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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Die französische Romantik im Anfang und Ausgang.

Wahrscheinlichkeit zu gunsten der innern Wahrheit geopfert habe, daß die Kunst
der Konvention nicht entraten könne und daß die Konvention der französischen
trgAödis für den Zweck des Trauerspiels die denkbar beste sei.

In Hunderten und aber Hunderten von Werken waren der einfache Säulen¬
hintergrund, die schlichten Koulissen, die bekannten Hauptgestalten in griechischer
und römischer Tracht wiedergekehrt, die Toga Talaas war noch für das lebende
Geschlecht mit allen Erinnerungen an große tragische Wirkungen verbunden.
Und nun warf Victor Hugo mit seinem "Hernani" gleichsam das Leben su
dive auf die Bühne. Eine bunte Mannichfaltigkeit der Szenen: das Schlaf¬
gemach der Donna Sol im ersten, der Vorhof des Palastes der de silva und
die Straßen von Saragossa im zweiten, der gothische Ahnensaal eines Schlosses
in den Bergen von Aragon im dritten, die Gruft Karls des Großen zu Aachen
im vierten, die Prachtterrasse eines spanischen Gartens mit dem festlich er¬
leuchteten Palast im Hintergrunde im fünften Akt traten an Stelle des schmuck¬
losen traditionellen Vorgemachs. Zu den vier Hauptgestalten der Handlung
gesellten sich zahlreiche Ncbengestalten, die den Schein bunten, großen, mannich-
faltigen Lebens hervorbringen, statt der drei Sklavinnen oder der vier konven¬
tionellen Krieger, die, aus Racines "Britanniens," "Mithridat" und "Esther"
stammend, das Gefolge der französischen Trcigödieuhelden oder -Heldinnen
gebildet hatten, erschienen hier deutsche und spanische Edle, die Banditen
Hernanis, die Soldaten Karls des Fünften, die Gäste eines glänzenden
Maskenfestes und das Volk von Saragossa auf der Szene. Schon dieser
äußere Umstand war groß und augenfällig genug, viel größer noch ein zweiter.
Die ganze Tragödie alten Stils hatte auf der strengsten Fernhaltung aller
nicht zur Hauptsache gehörigen Lebensmomente beruht, hier im "Hernani"
drängten sich dieselben gewaltsam und in Masse herein. Die gemischten
Charaktere überwogen. Die Dichter alten Stils hatten nicht den ganzen Kaiser
Nero, sondern Nero, der mit dem Mord des Britanniens den ersten Schritt zum
Verbrechen thut, nicht Mithridat, sondern den unterliegenden, zu Tode gehetzten
Mithridat, der in seinen unvermeidlichen Tod das letzte Weib, das er geliebt,
despotisch mit hineinzwingen will, dargestellt. Dem gegenüber versucht Hugo
im "Hernani" mit den gemischten Charakteren zu wirken; dieser König Carlos
(Karl der Fünfte), dieser alte Don Ruy Gomez, der stolze Bandenführer Hernani
selbst find von grundverschieden Leidenschaften bewegte Naturen, deren ganzes
komplizirtes Sein uns aufgehen soll. Gleichviel zunächst, mit welchen Mitteln
dies vom Dichter versucht wird, die Wirkung des bloßen Anlaufs und Vorsatzes
mußte eine ungeheure sein. Die alte Tragödie hatte in der Strenge ihres Stils
die Mischung von schwer und leicht, von Ernst und Komik, von Genreszenen
und von leidenschaftlichen Situationen völlig ausgeschlossen. Im "Hernani"
ward der entgegengesetzte Weg eingeschlagen. Nicht nur die Mischung edler und
unedler Empfindungen in den Seelen der Handelnden, auch die Wirkung der


Die französische Romantik im Anfang und Ausgang.

Wahrscheinlichkeit zu gunsten der innern Wahrheit geopfert habe, daß die Kunst
der Konvention nicht entraten könne und daß die Konvention der französischen
trgAödis für den Zweck des Trauerspiels die denkbar beste sei.

