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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Lin wort an die Presse.

würden auch die Türkei und Rußland sich bereits der Segnungen erfreuen,
welche unmittelbar mit der Proklamirung der Dogmen eintreten -- wie man sagt.

Inzwischen sind die Sätze in den beglückten Ländern auf den Prüfstein
der praktischen Erfahrung gebracht und, wie es scheint, nirgends ganz Probe-
haltig gefunden worden. Überall äußern sich kritische Stimmen. Ziemlich
schüchtern allerdings, denn so entschieden sonst das unbeschränkte Recht der Kritik
in Anspruch genommen und verteidigt wird: die Artikel des, um es mit einem
Worte zu bezeichnen, progressistischen Katechismus auf ihre Wahrheit prüfen zu
wollen, ist ein Verbreche" oder vielmehr das Verbrechen, der Inbegriff aller
Verworfenheit, und wird, solange Guillotine und Galeere noch nicht der Partei
zur Verfügung stehen, mit der äußersten Verachtung bestraft. Erst die aller-
jüngste Zeit hat wieder derartige Ausbrüche eines tobsüchtigen Fanatismus ge¬
bracht, daß man sich sagen muß, bei günstiger Gelegenheit würde auch Deutsch¬
land seine Kommunards und Septembriseurs stellen. Im Augenblicke freilich
machen solche Schreier sich ganz nützlich, weil ihre Übertreibungen so manchen,
der ihnen sonst willenlos folgte, zum Nachdenken und dadurch zur Einsicht
bringen, wo die eigentliche Tyrannei zu suchen sei. So dürfen wir hoffen, nach
und nach die dem heutigen Geschlecht anerzogene Scheu vor dem Gebrauche der
eignen Urteilskraft weichen zu sehen. Dann wird auch der Mut wieder all¬
gemeiner werden, sich zu einer Überzeugung zu bekennen, welche den Demagogen
unbequem ist, der Mut, sich als reaktionär und servil und so weiter verketzern
zu lassen, wenn man wirklich die hö-lus röixudlieg.6 als höchstes Gebot aner¬
kennt, welchem jede Doktrin untergeordnet werden niuß.

Daß den größten Sturm entfesselt, wer das Prinzip absoluter Preßfreiheit
nicht über jeden Zweifel erhaben findet, ist begreiflich; und wenn trotzdem
überall jetzt diese Frage angerührt wird, so beweist das zur Genüge, wie arg
das Übel geworden sein muß.

Der Sturm, sagen wir, ist begreiflich, und wir beziehen dies nicht allein
darauf, daß die Organe und Nur zu oft die Fabrikanten der öffentlichen Meinung
ihre eigne Haut verteidigen. In der That wäre es unsäglich beklagenswert,
wenn die Welt sich am Ende des neunzehnten Jahrhunderts genötigt sehen
sollte, auf die Schutzmittel zurückzugreifen, mit welchen die geistliche Gewalt im
fünfzehnten und sechzehnten die Gedankenfreiheit glaubte unterdrücken zu können.
Allein man verrückt unsers Erachtens die Frage, welche heute sich nicht igno-
riren und nicht zurückdrängen läßt, von vornherein, wenn man nur die beiden
Gegensätze unbeschränkte Preßfreiheit und Zensur gelte" lassen will. Sicherlich
denkt im zivilisirten Europa kein Mensch daran, wieder einzelnen Personen die
Befugnis der Entscheidung einzuräumen, was durch den Druck veröffentlicht
werden dürfe und was nicht. Und die Zeitungen, welche es mit ihrem Beruf ernst
nehmen, auf ihre Würde halten, sollten selbst dein Vorurteil entgegenarbeiten,
daß nur die Wahl freistehe zwischen jenen beiden Extremen. Sie mögen ihr


Lin wort an die Presse.

würden auch die Türkei und Rußland sich bereits der Segnungen erfreuen,
welche unmittelbar mit der Proklamirung der Dogmen eintreten — wie man sagt.

Inzwischen sind die Sätze in den beglückten Ländern auf den Prüfstein
der praktischen Erfahrung gebracht und, wie es scheint, nirgends ganz Probe-
haltig gefunden worden. Überall äußern sich kritische Stimmen. Ziemlich
schüchtern allerdings, denn so entschieden sonst das unbeschränkte Recht der Kritik
in Anspruch genommen und verteidigt wird: die Artikel des, um es mit einem
Worte zu bezeichnen, progressistischen Katechismus auf ihre Wahrheit prüfen zu
wollen, ist ein Verbreche» oder vielmehr das Verbrechen, der Inbegriff aller
Verworfenheit, und wird, solange Guillotine und Galeere noch nicht der Partei
zur Verfügung stehen, mit der äußersten Verachtung bestraft. Erst die aller-
jüngste Zeit hat wieder derartige Ausbrüche eines tobsüchtigen Fanatismus ge¬
bracht, daß man sich sagen muß, bei günstiger Gelegenheit würde auch Deutsch¬
land seine Kommunards und Septembriseurs stellen. Im Augenblicke freilich
machen solche Schreier sich ganz nützlich, weil ihre Übertreibungen so manchen,
der ihnen sonst willenlos folgte, zum Nachdenken und dadurch zur Einsicht
bringen, wo die eigentliche Tyrannei zu suchen sei. So dürfen wir hoffen, nach
und nach die dem heutigen Geschlecht anerzogene Scheu vor dem Gebrauche der
eignen Urteilskraft weichen zu sehen. Dann wird auch der Mut wieder all¬
gemeiner werden, sich zu einer Überzeugung zu bekennen, welche den Demagogen
unbequem ist, der Mut, sich als reaktionär und servil und so weiter verketzern
zu lassen, wenn man wirklich die hö-lus röixudlieg.6 als höchstes Gebot aner¬
kennt, welchem jede Doktrin untergeordnet werden niuß.

Daß den größten Sturm entfesselt, wer das Prinzip absoluter Preßfreiheit
nicht über jeden Zweifel erhaben findet, ist begreiflich; und wenn trotzdem
überall jetzt diese Frage angerührt wird, so beweist das zur Genüge, wie arg
das Übel geworden sein muß.

Der Sturm, sagen wir, ist begreiflich, und wir beziehen dies nicht allein
darauf, daß die Organe und Nur zu oft die Fabrikanten der öffentlichen Meinung
ihre eigne Haut verteidigen. In der That wäre es unsäglich beklagenswert,
wenn die Welt sich am Ende des neunzehnten Jahrhunderts genötigt sehen
sollte, auf die Schutzmittel zurückzugreifen, mit welchen die geistliche Gewalt im
fünfzehnten und sechzehnten die Gedankenfreiheit glaubte unterdrücken zu können.
Allein man verrückt unsers Erachtens die Frage, welche heute sich nicht igno-
riren und nicht zurückdrängen läßt, von vornherein, wenn man nur die beiden
Gegensätze unbeschränkte Preßfreiheit und Zensur gelte» lassen will. Sicherlich
denkt im zivilisirten Europa kein Mensch daran, wieder einzelnen Personen die
Befugnis der Entscheidung einzuräumen, was durch den Druck veröffentlicht
werden dürfe und was nicht. Und die Zeitungen, welche es mit ihrem Beruf ernst
nehmen, auf ihre Würde halten, sollten selbst dein Vorurteil entgegenarbeiten,
daß nur die Wahl freistehe zwischen jenen beiden Extremen. Sie mögen ihr


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/12>, abgerufen am 03.07.2024.