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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Die Leipziger Gewandhauskonzerte.

Phantasie, wie derselbe schwerlich in einer andern Symphonie gefunden wird.
Von dem, was eigentliche Ausführung heißt, ist hier weniger die Rede; aber
die Gewalt der einander immer von neuem bekämpfenden Empfindungen, die
immer erneuten Kontraste, welche überdies meistens einander aufs schärfste an
die Seite gesetzt sind, die immer wiederkehrende Überraschung, welche durch jenes,
sowie durch die Fremdartigkeit der Ideen und deren ganz ungewöhnliche Zu¬
sammenstellung, Folge und Vermischung bewirkt wird -- alles dies, vereinigt
mit vielem Eigentümlichen und sehr Pikanten in der Benutzung der Instrumente,
reizt und spannt die Zuhörer während der ganzen Dauer dieses langen Satzes
so sehr und so immer von neuem, daß ihm ein glänzender Effekt überall, wo
er gut aufgeführt wird, unfehlbar zuteil werden muß."

Von der neunten Symphonie endlich bekannte Fink, selbst "auf die Gefahr
hin, als gehöre er zu denen, die Großes zu fassen nicht imstande seien," sie ge¬
falle ihm nicht; es sei ihm vorgekommen, als ob die Musik auf dem Kopfe
gehen sollte und nicht auf den Füßen; der Meister sei ein Geisterbeschwörer,
dem es diesmal gefallen habe, Übermenschliches von uns zu verlangen; da
unterschreibe er nicht. Und zwei Jahre später, nach Beethovens Tode, schrieb
er, er halte das ganze Werk "für eine höchst merkwürdige Verirrung des durch
seine gänzliche Gehörlosigkeit unglücklich gewordenen, nun erlösten Mannes."

Es liegt nahe, von unsrer Statistik einerseits und von der tiefgehenden
Wandlung der musikalischen Auffassung, die sich seit Rochlitz und Fink voll¬
zogen hat, andrerseits die Nutzanwendung zu machen auf das musikalische
Parteitreiben unsrer Tage, das übrigens, wie wir schon vor Jahren muss be¬
stimmteste vorausgesagt haben, seit Wagners Tode wesentlich stiller geworden
ist. Fünf Erscheinungen sind es, denen sich neben unsern Klassikern die Ver¬
ehrung der Musikfreunde gegenwärtig vor allem zuwendet: Mendelssohn,
Schumann, Brechens, Lißt und Wagner. Lißt können wir gleich beiseite lassen; ihn
feiert ein Kreis von fanatischen Anhängern, welcher sich alljährlich einmal bei
den Versammlungen des sogenannten Allgemeinen deutschen Musikvereins das
Vergnügen macht, sich um seinen Abgott zu scharen, und welcher in Lißt den
liebenswürdigen Menschen und den am alten Ruhme zehrenden Virtuosen mit
dem schöpferischen Genius verwechselt, der Lißt bei aller Fruchtbarkeit nie ge¬
wesen. Das dauert, solange es dauert. Über Mendelssohn sind niemals Urteile
gefüllt worden, wie von Rochlitz und Fink über Beethoven; er eroberte sich durch
die hohe Formvollendung und den ansprechenden, faßlichen Gehalt seiner Werke
stets in gleichem Maße die Herzen der Kenner wie der Laien. Wieder anders
verhält sichs mit Wagner. Seine Anhänger haben sich zwar oft genug seinen
Gegnern gegenüber auf die Aufnahme berufen, die Beethoven anfangs gefunden.
Ganz mit Unrecht. Wagner hat zahllose Angriffe erfahren, aber Urteile, wie
von Rochlitz über Beethoven, Bekenntnisse eines wackern, ehrlichen, sachkundigen
Musikers, der sich dem Genius beugt und bescheiden eingesteht, daß ihm nur für


Die Leipziger Gewandhauskonzerte.

Phantasie, wie derselbe schwerlich in einer andern Symphonie gefunden wird.
Von dem, was eigentliche Ausführung heißt, ist hier weniger die Rede; aber
die Gewalt der einander immer von neuem bekämpfenden Empfindungen, die
immer erneuten Kontraste, welche überdies meistens einander aufs schärfste an
die Seite gesetzt sind, die immer wiederkehrende Überraschung, welche durch jenes,
sowie durch die Fremdartigkeit der Ideen und deren ganz ungewöhnliche Zu¬
sammenstellung, Folge und Vermischung bewirkt wird — alles dies, vereinigt
mit vielem Eigentümlichen und sehr Pikanten in der Benutzung der Instrumente,
reizt und spannt die Zuhörer während der ganzen Dauer dieses langen Satzes
so sehr und so immer von neuem, daß ihm ein glänzender Effekt überall, wo
er gut aufgeführt wird, unfehlbar zuteil werden muß."

Von der neunten Symphonie endlich bekannte Fink, selbst „auf die Gefahr
hin, als gehöre er zu denen, die Großes zu fassen nicht imstande seien," sie ge¬
falle ihm nicht; es sei ihm vorgekommen, als ob die Musik auf dem Kopfe
gehen sollte und nicht auf den Füßen; der Meister sei ein Geisterbeschwörer,
dem es diesmal gefallen habe, Übermenschliches von uns zu verlangen; da
unterschreibe er nicht. Und zwei Jahre später, nach Beethovens Tode, schrieb
er, er halte das ganze Werk „für eine höchst merkwürdige Verirrung des durch
seine gänzliche Gehörlosigkeit unglücklich gewordenen, nun erlösten Mannes."

