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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Die französische Romantik im Anfang und Ausgang.

le Kunst- und Litteraturgeschichte, die Geschichte geistiger Be¬
wegungen und Entwicklungen überhaupt, ist selten in der Lage,
in einem epischen oder dramatischen Vorgange ihre entscheidenden
Mächte, ihre kämpfenden Parteien und Gegensätze lebendig zu
verkörpern. Auch die großen augenblendenden Haupt- und Staats¬
aktionen der Weltgeschichte, ihre weithin leuchtenden Schlacht- und Vertragstage
sind ja nur Resultate allmählich gewachsener, lange im stillen miteinander rin¬
gender und wirkender Kräfte, aber sie find sichtbare Resultate, und ganze Jahr¬
zehnte historischer Entwicklungen treten mit großen Katastrophen oder Siegen
wie mit einemmale in die Erscheinung. Nur unter dem Zusammentreffen be¬
sondrer Umstände giebt es in der Geschichte der Dichtung und der Kunst ein¬
zelne Tage, an denen streitende Kunstprinzipien, geistige Anschauungen, ideale
Überzeugungen und Bestrebungen völlig theatralisch Gestalt gewinnen, in Szene
gehen, wo in einem sichtbaren und erzählbaren Ereignis Kämpfe und Wand¬
lungen der ästhetischen Empfindung konzentrirt, realistisch anschaulich und gleichsam
greifbar zu tage treten.

Einer dieser seltenen Tage der Literaturgeschichte war der 26. Februar des
Jahres 1830. Der Schauplatz des wunderlichen Dramas, das sich abspielte,
jenes Haus neben dem Palais Royal in Paris, welches seit Ludwig XIV. den
stolzen Namen des "Französischen Theaters" führt, das Ereignis nichts mehr
und nichts weniger als die erste Aufführung eines neuen Trauerspiels, eine
Theaterschlacht, wie keine ähnliche stattgefunden, seit, in den Tagen Ludwigs XIII.
und des großen Kardinals, Pierre Corneille seinen "Cio" auf dem lIMtrs an
Ug.rsi8 zur ersten Darstellung gebracht und mit dem glänzenden Erfolge die
Ära des französischen Klassizismus, der großen Literatur des siebzehnten und
achtzehnten Jahrhunderts eröffnet hatte. Ja so heiß und erbittert in jenem
November 1636 die Kämpfe zwischen den Anhängern des neuanftrctenden Ge¬
stirns und dem wunderlichen Poeten- und Schöngeistergeschlecht jener Tage ge¬
wesen waren, an Bedeutung konnten sie sich nicht mit denen messen, welche an
diesem Februartage von 1830 ihre dramatische Spitze erreichen sollten. Die
Zeit jenes Winters von 1829 zu 1830 war ernst und gährungsvoll, man
stand in den letzten erbitterten Wahlkämpfen, welche wenige Monate später zu
den Juliordonnanzen König Karls X., zur Julirevolution und zum Bruch der
alten Dynastie führten, in Toulon wurden Flotte und Heer zu jener Expedition


Grenzboten IV. 1L34. 9
Die französische Romantik im Anfang und Ausgang.

le Kunst- und Litteraturgeschichte, die Geschichte geistiger Be¬
wegungen und Entwicklungen überhaupt, ist selten in der Lage,
in einem epischen oder dramatischen Vorgange ihre entscheidenden
Mächte, ihre kämpfenden Parteien und Gegensätze lebendig zu
verkörpern. Auch die großen augenblendenden Haupt- und Staats¬
aktionen der Weltgeschichte, ihre weithin leuchtenden Schlacht- und Vertragstage
sind ja nur Resultate allmählich gewachsener, lange im stillen miteinander rin¬
gender und wirkender Kräfte, aber sie find sichtbare Resultate, und ganze Jahr¬
zehnte historischer Entwicklungen treten mit großen Katastrophen oder Siegen
wie mit einemmale in die Erscheinung. Nur unter dem Zusammentreffen be¬
sondrer Umstände giebt es in der Geschichte der Dichtung und der Kunst ein¬
zelne Tage, an denen streitende Kunstprinzipien, geistige Anschauungen, ideale
Überzeugungen und Bestrebungen völlig theatralisch Gestalt gewinnen, in Szene
gehen, wo in einem sichtbaren und erzählbaren Ereignis Kämpfe und Wand¬
lungen der ästhetischen Empfindung konzentrirt, realistisch anschaulich und gleichsam
greifbar zu tage treten.