In Hunderten und aber Hunderten von Werken waren der einfache Säulen¬
hintergrund, die schlichten Koulissen, die bekannten Hauptgestalten in griechischer
und römischer Tracht wiedergekehrt, die Toga Talaas war noch für das lebende
Geschlecht mit allen Erinnerungen an große tragische Wirkungen verbunden.
Und nun warf Victor Hugo mit seinem „Hernani" gleichsam das Leben su
dive auf die Bühne. Eine bunte Mannichfaltigkeit der Szenen: das Schlaf¬
gemach der Donna Sol im ersten, der Vorhof des Palastes der de silva und
die Straßen von Saragossa im zweiten, der gothische Ahnensaal eines Schlosses
in den Bergen von Aragon im dritten, die Gruft Karls des Großen zu Aachen
im vierten, die Prachtterrasse eines spanischen Gartens mit dem festlich er¬
leuchteten Palast im Hintergrunde im fünften Akt traten an Stelle des schmuck¬
losen traditionellen Vorgemachs. Zu den vier Hauptgestalten der Handlung
gesellten sich zahlreiche Ncbengestalten, die den Schein bunten, großen, mannich-
faltigen Lebens hervorbringen, statt der drei Sklavinnen oder der vier konven¬
tionellen Krieger, die, aus Racines „Britanniens," „Mithridat" und „Esther"
stammend, das Gefolge der französischen Trcigödieuhelden oder -Heldinnen
gebildet hatten, erschienen hier deutsche und spanische Edle, die Banditen
Hernanis, die Soldaten Karls des Fünften, die Gäste eines glänzenden
Maskenfestes und das Volk von Saragossa auf der Szene. Schon dieser
äußere Umstand war groß und augenfällig genug, viel größer noch ein zweiter.
Die ganze Tragödie alten Stils hatte auf der strengsten Fernhaltung aller
nicht zur Hauptsache gehörigen Lebensmomente beruht, hier im „Hernani"
drängten sich dieselben gewaltsam und in Masse herein. Die gemischten
Charaktere überwogen. Die Dichter alten Stils hatten nicht den ganzen Kaiser
Nero, sondern Nero, der mit dem Mord des Britanniens den ersten Schritt zum
Verbrechen thut, nicht Mithridat, sondern den unterliegenden, zu Tode gehetzten
Mithridat, der in seinen unvermeidlichen Tod das letzte Weib, das er geliebt,
despotisch mit hineinzwingen will, dargestellt. Dem gegenüber versucht Hugo
im „Hernani" mit den gemischten Charakteren zu wirken; dieser König Carlos
(Karl der Fünfte), dieser alte Don Ruy Gomez, der stolze Bandenführer Hernani
selbst find von grundverschieden Leidenschaften bewegte Naturen, deren ganzes
komplizirtes Sein uns aufgehen soll. Gleichviel zunächst, mit welchen Mitteln
dies vom Dichter versucht wird, die Wirkung des bloßen Anlaufs und Vorsatzes
mußte eine ungeheure sein. Die alte Tragödie hatte in der Strenge ihres Stils
die Mischung von schwer und leicht, von Ernst und Komik, von Genreszenen
und von leidenschaftlichen Situationen völlig ausgeschlossen. Im „Hernani"
ward der entgegengesetzte Weg eingeschlagen. Nicht nur die Mischung edler und
unedler Empfindungen in den Seelen der Handelnden, auch die Wirkung der


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[0082] Die französische Romantik im Anfang und Ausgang. Wahrscheinlichkeit zu gunsten der innern Wahrheit geopfert habe, daß die Kunst der Konvention nicht entraten könne und daß die Konvention der französischen trgAödis für den Zweck des Trauerspiels die denkbar beste sei. In Hunderten und aber Hunderten von Werken waren der einfache Säulen¬ hintergrund, die schlichten Koulissen, die bekannten Hauptgestalten in griechischer und römischer Tracht wiedergekehrt, die Toga Talaas war noch für das lebende Geschlecht mit allen Erinnerungen an große tragische Wirkungen verbunden. Und nun warf Victor Hugo mit seinem „Hernani" gleichsam das Leben su dive auf die Bühne. Eine bunte Mannichfaltigkeit der Szenen: das Schlaf¬ gemach der Donna Sol im ersten, der Vorhof des Palastes der de silva und die Straßen von Saragossa im zweiten, der gothische Ahnensaal eines Schlosses in den Bergen von Aragon im dritten, die Gruft Karls des Großen zu Aachen im vierten, die Prachtterrasse eines spanischen Gartens mit dem festlich er¬ leuchteten Palast im Hintergrunde im fünften Akt traten an Stelle des schmuck¬ losen traditionellen Vorgemachs. Zu den vier Hauptgestalten der Handlung gesellten sich zahlreiche Ncbengestalten, die den Schein bunten, großen, mannich- faltigen Lebens hervorbringen, statt der drei Sklavinnen oder der vier konven¬ tionellen Krieger, die, aus Racines „Britanniens," „Mithridat" und „Esther" stammend, das Gefolge der französischen Trcigödieuhelden oder -Heldinnen gebildet hatten, erschienen hier deutsche und spanische Edle, die Banditen Hernanis, die Soldaten Karls des Fünften, die Gäste eines glänzenden Maskenfestes und das Volk von Saragossa auf der Szene. Schon dieser äußere Umstand war groß und augenfällig genug, viel größer noch ein zweiter. Die ganze Tragödie alten Stils hatte auf der strengsten Fernhaltung aller nicht zur Hauptsache gehörigen Lebensmomente beruht, hier im „Hernani" drängten sich dieselben gewaltsam und in Masse herein. Die gemischten Charaktere überwogen. Die Dichter alten Stils hatten nicht den ganzen Kaiser Nero, sondern Nero, der mit dem Mord des Britanniens den ersten Schritt zum Verbrechen thut, nicht Mithridat, sondern den unterliegenden, zu Tode gehetzten Mithridat, der in seinen unvermeidlichen Tod das letzte Weib, das er geliebt, despotisch mit hineinzwingen will, dargestellt. Dem gegenüber versucht Hugo im „Hernani" mit den gemischten Charakteren zu wirken; dieser König Carlos (Karl der Fünfte), dieser alte Don Ruy Gomez, der stolze Bandenführer Hernani selbst find von grundverschieden Leidenschaften bewegte Naturen, deren ganzes komplizirtes Sein uns aufgehen soll. Gleichviel zunächst, mit welchen Mitteln dies vom Dichter versucht wird, die Wirkung des bloßen Anlaufs und Vorsatzes mußte eine ungeheure sein. Die alte Tragödie hatte in der Strenge ihres Stils die Mischung von schwer und leicht, von Ernst und Komik, von Genreszenen und von leidenschaftlichen Situationen völlig ausgeschlossen. Im „Hernani" ward der entgegengesetzte Weg eingeschlagen. Nicht nur die Mischung edler und unedler Empfindungen in den Seelen der Handelnden, auch die Wirkung der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/82>, abgerufen am 29.12.2024.