Es liegt nahe, von unsrer Statistik einerseits und von der tiefgehenden
Wandlung der musikalischen Auffassung, die sich seit Rochlitz und Fink voll¬
zogen hat, andrerseits die Nutzanwendung zu machen auf das musikalische
Parteitreiben unsrer Tage, das übrigens, wie wir schon vor Jahren muss be¬
stimmteste vorausgesagt haben, seit Wagners Tode wesentlich stiller geworden
ist. Fünf Erscheinungen sind es, denen sich neben unsern Klassikern die Ver¬
ehrung der Musikfreunde gegenwärtig vor allem zuwendet: Mendelssohn,
Schumann, Brechens, Lißt und Wagner. Lißt können wir gleich beiseite lassen; ihn
feiert ein Kreis von fanatischen Anhängern, welcher sich alljährlich einmal bei
den Versammlungen des sogenannten Allgemeinen deutschen Musikvereins das
Vergnügen macht, sich um seinen Abgott zu scharen, und welcher in Lißt den
liebenswürdigen Menschen und den am alten Ruhme zehrenden Virtuosen mit
dem schöpferischen Genius verwechselt, der Lißt bei aller Fruchtbarkeit nie ge¬
wesen. Das dauert, solange es dauert. Über Mendelssohn sind niemals Urteile
gefüllt worden, wie von Rochlitz und Fink über Beethoven; er eroberte sich durch
die hohe Formvollendung und den ansprechenden, faßlichen Gehalt seiner Werke
stets in gleichem Maße die Herzen der Kenner wie der Laien. Wieder anders
verhält sichs mit Wagner. Seine Anhänger haben sich zwar oft genug seinen
Gegnern gegenüber auf die Aufnahme berufen, die Beethoven anfangs gefunden.
Ganz mit Unrecht. Wagner hat zahllose Angriffe erfahren, aber Urteile, wie
von Rochlitz über Beethoven, Bekenntnisse eines wackern, ehrlichen, sachkundigen
Musikers, der sich dem Genius beugt und bescheiden eingesteht, daß ihm nur für


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[0646] Die Leipziger Gewandhauskonzerte. Phantasie, wie derselbe schwerlich in einer andern Symphonie gefunden wird. Von dem, was eigentliche Ausführung heißt, ist hier weniger die Rede; aber die Gewalt der einander immer von neuem bekämpfenden Empfindungen, die immer erneuten Kontraste, welche überdies meistens einander aufs schärfste an die Seite gesetzt sind, die immer wiederkehrende Überraschung, welche durch jenes, sowie durch die Fremdartigkeit der Ideen und deren ganz ungewöhnliche Zu¬ sammenstellung, Folge und Vermischung bewirkt wird — alles dies, vereinigt mit vielem Eigentümlichen und sehr Pikanten in der Benutzung der Instrumente, reizt und spannt die Zuhörer während der ganzen Dauer dieses langen Satzes so sehr und so immer von neuem, daß ihm ein glänzender Effekt überall, wo er gut aufgeführt wird, unfehlbar zuteil werden muß." Von der neunten Symphonie endlich bekannte Fink, selbst „auf die Gefahr hin, als gehöre er zu denen, die Großes zu fassen nicht imstande seien," sie ge¬ falle ihm nicht; es sei ihm vorgekommen, als ob die Musik auf dem Kopfe gehen sollte und nicht auf den Füßen; der Meister sei ein Geisterbeschwörer, dem es diesmal gefallen habe, Übermenschliches von uns zu verlangen; da unterschreibe er nicht. Und zwei Jahre später, nach Beethovens Tode, schrieb er, er halte das ganze Werk „für eine höchst merkwürdige Verirrung des durch seine gänzliche Gehörlosigkeit unglücklich gewordenen, nun erlösten Mannes." Es liegt nahe, von unsrer Statistik einerseits und von der tiefgehenden Wandlung der musikalischen Auffassung, die sich seit Rochlitz und Fink voll¬ zogen hat, andrerseits die Nutzanwendung zu machen auf das musikalische Parteitreiben unsrer Tage, das übrigens, wie wir schon vor Jahren muss be¬ stimmteste vorausgesagt haben, seit Wagners Tode wesentlich stiller geworden ist. Fünf Erscheinungen sind es, denen sich neben unsern Klassikern die Ver¬ ehrung der Musikfreunde gegenwärtig vor allem zuwendet: Mendelssohn, Schumann, Brechens, Lißt und Wagner. Lißt können wir gleich beiseite lassen; ihn feiert ein Kreis von fanatischen Anhängern, welcher sich alljährlich einmal bei den Versammlungen des sogenannten Allgemeinen deutschen Musikvereins das Vergnügen macht, sich um seinen Abgott zu scharen, und welcher in Lißt den liebenswürdigen Menschen und den am alten Ruhme zehrenden Virtuosen mit dem schöpferischen Genius verwechselt, der Lißt bei aller Fruchtbarkeit nie ge¬ wesen. Das dauert, solange es dauert. Über Mendelssohn sind niemals Urteile gefüllt worden, wie von Rochlitz und Fink über Beethoven; er eroberte sich durch die hohe Formvollendung und den ansprechenden, faßlichen Gehalt seiner Werke stets in gleichem Maße die Herzen der Kenner wie der Laien. Wieder anders verhält sichs mit Wagner. Seine Anhänger haben sich zwar oft genug seinen Gegnern gegenüber auf die Aufnahme berufen, die Beethoven anfangs gefunden. Ganz mit Unrecht. Wagner hat zahllose Angriffe erfahren, aber Urteile, wie von Rochlitz über Beethoven, Bekenntnisse eines wackern, ehrlichen, sachkundigen Musikers, der sich dem Genius beugt und bescheiden eingesteht, daß ihm nur für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/646>, abgerufen am 29.12.2024.