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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Unser U)"chergesetz>

Zustände Deutschlands, das ergeben die allgemeinen Klagen ehrenhafter Männer
aus allen Gebieten. Betrachtet man dagegen diese statistischen Zahlen, so werden
entweder alle jene Klagen und Berichte Lüge" gestraft, oder mau muß zu der
Erwägung gelangen, daß der gesetzliche Begriff des Wuchers ein sehr mangel
hafter ist, daß das Gesetz die Mehrzahl der Schuldigen nicht trifft, daß dem¬
nach eine Abhilfe nicht in den gegenseitigen Rckriminationen der Amel- und
Philosemiten, sondern in einer Abänderung der Gesetze gefunden werden muß.
Zu dieser Erwägung führt auch die große Zahl der Freigesprochenen. Während
bei den übrigen strafbaren Handlungen diese nur 16 Prozent beträgt, steigen beim
Wvcher die Freisprechungen in Preußen auf mehr als 57 Prozent, im ganzen
Reich auf mehr als 41 Prozent. Das sollten unsre Volksvertreter und alle
diejenigen bedenken, denen das Wohl der Bedrückten am Herzen liegt, und auf
diesem Gebiete sollten sich Christen und Juden vereinigen, letztere umsomehr, als
infolge einer jahrhundertelangen geschichtlichen Entwicklung die niederen Klassen
des Judentums in einer entschieden unverhältnismäßigen Zahl noch diesem
schmählichen Gewerbe obliegen, das umsoweniger abschreckend wirkt, als man die
reichgewordencn Wucherer sogar mit Adel, Orden und Titeln ausgezeichnet sieht.

In der That ist der Wucherbegriff, wie er durch das Reichsgcsetz vom
24. Mai 1880 festgestellt ist, geeignet, nur in den seltensten Fällen zur An¬
wendung zu gelangen, denn er ist so verklausulirt und die Voraussetzungen zu
einer Bestrafung sind so verwickelt, daß nur wenige Schuldige von der rächenden
Themis ergriffen werden können und die überwiegende Mehrzahl straflos bleibt
und dem Gesetz ein Schnippchen schlägt. Denn zur Strafbarkeit gehört nach
diesem Gesetze:

1. Die Ausbeutung der Notlage, des Leichtsinnes oder der Unerfahrenheit,
2. die Gewährung eines Darlehns oder die Stundung einer Geldfordcrnng,
Z. das auffüllige Mißverhältnis der Leistung des Schuldners zu der des
Gläubigers.

Schon ein Blick auf diese Erfordernisse genügt, um zu sehen, daß ein geriebener
Wucherer leicht die Maschen findet, um durchzuschlüpfen.

Bereits die Voraussetzungen unter Ur. 1 bereiten dem Richter Schwierig¬
keiten in einer Zeit, welche von der freien Selbstbestimmung des Menschen so
durchtränkt ist wie die unsrige, und auf welche die manchesterlichen Doktrinen noch
immer ihren verheerenden Einfluß üben. Von solchen Anschauungen vermag sich
der Richter nicht freizuhalten, und der Gesetzgeber, statt ihn zu unterstütze",
erschwert ihm sein Amt. In dreißig Fällen -- soweit sie zur Veröffentlichung
gelangt sind -- hat das Reichsgericht sich mit diesem neuen Wuchergesetz be¬
schäftigt, aber allen seinen Bemühungen ist es nicht gelungen, dem Gesetz ein
größeres Anwendungsgebiet zu verschaffen, denn für den Richter gilt der leidige
Satz: "imii lsx, shal lsx. Zur Ausbeutung gehört nach dieser Rechtsprechung
die bewußte Ausnutzung des Darlehnssnchenden zur Erlangung eines übermüßigen


Unser U)»chergesetz>

Zustände Deutschlands, das ergeben die allgemeinen Klagen ehrenhafter Männer
aus allen Gebieten. Betrachtet man dagegen diese statistischen Zahlen, so werden
entweder alle jene Klagen und Berichte Lüge» gestraft, oder mau muß zu der
Erwägung gelangen, daß der gesetzliche Begriff des Wuchers ein sehr mangel
hafter ist, daß das Gesetz die Mehrzahl der Schuldigen nicht trifft, daß dem¬
nach eine Abhilfe nicht in den gegenseitigen Rckriminationen der Amel- und
Philosemiten, sondern in einer Abänderung der Gesetze gefunden werden muß.
Zu dieser Erwägung führt auch die große Zahl der Freigesprochenen. Während
bei den übrigen strafbaren Handlungen diese nur 16 Prozent beträgt, steigen beim
Wvcher die Freisprechungen in Preußen auf mehr als 57 Prozent, im ganzen
Reich auf mehr als 41 Prozent. Das sollten unsre Volksvertreter und alle
diejenigen bedenken, denen das Wohl der Bedrückten am Herzen liegt, und auf
diesem Gebiete sollten sich Christen und Juden vereinigen, letztere umsomehr, als
infolge einer jahrhundertelangen geschichtlichen Entwicklung die niederen Klassen
des Judentums in einer entschieden unverhältnismäßigen Zahl noch diesem
schmählichen Gewerbe obliegen, das umsoweniger abschreckend wirkt, als man die
reichgewordencn Wucherer sogar mit Adel, Orden und Titeln ausgezeichnet sieht.

