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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Die französische Romantik im Anfang und Ausgang.

Gegensätze, die aus den Bedingungen des äußern Lebens erwachsen, gaben dem
Drama seine Bewegung. Der Reichtum einer Sprache, die den phantastischen
Situationen entspringt, kühner Bilder, welche charakteristisch für Zeit, Land und
Gestalten waren, wie sie Victor Hugo träumte, verschärfte nur den Gegensatz
zwischen der Tragödie des alten und des neuen Stils.

So stark ward dieser Gegensatz empfunden, daß man im Augenblick gar¬
nicht wahrnahm, wie sehr die vermeintliche Abweichung auf Äußerlichkeiten be¬
ruhe, wie nahe ein heißblütig chevalereskes, theatralisch-heroisches Element im
"Hernani" dem Cid und andern Dramen der klassischen Literatur verwandt sei,
wie selbst die symmetrische Architektur des nationalen Dramenstils in den Kon¬
trasten dieses "Hernani" fortlebte, dessen gothische Zierraten so vielen Anstoß
erregten.

Nehmen wir aber, wie wir hier dürfen, das eine Werk für viele Hunderte,
betrachten wir den "Hernani" als eine Quintessenz dessen, was die französischen
Romantiker wollten und erstrebten, so ergiebt sich auf der Stelle, daß die
Forderung neuen Lebens ernst genug gemeint und doch nicht jene ganze For¬
derung war, durch welche einst die deutsche Dichtung frei geworden war. Es
ward das eigentümliche Geschick der französischen Romantik, daß sie im Grunde
dem Leben, seinen Tiefen wie seiner Bewegung nicht näher kam, als die klassische
Dichtung gewesen war, daß sie je länger je mehr zu einer Farbenromantik,
einer Koloritpoesie ward, welche alle Reize des bloßen Kolorits bis zum Raffi¬
nement steigerte, daß aber die Typen der altfranzösischen Poesie in ihr unab¬
lässig wiederkehrten. Nur wenn man (wie Brandes es thut) die eigentlich moderne
französische Dichtung, die nach der Julirevolution in Wechselwirkung und Wett¬
bewerb mit der französischen Romantik erschien, der Romantik selbst hinzurechnet,
kommt man zu einer günstigeren Anschauung. Für die Romantik im engsten
Sinne aber darf man Theophil Gauklers Paradoxon: "Ein Tiger ist schöner
als ein Mensch, wenn aber der Mensch sich in ein Tigerfell hüllt, so ist er
schöner als der Tiger" geradezu als Motto setzen. Das Schwelgen im Kolorit
gereichte den romantischen Poeten und für kurze Zeit auch ihrem Publikum zur
höchsten Genugthuung. Und dieselben Dichter, welche die Langeweile der alten
deskriptiven Poesie des achtzehnten Jahrhunderts nicht hart genug zu verur¬
teilen wußten, wurden poetische Beschreibe im eigentlichen und schlimmen Sinne
des Worts. Jene Kritiker, die nach dem "Hernani" behaupteten, daß das fremd¬
artige malende Beiwort in dem Drama eine viel zu große Bedeutung bean¬
spruche, hatten keineswegs völlig Unrecht. Wohin sich in den nichtfranzösischen
Literaturen der Einfluß der französischen Romantik erstreckte, dahin drang auch
das malende Beiwort, dahin drang die Freude am Reiz der grellbunten Farben,
des seltsamen Kolorits. Eben darum, weil sie ein einzelnes Moment der Poesie
einseitig betonte, erstrebte, zur ausschließlichen Geltung und Herrschaft zu bringen
trachtete, mußte die französische Romantik nur eine kurze Duxchggngsperiode in


Die französische Romantik im Anfang und Ausgang.

Gegensätze, die aus den Bedingungen des äußern Lebens erwachsen, gaben dem
Drama seine Bewegung. Der Reichtum einer Sprache, die den phantastischen
Situationen entspringt, kühner Bilder, welche charakteristisch für Zeit, Land und
Gestalten waren, wie sie Victor Hugo träumte, verschärfte nur den Gegensatz
zwischen der Tragödie des alten und des neuen Stils.

So stark ward dieser Gegensatz empfunden, daß man im Augenblick gar¬
nicht wahrnahm, wie sehr die vermeintliche Abweichung auf Äußerlichkeiten be¬
ruhe, wie nahe ein heißblütig chevalereskes, theatralisch-heroisches Element im
„Hernani" dem Cid und andern Dramen der klassischen Literatur verwandt sei,
wie selbst die symmetrische Architektur des nationalen Dramenstils in den Kon¬
trasten dieses „Hernani" fortlebte, dessen gothische Zierraten so vielen Anstoß
erregten.

