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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Die Leipziger Gewandhauskonzerte.

Hunderte der herrlichsten Lieder, die man fürs Leben gern einmal gut hören
möchte, kennen sie garnicht, weil -- ihre Gesanglehrerin sie nicht kannte, haben
sich auch nie darum gekümmert, und wenn sie sie kennen, so singen sie sie
wenigstens nicht öffentlich, weil ihnen das oder jenes Nötchen darin nicht bequem
"liegt." So bekommt man jahraus, jahrein dieselben konusch-pathetischen Arien
zu hören -- köstlich, wenn nach der Ouvertüre so eine Donna an die Schranken
tritt und nun loslegt: Ha, Frevler! dn mich treulos verlassen? -- und dann die üb¬
lichen Liedchen, wie man sie in jedem Theekränzchen hören kaun. Und was für mittel¬
mäßige Kräfte find bisweilen zugelassen und gewiß teuer bezahlt worden! Es ist ja
bekannt, daß im Leipziger Gewandhanskonzert gesungen und gefallen zu haben
wie eine Art von Maturitätszeugnis betrachtet wird, das dann als Reklame
die Runde durch alle Musikzeitungen machen muß. Da drängt sich denn herzu,
was irgend Stimme hat. Und nicht viel anders ist es mit den herumziehenden
Klavierspielern und Klavierspielerinnen, Geigern und Geigerinnen. Die be¬
dauerlichste Folge aber, welche diese Umwandlung der Konzerte gehabt hat, ist
die, daß die Vorführung von Chorwerken, überhaupt größern Ensemblewerken
(auch Liederehklen für eine oder mehrere Stimmen eingeschlossen), immer seltner
geworden ist. In den letzten Jahren galt eine Chvrcmfführung im Gewandhaus¬
konzert geradezu für ein Ereignis. Wie Händel klingt -- wenn es die Leipziger
von heute überhaupt wissen, aus dem Gewandhauskonzert wissen sie es nicht;
seit dreizehn Jahren ist dort kein Händelsches Oratorium gesungen worden.
Schumanns "spanisches Liederspiel" ist -- inoröäibilo äiotu -- noch nie in
einem Gcwaudhauskonzert aufgeführt worden! Die letzten Konzertjahre
sind -- abgesehen von einzelnen wenigen Abenden -- in so ermüdender Ein¬
förmigkeit verlaufen, daß man mitunter wirklich an das Schillersche Distichon über
die Pegnitz erinnert wurde: "Ich fließe nur fort, weil es so hergebracht ist."

So oft man auf diesen veränderten Stand der Konzerte hinwies, erhielt
man stets zur Antwort, daß nur der böse Raummangel an allem schuld sei.
Um ein Oratorium auszuführen, müsse das Orchester vergrößert werden, dadurch
falle eine beträchtliche Anzahl von Sperrsitzen weg, man wolle aber doch den
Abonnenten der betreffenden Plätze, wenn sie auch natürlich jede Woche darauf
gefaßt sein müßten, nicht gern den Kummer bereiten, daß sie ihren Sperrsitz
für ein Konzert einbüßten. "Laßt nur erst das neue Konzerthaus fertig sein,
dann wird alles anders werden! Der neue Saal wird ein hinreichend großes
Orchester bekommen, überdies eine Orgel, die ja zur Aufführung Bachscher und
Händelscher Oratorien unumgänglich nötig ist, und endlich, das ganze Haus wird
einen so großartigen Charakter haben, daß eine Fortsetzung der Konzerte in dem
bisherigen gemütlichen Schlendergange ganz undenkbar ist." Wird diese Hoff¬
nung wenigstens in Erfüllung gehen?

Wir haben das neue Konzerthaus bisher nur von außen gesehen. Es ist
unzweifelhaft der schönste Monumentalbau, den Leipzig bisher aufzuweisen hat,


Die Leipziger Gewandhauskonzerte.

Hunderte der herrlichsten Lieder, die man fürs Leben gern einmal gut hören
möchte, kennen sie garnicht, weil — ihre Gesanglehrerin sie nicht kannte, haben
sich auch nie darum gekümmert, und wenn sie sie kennen, so singen sie sie
wenigstens nicht öffentlich, weil ihnen das oder jenes Nötchen darin nicht bequem
„liegt." So bekommt man jahraus, jahrein dieselben konusch-pathetischen Arien
zu hören — köstlich, wenn nach der Ouvertüre so eine Donna an die Schranken
tritt und nun loslegt: Ha, Frevler! dn mich treulos verlassen? — und dann die üb¬
lichen Liedchen, wie man sie in jedem Theekränzchen hören kaun. Und was für mittel¬
mäßige Kräfte find bisweilen zugelassen und gewiß teuer bezahlt worden! Es ist ja
bekannt, daß im Leipziger Gewandhanskonzert gesungen und gefallen zu haben
wie eine Art von Maturitätszeugnis betrachtet wird, das dann als Reklame
die Runde durch alle Musikzeitungen machen muß. Da drängt sich denn herzu,
was irgend Stimme hat. Und nicht viel anders ist es mit den herumziehenden
Klavierspielern und Klavierspielerinnen, Geigern und Geigerinnen. Die be¬
dauerlichste Folge aber, welche diese Umwandlung der Konzerte gehabt hat, ist
die, daß die Vorführung von Chorwerken, überhaupt größern Ensemblewerken
(auch Liederehklen für eine oder mehrere Stimmen eingeschlossen), immer seltner
geworden ist. In den letzten Jahren galt eine Chvrcmfführung im Gewandhaus¬
konzert geradezu für ein Ereignis. Wie Händel klingt — wenn es die Leipziger
von heute überhaupt wissen, aus dem Gewandhauskonzert wissen sie es nicht;
seit dreizehn Jahren ist dort kein Händelsches Oratorium gesungen worden.
Schumanns „spanisches Liederspiel" ist — inoröäibilo äiotu — noch nie in
einem Gcwaudhauskonzert aufgeführt worden! Die letzten Konzertjahre
sind — abgesehen von einzelnen wenigen Abenden — in so ermüdender Ein¬
förmigkeit verlaufen, daß man mitunter wirklich an das Schillersche Distichon über
die Pegnitz erinnert wurde: „Ich fließe nur fort, weil es so hergebracht ist."

