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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Ans dem neuen Griechenland.

Freiheitsbaum mit so viel heiligem Blute begossen worden wie bei der Erhebung
Griechenlands. Als er aber nach langjährigen Kämpfen, welche die gänzliche
Verwüstung des Landes zur Folge hatten, nach allerlei Qualen und Greuel¬
thaten der Türken, die das Mitleid der ganzen christlichen Welt erregten, in
dem neugegründeten griechischen Königreiche endlich zu grünen begann, ward
letzteres leider nur sehr eng begrenzt, sodaß viele von den mit in den Kampf
gezogenen Söhnen von Hellas noch heute unter dem frühern Joche schmachten
müssen.

Die Frage, ob und inwieweit der junge Staat der Unterstützung und den
Gunstbezeugungen, welche ihm von allen Seiten zur Zeit seines Befreiungs¬
kampfes zuteil geworden siud, entsprochen hat, und ob er die Erwartungen
derer, welche a" seine große Zukunft im Oriente glauben, überhaupt zu erfüllen
geeignet ist, liegt sehr nahe.

Ein großer Teil der Gelehrten, welche über das neue Griechenland geschrieben
haben, haben dem jungen Staate, nachdem sie mit Bewunderung das Wieder¬
aufleben des neuen Griechenlands verfolgt hatten, rückhaltlos ihr Lob gespendet,
da es ihm gelungen sei in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraume selbst die
höchsten Erwartungen, die größten Hoffnungen zu erfüllen. Es gab aber andre,
welche von einem allzu großen Eifer und einer unbeschränkten Verehrung für
das Altertum getrieben, in dem seit kaum fünfzig Jahren bestehenden freien
Griechenland das Zeitalter des Perikles und Alexanders des Großen wieder¬
finden zu müssen glaubten, und infolge dessen nicht gezögert haben, alles, was
von den Griechen unsers Jahrhunderts geleistet wurde, streng zu tadeln und
zu verurteile".

Wir wollen im folgenden uns von jeder Übertreibung fernzuhalten
suchen, uns nach Kräften befleißigen, der Wahrheit zu dienen, um so genau als
möglich die sozialen Verhältnisse eines Landes zu schildern, welches seiner Lage,
seines Strebens und seiner Zukunft wegen fort und fort die Aufmerksamkeit der
zivilisirten Welt auf sich zieht, da es in der herannahenden' Lösung der orien¬
talischen Frage eine der bedeutendsten Rollen zu spielen berufen sein wird.

Das neue Hellas ist mit der zwar ruhmvollen, aber auch gefährlichen Erbschaft
einer großen Vergangenheit entstanden, welche einen jungen, kleinen Staat, der
eben erst von einem langjährigen drückenden Joche befreit ist, leicht niederschmettern
könnte. Statt dessen sieht man nach Ablauf von kaum fünfzig Jahren seit
seiner Entstehung an Stelle von Schutt und Trümmern wachsende und blühende
Städte sich erheben. Als die Hauptstadt des hellenischen Reiches von Nauplia
nach Athen verlegt ward, zählte die letztgenannte Stadt nicht mehr als drei¬
hundert erbärmliche Hütten, während jetzt Athen als die erste kosmopolitische
Stadt im Orient betrachtet werden kann, hervorragend durch seine geschmackvollen
und prächtigen Gebäude, seine schönen breiten Straßen, und seine Einwohnerzahl
(beinahe 80 000). Mit Recht darf Athen auch als die schönste Stadt des


Ans dem neuen Griechenland.

Freiheitsbaum mit so viel heiligem Blute begossen worden wie bei der Erhebung
Griechenlands. Als er aber nach langjährigen Kämpfen, welche die gänzliche
Verwüstung des Landes zur Folge hatten, nach allerlei Qualen und Greuel¬
thaten der Türken, die das Mitleid der ganzen christlichen Welt erregten, in
dem neugegründeten griechischen Königreiche endlich zu grünen begann, ward
letzteres leider nur sehr eng begrenzt, sodaß viele von den mit in den Kampf
gezogenen Söhnen von Hellas noch heute unter dem frühern Joche schmachten
müssen.

Die Frage, ob und inwieweit der junge Staat der Unterstützung und den
Gunstbezeugungen, welche ihm von allen Seiten zur Zeit seines Befreiungs¬
kampfes zuteil geworden siud, entsprochen hat, und ob er die Erwartungen
derer, welche a» seine große Zukunft im Oriente glauben, überhaupt zu erfüllen
geeignet ist, liegt sehr nahe.

Ein großer Teil der Gelehrten, welche über das neue Griechenland geschrieben
haben, haben dem jungen Staate, nachdem sie mit Bewunderung das Wieder¬
aufleben des neuen Griechenlands verfolgt hatten, rückhaltlos ihr Lob gespendet,
da es ihm gelungen sei in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraume selbst die
höchsten Erwartungen, die größten Hoffnungen zu erfüllen. Es gab aber andre,
welche von einem allzu großen Eifer und einer unbeschränkten Verehrung für
das Altertum getrieben, in dem seit kaum fünfzig Jahren bestehenden freien
Griechenland das Zeitalter des Perikles und Alexanders des Großen wieder¬
finden zu müssen glaubten, und infolge dessen nicht gezögert haben, alles, was
von den Griechen unsers Jahrhunderts geleistet wurde, streng zu tadeln und
zu verurteile».