In der That ist der Wucherbegriff, wie er durch das Reichsgcsetz vom
24. Mai 1880 festgestellt ist, geeignet, nur in den seltensten Fällen zur An¬
wendung zu gelangen, denn er ist so verklausulirt und die Voraussetzungen zu
einer Bestrafung sind so verwickelt, daß nur wenige Schuldige von der rächenden
Themis ergriffen werden können und die überwiegende Mehrzahl straflos bleibt
und dem Gesetz ein Schnippchen schlägt. Denn zur Strafbarkeit gehört nach
diesem Gesetze:

1. Die Ausbeutung der Notlage, des Leichtsinnes oder der Unerfahrenheit,
2. die Gewährung eines Darlehns oder die Stundung einer Geldfordcrnng,
Z. das auffüllige Mißverhältnis der Leistung des Schuldners zu der des
Gläubigers.

Schon ein Blick auf diese Erfordernisse genügt, um zu sehen, daß ein geriebener
Wucherer leicht die Maschen findet, um durchzuschlüpfen.

Bereits die Voraussetzungen unter Ur. 1 bereiten dem Richter Schwierig¬
keiten in einer Zeit, welche von der freien Selbstbestimmung des Menschen so
durchtränkt ist wie die unsrige, und auf welche die manchesterlichen Doktrinen noch
immer ihren verheerenden Einfluß üben. Von solchen Anschauungen vermag sich
der Richter nicht freizuhalten, und der Gesetzgeber, statt ihn zu unterstütze»,
erschwert ihm sein Amt. In dreißig Fällen — soweit sie zur Veröffentlichung
gelangt sind — hat das Reichsgericht sich mit diesem neuen Wuchergesetz be¬
schäftigt, aber allen seinen Bemühungen ist es nicht gelungen, dem Gesetz ein
größeres Anwendungsgebiet zu verschaffen, denn für den Richter gilt der leidige
Satz: «imii lsx, shal lsx. Zur Ausbeutung gehört nach dieser Rechtsprechung
die bewußte Ausnutzung des Darlehnssnchenden zur Erlangung eines übermüßigen


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[0017] Unser U)»chergesetz> Zustände Deutschlands, das ergeben die allgemeinen Klagen ehrenhafter Männer aus allen Gebieten. Betrachtet man dagegen diese statistischen Zahlen, so werden entweder alle jene Klagen und Berichte Lüge» gestraft, oder mau muß zu der Erwägung gelangen, daß der gesetzliche Begriff des Wuchers ein sehr mangel hafter ist, daß das Gesetz die Mehrzahl der Schuldigen nicht trifft, daß dem¬ nach eine Abhilfe nicht in den gegenseitigen Rckriminationen der Amel- und Philosemiten, sondern in einer Abänderung der Gesetze gefunden werden muß. Zu dieser Erwägung führt auch die große Zahl der Freigesprochenen. Während bei den übrigen strafbaren Handlungen diese nur 16 Prozent beträgt, steigen beim Wvcher die Freisprechungen in Preußen auf mehr als 57 Prozent, im ganzen Reich auf mehr als 41 Prozent. Das sollten unsre Volksvertreter und alle diejenigen bedenken, denen das Wohl der Bedrückten am Herzen liegt, und auf diesem Gebiete sollten sich Christen und Juden vereinigen, letztere umsomehr, als infolge einer jahrhundertelangen geschichtlichen Entwicklung die niederen Klassen des Judentums in einer entschieden unverhältnismäßigen Zahl noch diesem schmählichen Gewerbe obliegen, das umsoweniger abschreckend wirkt, als man die reichgewordencn Wucherer sogar mit Adel, Orden und Titeln ausgezeichnet sieht. In der That ist der Wucherbegriff, wie er durch das Reichsgcsetz vom 24. Mai 1880 festgestellt ist, geeignet, nur in den seltensten Fällen zur An¬ wendung zu gelangen, denn er ist so verklausulirt und die Voraussetzungen zu einer Bestrafung sind so verwickelt, daß nur wenige Schuldige von der rächenden Themis ergriffen werden können und die überwiegende Mehrzahl straflos bleibt und dem Gesetz ein Schnippchen schlägt. Denn zur Strafbarkeit gehört nach diesem Gesetze: 1. Die Ausbeutung der Notlage, des Leichtsinnes oder der Unerfahrenheit, 2. die Gewährung eines Darlehns oder die Stundung einer Geldfordcrnng, Z. das auffüllige Mißverhältnis der Leistung des Schuldners zu der des Gläubigers. Schon ein Blick auf diese Erfordernisse genügt, um zu sehen, daß ein geriebener Wucherer leicht die Maschen findet, um durchzuschlüpfen. Bereits die Voraussetzungen unter Ur. 1 bereiten dem Richter Schwierig¬ keiten in einer Zeit, welche von der freien Selbstbestimmung des Menschen so durchtränkt ist wie die unsrige, und auf welche die manchesterlichen Doktrinen noch immer ihren verheerenden Einfluß üben. Von solchen Anschauungen vermag sich der Richter nicht freizuhalten, und der Gesetzgeber, statt ihn zu unterstütze», erschwert ihm sein Amt. In dreißig Fällen — soweit sie zur Veröffentlichung gelangt sind — hat das Reichsgericht sich mit diesem neuen Wuchergesetz be¬ schäftigt, aber allen seinen Bemühungen ist es nicht gelungen, dem Gesetz ein größeres Anwendungsgebiet zu verschaffen, denn für den Richter gilt der leidige Satz: «imii lsx, shal lsx. Zur Ausbeutung gehört nach dieser Rechtsprechung die bewußte Ausnutzung des Darlehnssnchenden zur Erlangung eines übermüßigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/17>, abgerufen am 02.07.2024.