Einer dieser seltenen Tage der Literaturgeschichte war der 26. Februar des
Jahres 1830. Der Schauplatz des wunderlichen Dramas, das sich abspielte,
jenes Haus neben dem Palais Royal in Paris, welches seit Ludwig XIV. den
stolzen Namen des „Französischen Theaters" führt, das Ereignis nichts mehr
und nichts weniger als die erste Aufführung eines neuen Trauerspiels, eine
Theaterschlacht, wie keine ähnliche stattgefunden, seit, in den Tagen Ludwigs XIII.
und des großen Kardinals, Pierre Corneille seinen „Cio" auf dem lIMtrs an
Ug.rsi8 zur ersten Darstellung gebracht und mit dem glänzenden Erfolge die
Ära des französischen Klassizismus, der großen Literatur des siebzehnten und
achtzehnten Jahrhunderts eröffnet hatte. Ja so heiß und erbittert in jenem
November 1636 die Kämpfe zwischen den Anhängern des neuanftrctenden Ge¬
stirns und dem wunderlichen Poeten- und Schöngeistergeschlecht jener Tage ge¬
wesen waren, an Bedeutung konnten sie sich nicht mit denen messen, welche an
diesem Februartage von 1830 ihre dramatische Spitze erreichen sollten. Die
Zeit jenes Winters von 1829 zu 1830 war ernst und gährungsvoll, man
stand in den letzten erbitterten Wahlkämpfen, welche wenige Monate später zu
den Juliordonnanzen König Karls X., zur Julirevolution und zum Bruch der
alten Dynastie führten, in Toulon wurden Flotte und Heer zu jener Expedition


Grenzboten IV. 1L34. 9
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[0073] Die französische Romantik im Anfang und Ausgang. le Kunst- und Litteraturgeschichte, die Geschichte geistiger Be¬ wegungen und Entwicklungen überhaupt, ist selten in der Lage, in einem epischen oder dramatischen Vorgange ihre entscheidenden Mächte, ihre kämpfenden Parteien und Gegensätze lebendig zu verkörpern. Auch die großen augenblendenden Haupt- und Staats¬ aktionen der Weltgeschichte, ihre weithin leuchtenden Schlacht- und Vertragstage sind ja nur Resultate allmählich gewachsener, lange im stillen miteinander rin¬ gender und wirkender Kräfte, aber sie find sichtbare Resultate, und ganze Jahr¬ zehnte historischer Entwicklungen treten mit großen Katastrophen oder Siegen wie mit einemmale in die Erscheinung. Nur unter dem Zusammentreffen be¬ sondrer Umstände giebt es in der Geschichte der Dichtung und der Kunst ein¬ zelne Tage, an denen streitende Kunstprinzipien, geistige Anschauungen, ideale Überzeugungen und Bestrebungen völlig theatralisch Gestalt gewinnen, in Szene gehen, wo in einem sichtbaren und erzählbaren Ereignis Kämpfe und Wand¬ lungen der ästhetischen Empfindung konzentrirt, realistisch anschaulich und gleichsam greifbar zu tage treten. Einer dieser seltenen Tage der Literaturgeschichte war der 26. Februar des Jahres 1830. Der Schauplatz des wunderlichen Dramas, das sich abspielte, jenes Haus neben dem Palais Royal in Paris, welches seit Ludwig XIV. den stolzen Namen des „Französischen Theaters" führt, das Ereignis nichts mehr und nichts weniger als die erste Aufführung eines neuen Trauerspiels, eine Theaterschlacht, wie keine ähnliche stattgefunden, seit, in den Tagen Ludwigs XIII. und des großen Kardinals, Pierre Corneille seinen „Cio" auf dem lIMtrs an Ug.rsi8 zur ersten Darstellung gebracht und mit dem glänzenden Erfolge die Ära des französischen Klassizismus, der großen Literatur des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts eröffnet hatte. Ja so heiß und erbittert in jenem November 1636 die Kämpfe zwischen den Anhängern des neuanftrctenden Ge¬ stirns und dem wunderlichen Poeten- und Schöngeistergeschlecht jener Tage ge¬ wesen waren, an Bedeutung konnten sie sich nicht mit denen messen, welche an diesem Februartage von 1830 ihre dramatische Spitze erreichen sollten. Die Zeit jenes Winters von 1829 zu 1830 war ernst und gährungsvoll, man stand in den letzten erbitterten Wahlkämpfen, welche wenige Monate später zu den Juliordonnanzen König Karls X., zur Julirevolution und zum Bruch der alten Dynastie führten, in Toulon wurden Flotte und Heer zu jener Expedition Grenzboten IV. 1L34. 9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/73>, abgerufen am 29.12.2024.