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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Der neue Unfallversicherungsentwurf.

entgegen, indem sie wieder das alte Lied von der "Erweiterung des Haftpflicht¬
gesetzes" anstimme und die Erhaltung der Privatgesellschaften als das "einfache
und bewährte Mittel," allen Schwierigkeiten der Organisation zu entgehen,
anpreist. Die Beharrlichkeit, mit welcher die Regierung an der Ausschließung
der privaten Versicherung festhalte, soll sich nnr aus der beabsichtigten "Ver¬
staatlichung alles Versicherungswesens" erklären lassen. Ach nein! so liegt die
Sache doch nicht. Unsrer Überzeugung nach kann die Regierung eine In¬
stitution, a" welche sie einen Zwang zur Versicherung knüpft, nicht auf eine
so unsichere Grundlage bauen, wie die privaten Versicherungsgesellschaften unter
allen Umstünden sein würden. Wer kann eine Garantie dafür leisten, daß jede
dieser Gesellschaften die von ihr auf eine weitere Zukunft hinaus übernommenen
Verbindlichkeiten andauernd werde erfüllen können? Man spricht von sichernden
"Normativbestimmungen." Daß diese aber nicht in zureichender Weise geschaffen
werden können, dafür liegt der Beweis bereits vor. In dein von den liberalen
Parteien mit Aufwendung ihrer besten Kräfte ausgearbeiteten, zu Anfang des
Jahres 1882 eingebrachten Gesetzentwürfe waren solche Nvrmativbcstimmungen
versucht worden. Es lag aber auf der Hand, daß sie unzureichend waren.
Das erkannte der Entwurf selbst an, indem er vorschrieb, ein künftiges Reichs¬
gesetz solle erst die rechten Normativbcstimmuugen schaffen. In diesem auf die
Zukunft gezogenen Wechsel lag das Geständnis der eignen Unfähigkeit. Diese
durch die Thatsachen bewiesene Unmöglichkeit, die Privatgesellschaften zu ge¬
sicherten Anstalten zu machen, bildet ohne Zweifel den erste" und gewichtigsten
Grund für jene Beharrlichkeit der Regierung. Fragen wir aber nach dem
Grunde der Beharrlichkeit, mit welcher man von andrer Seite für die Auf¬
rechthaltung der Privatgesellschaften kämpft, so sind es die egoistischen Interessen
einer kleinen, aber immerhin einflußreichen Anzahl von Personen ini deutschen
Reiche. Es sind die Interesse" aller derer, welche aus dem Bestände jener
Gesellschaften Vorteile ziehen. Diesen Vorteilen entsprechen ebensoviel Opfer,
welche die Industrie bringen muß. Und wenn die Absicht, die Industrie diesen
Opfern zu entziehen, einen weiteren Grund für die Reichsregierung abgeben
sollte, mit den bestehenden Zuständen zu brechen, so würde sicherlich auch dagegen
nichts zu sagen sein. Da man nun aber mit jenen Interessen selbst nicht offen
hervortreten kann, so sucht man Steine aller Art auf, um sie den Regiernngs-
vvrschlägen, wie sie auch gestaltet sei" mögen, in den Weg zu legen. Man
sucht die jetzt noch fraglichen Unfälle, weil sie nach Abzug der geringeren,
unter das Krankenkassengesetz fallenden nur noch etwa fünf Prozent aller Fülle
begreifen, als eine Bagatelle hinzustellen, für welche es sich nicht lohne, eine
neue Organisation zu schaffen, während doch gerade diese schwereren Unfälle es
sind, welche mit erdrückender Last auf dem Arbeiterstande und der Industrie
haften. Man bauscht den Grundsatz von der Unzulässigkeit eines Wirtschafts¬
betriebes des Staates künstlich auf; ein Grundsatz, der in gewissem Sinne ja


Der neue Unfallversicherungsentwurf.

