 10 des Handelsgesetzbuches genannten kleinen Geschäftsleute und Handwerker ausnehmen. Für alle übrigen Fälle mag das Gesetz oder der Bundesrat mit nachträglicher Genehmigung des Reichstags dieses Zinsmaximum bestimmen, das sich freilich bei unsern jetzigen Verhältnissen nicht auf die landesüblichen Zinsen belaufen darf, sondern dieselben wenigstens um das Doppelte überschreiten muß. Nur dann wird man hoffen können, des Wuchers Herr zu werden, dieser schmarotzenden Giftpflanze, welche an dem Marke unsres Volkes zehrt, ganze Geschlechter vernichtet und den innern Frieden raubt. Auf dieses Ziel sollten aller Bestrebungen gerichtet sein; sie würden fruchtbringender sein als alle Debatten mit den gegenseitigen Vorwürfen und Beschwerden. Grenzboten I- 1884.9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/19>, abgerufen am 28.06.2024.