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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Ein Roman aus den dreißiger Jahren.

Leider treffen von allen diesen Voraussetzungen nur wenige zu, und der
Roman "Altar und Kerker," welcher mit soviel Reklamegcräusch zu einem der
besten Romane Otto Müllers nicht nur, sondern der Gegenwart überhaupt er¬
hoben wird, ist eines jener unerfreulichen Zwittergebilde, die wieder einmal ent¬
scheidend beweisen, daß sich nicht Feigen vom Dornenstrauche pflücken lassen, daß
es nicht möglich ist, zu gleicher Zeit eine gute Erzählung und ein politisches
Pamphlet zu schreiben, ja daß die Verherrlichung politischen Mcirthrertums in
jeder andern poetischen Form besser und glücklicher erfolgen kann als in der
des Romans. Selbst den Manen Weidigs ist damit der schlechteste Dienst ge¬
leistet, daß der Verfasser völlig in Zweifel läßt, wie weit sich denn eigentlich
die Verschuldung des unglücklichen Pfarrers von Obergleen erstreckt habe, und
die Thatsache, daß er Teilnehmer, beziehentlich Leiter eines politischen Geheim¬
bundes gewesen, in Schatten rückt. Wenn der Roman irgendwem ein tieferes
Interesse an der Persönlichkeit und dem Schicksal einflößen soll, welche dem Ver¬
sasser vorgeschwebt haben, so kann die in diesen drei Bänden beliebte Art der
Darstellung daran wahrlich nnr einen geringen Anteil haben.

Der Verfasser hat gefühlt, daß er, um überhaupt eine Handlung zu ge¬
winnen, Zusammenhang und Folge in die Szenen seines Romans zu bringen,
seiner eignen Erfindung mehr vertrauen müsse als dem aktenmäßigen Material.
Die ersten paar Seiten führen uns mit dem jungen Dr. juris und Hofgerichts-
accessisten Ernst von Diemar im Frühling 1830 nach dem Städtchen Hesfenfeld,
wohin sich der stattliche und gebildete junge Mann selbst verbannt hat, um
die Enttäuschung zu überwinden, welche ihm seine junge und schöne, von
ihm seit Knabentagen geliebte Cousine Irene von Armee bereitet hat. Fräulein
von Armee hat an einem verwachsenen Fuß ihres Vetters so entschiedenen Anstoß
genommen, daß sie sich die Bewerbung des Rittmeisters von Klingenbcrg, den
sie nicht liebt, gefallen läßt und um die Zeit des Beginnes der Erzählung
eben dessen Gemahlin werden soll. Ernst von Diemer hat sonach Grund genug,
sich einsiedlerisch in dem kleinen oberhessischen Nest pessimistischen Gedanken zu
überlassen, und da er ein fein- und hochgebildeter Mann ist, so wird es ihm
niemand verargen, daß er an der Geselligkeit von Hessenfeld kein Behagen findet.
Es wäre poetischer und dem Tone eines Romans angemessener, der Autor ließe
uns durch einige Momente dieser Geselligkeit die Eindrücke, die Herr von
Diemer empfangen muß, lebendig mitempfinden. Müller zieht es indessen vor,
eine Schilderung des Städtchens aus eignen Mitteln zu geben.

"Obgleich kaum ein Menschenalter seit jenen Tagen, von denen wir jetzt
erzählen wollen, verflossen ist, hat doch unsre heutige Generation keinen Begriff
von den damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen in einer süddeutschen Pro-
vinzialstadt, mit vielleicht einem Dutzend sogenannter Honoratiorenfamilien aus
dem Beamten- und ebensoviel Haushaltungen aus dem bessern Bürgerstande,
vom regierenden Herrn Bürgermeister Rothgerber^bis herab zum Spezereihändler


Ein Roman aus den dreißiger Jahren.

Leider treffen von allen diesen Voraussetzungen nur wenige zu, und der
Roman „Altar und Kerker," welcher mit soviel Reklamegcräusch zu einem der
besten Romane Otto Müllers nicht nur, sondern der Gegenwart überhaupt er¬
hoben wird, ist eines jener unerfreulichen Zwittergebilde, die wieder einmal ent¬
scheidend beweisen, daß sich nicht Feigen vom Dornenstrauche pflücken lassen, daß
es nicht möglich ist, zu gleicher Zeit eine gute Erzählung und ein politisches
Pamphlet zu schreiben, ja daß die Verherrlichung politischen Mcirthrertums in
jeder andern poetischen Form besser und glücklicher erfolgen kann als in der
des Romans. Selbst den Manen Weidigs ist damit der schlechteste Dienst ge¬
leistet, daß der Verfasser völlig in Zweifel läßt, wie weit sich denn eigentlich
die Verschuldung des unglücklichen Pfarrers von Obergleen erstreckt habe, und
die Thatsache, daß er Teilnehmer, beziehentlich Leiter eines politischen Geheim¬
bundes gewesen, in Schatten rückt. Wenn der Roman irgendwem ein tieferes
Interesse an der Persönlichkeit und dem Schicksal einflößen soll, welche dem Ver¬
sasser vorgeschwebt haben, so kann die in diesen drei Bänden beliebte Art der
Darstellung daran wahrlich nnr einen geringen Anteil haben.

Der Verfasser hat gefühlt, daß er, um überhaupt eine Handlung zu ge¬
winnen, Zusammenhang und Folge in die Szenen seines Romans zu bringen,
seiner eignen Erfindung mehr vertrauen müsse als dem aktenmäßigen Material.
Die ersten paar Seiten führen uns mit dem jungen Dr. juris und Hofgerichts-
accessisten Ernst von Diemar im Frühling 1830 nach dem Städtchen Hesfenfeld,
wohin sich der stattliche und gebildete junge Mann selbst verbannt hat, um
die Enttäuschung zu überwinden, welche ihm seine junge und schöne, von
ihm seit Knabentagen geliebte Cousine Irene von Armee bereitet hat. Fräulein
von Armee hat an einem verwachsenen Fuß ihres Vetters so entschiedenen Anstoß
genommen, daß sie sich die Bewerbung des Rittmeisters von Klingenbcrg, den
sie nicht liebt, gefallen läßt und um die Zeit des Beginnes der Erzählung
eben dessen Gemahlin werden soll. Ernst von Diemer hat sonach Grund genug,
sich einsiedlerisch in dem kleinen oberhessischen Nest pessimistischen Gedanken zu
überlassen, und da er ein fein- und hochgebildeter Mann ist, so wird es ihm
niemand verargen, daß er an der Geselligkeit von Hessenfeld kein Behagen findet.
Es wäre poetischer und dem Tone eines Romans angemessener, der Autor ließe
uns durch einige Momente dieser Geselligkeit die Eindrücke, die Herr von
Diemer empfangen muß, lebendig mitempfinden. Müller zieht es indessen vor,
eine Schilderung des Städtchens aus eignen Mitteln zu geben.

„Obgleich kaum ein Menschenalter seit jenen Tagen, von denen wir jetzt
erzählen wollen, verflossen ist, hat doch unsre heutige Generation keinen Begriff
von den damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen in einer süddeutschen Pro-
vinzialstadt, mit vielleicht einem Dutzend sogenannter Honoratiorenfamilien aus
dem Beamten- und ebensoviel Haushaltungen aus dem bessern Bürgerstande,
vom regierenden Herrn Bürgermeister Rothgerber^bis herab zum Spezereihändler


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/588>, abgerufen am 29.12.2024.