entgegen, indem sie wieder das alte Lied von der „Erweiterung des Haftpflicht¬
gesetzes" anstimme und die Erhaltung der Privatgesellschaften als das „einfache
und bewährte Mittel," allen Schwierigkeiten der Organisation zu entgehen,
anpreist. Die Beharrlichkeit, mit welcher die Regierung an der Ausschließung
der privaten Versicherung festhalte, soll sich nnr aus der beabsichtigten „Ver¬
staatlichung alles Versicherungswesens" erklären lassen. Ach nein! so liegt die
Sache doch nicht. Unsrer Überzeugung nach kann die Regierung eine In¬
stitution, a» welche sie einen Zwang zur Versicherung knüpft, nicht auf eine
so unsichere Grundlage bauen, wie die privaten Versicherungsgesellschaften unter
allen Umstünden sein würden. Wer kann eine Garantie dafür leisten, daß jede
dieser Gesellschaften die von ihr auf eine weitere Zukunft hinaus übernommenen
Verbindlichkeiten andauernd werde erfüllen können? Man spricht von sichernden
„Normativbestimmungen." Daß diese aber nicht in zureichender Weise geschaffen
werden können, dafür liegt der Beweis bereits vor. In dein von den liberalen
Parteien mit Aufwendung ihrer besten Kräfte ausgearbeiteten, zu Anfang des
Jahres 1882 eingebrachten Gesetzentwürfe waren solche Nvrmativbcstimmungen
versucht worden. Es lag aber auf der Hand, daß sie unzureichend waren.
Das erkannte der Entwurf selbst an, indem er vorschrieb, ein künftiges Reichs¬
gesetz solle erst die rechten Normativbcstimmuugen schaffen. In diesem auf die
Zukunft gezogenen Wechsel lag das Geständnis der eignen Unfähigkeit. Diese
durch die Thatsachen bewiesene Unmöglichkeit, die Privatgesellschaften zu ge¬
sicherten Anstalten zu machen, bildet ohne Zweifel den erste» und gewichtigsten
Grund für jene Beharrlichkeit der Regierung. Fragen wir aber nach dem
Grunde der Beharrlichkeit, mit welcher man von andrer Seite für die Auf¬
rechthaltung der Privatgesellschaften kämpft, so sind es die egoistischen Interessen
einer kleinen, aber immerhin einflußreichen Anzahl von Personen ini deutschen
Reiche. Es sind die Interesse» aller derer, welche aus dem Bestände jener
Gesellschaften Vorteile ziehen. Diesen Vorteilen entsprechen ebensoviel Opfer,
welche die Industrie bringen muß. Und wenn die Absicht, die Industrie diesen
Opfern zu entziehen, einen weiteren Grund für die Reichsregierung abgeben
sollte, mit den bestehenden Zuständen zu brechen, so würde sicherlich auch dagegen
nichts zu sagen sein. Da man nun aber mit jenen Interessen selbst nicht offen
hervortreten kann, so sucht man Steine aller Art auf, um sie den Regiernngs-
vvrschlägen, wie sie auch gestaltet sei» mögen, in den Weg zu legen. Man
sucht die jetzt noch fraglichen Unfälle, weil sie nach Abzug der geringeren,
unter das Krankenkassengesetz fallenden nur noch etwa fünf Prozent aller Fülle
begreifen, als eine Bagatelle hinzustellen, für welche es sich nicht lohne, eine
neue Organisation zu schaffen, während doch gerade diese schwereren Unfälle es
sind, welche mit erdrückender Last auf dem Arbeiterstande und der Industrie
haften. Man bauscht den Grundsatz von der Unzulässigkeit eines Wirtschafts¬
betriebes des Staates künstlich auf; ein Grundsatz, der in gewissem Sinne ja


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[0172] Der neue Unfallversicherungsentwurf. entgegen, indem sie wieder das alte Lied von der „Erweiterung des Haftpflicht¬ gesetzes" anstimme und die Erhaltung der Privatgesellschaften als das „einfache und bewährte Mittel," allen Schwierigkeiten der Organisation zu entgehen, anpreist. Die Beharrlichkeit, mit welcher die Regierung an der Ausschließung der privaten Versicherung festhalte, soll sich nnr aus der beabsichtigten „Ver¬ staatlichung alles Versicherungswesens" erklären lassen. Ach nein! so liegt die Sache doch nicht. Unsrer Überzeugung nach kann die Regierung eine In¬ stitution, a» welche sie einen Zwang zur Versicherung knüpft, nicht auf eine so unsichere Grundlage bauen, wie die privaten Versicherungsgesellschaften unter allen Umstünden sein würden. Wer kann eine Garantie dafür leisten, daß jede dieser Gesellschaften die von ihr auf eine weitere Zukunft hinaus übernommenen Verbindlichkeiten andauernd werde erfüllen können? Man spricht von sichernden „Normativbestimmungen." Daß diese aber nicht in zureichender Weise geschaffen werden können, dafür liegt der Beweis bereits vor. In dein von den liberalen Parteien mit Aufwendung ihrer besten Kräfte ausgearbeiteten, zu Anfang des Jahres 1882 eingebrachten Gesetzentwürfe waren solche Nvrmativbcstimmungen versucht worden. Es lag aber auf der Hand, daß sie unzureichend waren. Das erkannte der Entwurf selbst an, indem er vorschrieb, ein künftiges Reichs¬ gesetz solle erst die rechten Normativbcstimmuugen schaffen. In diesem auf die Zukunft gezogenen Wechsel lag das Geständnis der eignen Unfähigkeit. Diese durch die Thatsachen bewiesene Unmöglichkeit, die Privatgesellschaften zu ge¬ sicherten Anstalten zu machen, bildet ohne Zweifel den erste» und gewichtigsten Grund für jene Beharrlichkeit der Regierung. Fragen wir aber nach dem Grunde der Beharrlichkeit, mit welcher man von andrer Seite für die Auf¬ rechthaltung der Privatgesellschaften kämpft, so sind es die egoistischen Interessen einer kleinen, aber immerhin einflußreichen Anzahl von Personen ini deutschen Reiche. Es sind die Interesse» aller derer, welche aus dem Bestände jener Gesellschaften Vorteile ziehen. Diesen Vorteilen entsprechen ebensoviel Opfer, welche die Industrie bringen muß. Und wenn die Absicht, die Industrie diesen Opfern zu entziehen, einen weiteren Grund für die Reichsregierung abgeben sollte, mit den bestehenden Zuständen zu brechen, so würde sicherlich auch dagegen nichts zu sagen sein. Da man nun aber mit jenen Interessen selbst nicht offen hervortreten kann, so sucht man Steine aller Art auf, um sie den Regiernngs- vvrschlägen, wie sie auch gestaltet sei» mögen, in den Weg zu legen. Man sucht die jetzt noch fraglichen Unfälle, weil sie nach Abzug der geringeren, unter das Krankenkassengesetz fallenden nur noch etwa fünf Prozent aller Fülle begreifen, als eine Bagatelle hinzustellen, für welche es sich nicht lohne, eine neue Organisation zu schaffen, während doch gerade diese schwereren Unfälle es sind, welche mit erdrückender Last auf dem Arbeiterstande und der Industrie haften. Man bauscht den Grundsatz von der Unzulässigkeit eines Wirtschafts¬ betriebes des Staates künstlich auf; ein Grundsatz, der in gewissem Sinne ja

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/172>, abgerufen am 30.06.2024.