Nehmen wir aber, wie wir hier dürfen, das eine Werk für viele Hunderte,
betrachten wir den „Hernani" als eine Quintessenz dessen, was die französischen
Romantiker wollten und erstrebten, so ergiebt sich auf der Stelle, daß die
Forderung neuen Lebens ernst genug gemeint und doch nicht jene ganze For¬
derung war, durch welche einst die deutsche Dichtung frei geworden war. Es
ward das eigentümliche Geschick der französischen Romantik, daß sie im Grunde
dem Leben, seinen Tiefen wie seiner Bewegung nicht näher kam, als die klassische
Dichtung gewesen war, daß sie je länger je mehr zu einer Farbenromantik,
einer Koloritpoesie ward, welche alle Reize des bloßen Kolorits bis zum Raffi¬
nement steigerte, daß aber die Typen der altfranzösischen Poesie in ihr unab¬
lässig wiederkehrten. Nur wenn man (wie Brandes es thut) die eigentlich moderne
französische Dichtung, die nach der Julirevolution in Wechselwirkung und Wett¬
bewerb mit der französischen Romantik erschien, der Romantik selbst hinzurechnet,
kommt man zu einer günstigeren Anschauung. Für die Romantik im engsten
Sinne aber darf man Theophil Gauklers Paradoxon: „Ein Tiger ist schöner
als ein Mensch, wenn aber der Mensch sich in ein Tigerfell hüllt, so ist er
schöner als der Tiger" geradezu als Motto setzen. Das Schwelgen im Kolorit
gereichte den romantischen Poeten und für kurze Zeit auch ihrem Publikum zur
höchsten Genugthuung. Und dieselben Dichter, welche die Langeweile der alten
deskriptiven Poesie des achtzehnten Jahrhunderts nicht hart genug zu verur¬
teilen wußten, wurden poetische Beschreibe im eigentlichen und schlimmen Sinne
des Worts. Jene Kritiker, die nach dem „Hernani" behaupteten, daß das fremd¬
artige malende Beiwort in dem Drama eine viel zu große Bedeutung bean¬
spruche, hatten keineswegs völlig Unrecht. Wohin sich in den nichtfranzösischen
Literaturen der Einfluß der französischen Romantik erstreckte, dahin drang auch
das malende Beiwort, dahin drang die Freude am Reiz der grellbunten Farben,
des seltsamen Kolorits. Eben darum, weil sie ein einzelnes Moment der Poesie
einseitig betonte, erstrebte, zur ausschließlichen Geltung und Herrschaft zu bringen
trachtete, mußte die französische Romantik nur eine kurze Duxchggngsperiode in


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[0083] Die französische Romantik im Anfang und Ausgang. Gegensätze, die aus den Bedingungen des äußern Lebens erwachsen, gaben dem Drama seine Bewegung. Der Reichtum einer Sprache, die den phantastischen Situationen entspringt, kühner Bilder, welche charakteristisch für Zeit, Land und Gestalten waren, wie sie Victor Hugo träumte, verschärfte nur den Gegensatz zwischen der Tragödie des alten und des neuen Stils. So stark ward dieser Gegensatz empfunden, daß man im Augenblick gar¬ nicht wahrnahm, wie sehr die vermeintliche Abweichung auf Äußerlichkeiten be¬ ruhe, wie nahe ein heißblütig chevalereskes, theatralisch-heroisches Element im „Hernani" dem Cid und andern Dramen der klassischen Literatur verwandt sei, wie selbst die symmetrische Architektur des nationalen Dramenstils in den Kon¬ trasten dieses „Hernani" fortlebte, dessen gothische Zierraten so vielen Anstoß erregten. Nehmen wir aber, wie wir hier dürfen, das eine Werk für viele Hunderte, betrachten wir den „Hernani" als eine Quintessenz dessen, was die französischen Romantiker wollten und erstrebten, so ergiebt sich auf der Stelle, daß die Forderung neuen Lebens ernst genug gemeint und doch nicht jene ganze For¬ derung war, durch welche einst die deutsche Dichtung frei geworden war. Es ward das eigentümliche Geschick der französischen Romantik, daß sie im Grunde dem Leben, seinen Tiefen wie seiner Bewegung nicht näher kam, als die klassische Dichtung gewesen war, daß sie je länger je mehr zu einer Farbenromantik, einer Koloritpoesie ward, welche alle Reize des bloßen Kolorits bis zum Raffi¬ nement steigerte, daß aber die Typen der altfranzösischen Poesie in ihr unab¬ lässig wiederkehrten. Nur wenn man (wie Brandes es thut) die eigentlich moderne französische Dichtung, die nach der Julirevolution in Wechselwirkung und Wett¬ bewerb mit der französischen Romantik erschien, der Romantik selbst hinzurechnet, kommt man zu einer günstigeren Anschauung. Für die Romantik im engsten Sinne aber darf man Theophil Gauklers Paradoxon: „Ein Tiger ist schöner als ein Mensch, wenn aber der Mensch sich in ein Tigerfell hüllt, so ist er schöner als der Tiger" geradezu als Motto setzen. Das Schwelgen im Kolorit gereichte den romantischen Poeten und für kurze Zeit auch ihrem Publikum zur höchsten Genugthuung. Und dieselben Dichter, welche die Langeweile der alten deskriptiven Poesie des achtzehnten Jahrhunderts nicht hart genug zu verur¬ teilen wußten, wurden poetische Beschreibe im eigentlichen und schlimmen Sinne des Worts. Jene Kritiker, die nach dem „Hernani" behaupteten, daß das fremd¬ artige malende Beiwort in dem Drama eine viel zu große Bedeutung bean¬ spruche, hatten keineswegs völlig Unrecht. Wohin sich in den nichtfranzösischen Literaturen der Einfluß der französischen Romantik erstreckte, dahin drang auch das malende Beiwort, dahin drang die Freude am Reiz der grellbunten Farben, des seltsamen Kolorits. Eben darum, weil sie ein einzelnes Moment der Poesie einseitig betonte, erstrebte, zur ausschließlichen Geltung und Herrschaft zu bringen trachtete, mußte die französische Romantik nur eine kurze Duxchggngsperiode in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/83>, abgerufen am 29.12.2024.