Wir wollen im folgenden uns von jeder Übertreibung fernzuhalten
suchen, uns nach Kräften befleißigen, der Wahrheit zu dienen, um so genau als
möglich die sozialen Verhältnisse eines Landes zu schildern, welches seiner Lage,
seines Strebens und seiner Zukunft wegen fort und fort die Aufmerksamkeit der
zivilisirten Welt auf sich zieht, da es in der herannahenden' Lösung der orien¬
talischen Frage eine der bedeutendsten Rollen zu spielen berufen sein wird.

Das neue Hellas ist mit der zwar ruhmvollen, aber auch gefährlichen Erbschaft
einer großen Vergangenheit entstanden, welche einen jungen, kleinen Staat, der
eben erst von einem langjährigen drückenden Joche befreit ist, leicht niederschmettern
könnte. Statt dessen sieht man nach Ablauf von kaum fünfzig Jahren seit
seiner Entstehung an Stelle von Schutt und Trümmern wachsende und blühende
Städte sich erheben. Als die Hauptstadt des hellenischen Reiches von Nauplia
nach Athen verlegt ward, zählte die letztgenannte Stadt nicht mehr als drei¬
hundert erbärmliche Hütten, während jetzt Athen als die erste kosmopolitische
Stadt im Orient betrachtet werden kann, hervorragend durch seine geschmackvollen
und prächtigen Gebäude, seine schönen breiten Straßen, und seine Einwohnerzahl
(beinahe 80 000). Mit Recht darf Athen auch als die schönste Stadt des


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[0188] Ans dem neuen Griechenland. Freiheitsbaum mit so viel heiligem Blute begossen worden wie bei der Erhebung Griechenlands. Als er aber nach langjährigen Kämpfen, welche die gänzliche Verwüstung des Landes zur Folge hatten, nach allerlei Qualen und Greuel¬ thaten der Türken, die das Mitleid der ganzen christlichen Welt erregten, in dem neugegründeten griechischen Königreiche endlich zu grünen begann, ward letzteres leider nur sehr eng begrenzt, sodaß viele von den mit in den Kampf gezogenen Söhnen von Hellas noch heute unter dem frühern Joche schmachten müssen. Die Frage, ob und inwieweit der junge Staat der Unterstützung und den Gunstbezeugungen, welche ihm von allen Seiten zur Zeit seines Befreiungs¬ kampfes zuteil geworden siud, entsprochen hat, und ob er die Erwartungen derer, welche a» seine große Zukunft im Oriente glauben, überhaupt zu erfüllen geeignet ist, liegt sehr nahe. Ein großer Teil der Gelehrten, welche über das neue Griechenland geschrieben haben, haben dem jungen Staate, nachdem sie mit Bewunderung das Wieder¬ aufleben des neuen Griechenlands verfolgt hatten, rückhaltlos ihr Lob gespendet, da es ihm gelungen sei in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraume selbst die höchsten Erwartungen, die größten Hoffnungen zu erfüllen. Es gab aber andre, welche von einem allzu großen Eifer und einer unbeschränkten Verehrung für das Altertum getrieben, in dem seit kaum fünfzig Jahren bestehenden freien Griechenland das Zeitalter des Perikles und Alexanders des Großen wieder¬ finden zu müssen glaubten, und infolge dessen nicht gezögert haben, alles, was von den Griechen unsers Jahrhunderts geleistet wurde, streng zu tadeln und zu verurteile». Wir wollen im folgenden uns von jeder Übertreibung fernzuhalten suchen, uns nach Kräften befleißigen, der Wahrheit zu dienen, um so genau als möglich die sozialen Verhältnisse eines Landes zu schildern, welches seiner Lage, seines Strebens und seiner Zukunft wegen fort und fort die Aufmerksamkeit der zivilisirten Welt auf sich zieht, da es in der herannahenden' Lösung der orien¬ talischen Frage eine der bedeutendsten Rollen zu spielen berufen sein wird. Das neue Hellas ist mit der zwar ruhmvollen, aber auch gefährlichen Erbschaft einer großen Vergangenheit entstanden, welche einen jungen, kleinen Staat, der eben erst von einem langjährigen drückenden Joche befreit ist, leicht niederschmettern könnte. Statt dessen sieht man nach Ablauf von kaum fünfzig Jahren seit seiner Entstehung an Stelle von Schutt und Trümmern wachsende und blühende Städte sich erheben. Als die Hauptstadt des hellenischen Reiches von Nauplia nach Athen verlegt ward, zählte die letztgenannte Stadt nicht mehr als drei¬ hundert erbärmliche Hütten, während jetzt Athen als die erste kosmopolitische Stadt im Orient betrachtet werden kann, hervorragend durch seine geschmackvollen und prächtigen Gebäude, seine schönen breiten Straßen, und seine Einwohnerzahl (beinahe 80 000). Mit Recht darf Athen auch als die schönste Stadt des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/188>, abgerufen am 23.07.2024.