So oft man auf diesen veränderten Stand der Konzerte hinwies, erhielt
man stets zur Antwort, daß nur der böse Raummangel an allem schuld sei.
Um ein Oratorium auszuführen, müsse das Orchester vergrößert werden, dadurch
falle eine beträchtliche Anzahl von Sperrsitzen weg, man wolle aber doch den
Abonnenten der betreffenden Plätze, wenn sie auch natürlich jede Woche darauf
gefaßt sein müßten, nicht gern den Kummer bereiten, daß sie ihren Sperrsitz
für ein Konzert einbüßten. „Laßt nur erst das neue Konzerthaus fertig sein,
dann wird alles anders werden! Der neue Saal wird ein hinreichend großes
Orchester bekommen, überdies eine Orgel, die ja zur Aufführung Bachscher und
Händelscher Oratorien unumgänglich nötig ist, und endlich, das ganze Haus wird
einen so großartigen Charakter haben, daß eine Fortsetzung der Konzerte in dem
bisherigen gemütlichen Schlendergange ganz undenkbar ist." Wird diese Hoff¬
nung wenigstens in Erfüllung gehen?

Wir haben das neue Konzerthaus bisher nur von außen gesehen. Es ist
unzweifelhaft der schönste Monumentalbau, den Leipzig bisher aufzuweisen hat,


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[0532] Die Leipziger Gewandhauskonzerte. Hunderte der herrlichsten Lieder, die man fürs Leben gern einmal gut hören möchte, kennen sie garnicht, weil — ihre Gesanglehrerin sie nicht kannte, haben sich auch nie darum gekümmert, und wenn sie sie kennen, so singen sie sie wenigstens nicht öffentlich, weil ihnen das oder jenes Nötchen darin nicht bequem „liegt." So bekommt man jahraus, jahrein dieselben konusch-pathetischen Arien zu hören — köstlich, wenn nach der Ouvertüre so eine Donna an die Schranken tritt und nun loslegt: Ha, Frevler! dn mich treulos verlassen? — und dann die üb¬ lichen Liedchen, wie man sie in jedem Theekränzchen hören kaun. Und was für mittel¬ mäßige Kräfte find bisweilen zugelassen und gewiß teuer bezahlt worden! Es ist ja bekannt, daß im Leipziger Gewandhanskonzert gesungen und gefallen zu haben wie eine Art von Maturitätszeugnis betrachtet wird, das dann als Reklame die Runde durch alle Musikzeitungen machen muß. Da drängt sich denn herzu, was irgend Stimme hat. Und nicht viel anders ist es mit den herumziehenden Klavierspielern und Klavierspielerinnen, Geigern und Geigerinnen. Die be¬ dauerlichste Folge aber, welche diese Umwandlung der Konzerte gehabt hat, ist die, daß die Vorführung von Chorwerken, überhaupt größern Ensemblewerken (auch Liederehklen für eine oder mehrere Stimmen eingeschlossen), immer seltner geworden ist. In den letzten Jahren galt eine Chvrcmfführung im Gewandhaus¬ konzert geradezu für ein Ereignis. Wie Händel klingt — wenn es die Leipziger von heute überhaupt wissen, aus dem Gewandhauskonzert wissen sie es nicht; seit dreizehn Jahren ist dort kein Händelsches Oratorium gesungen worden. Schumanns „spanisches Liederspiel" ist — inoröäibilo äiotu — noch nie in einem Gcwaudhauskonzert aufgeführt worden! Die letzten Konzertjahre sind — abgesehen von einzelnen wenigen Abenden — in so ermüdender Ein¬ förmigkeit verlaufen, daß man mitunter wirklich an das Schillersche Distichon über die Pegnitz erinnert wurde: „Ich fließe nur fort, weil es so hergebracht ist." So oft man auf diesen veränderten Stand der Konzerte hinwies, erhielt man stets zur Antwort, daß nur der böse Raummangel an allem schuld sei. Um ein Oratorium auszuführen, müsse das Orchester vergrößert werden, dadurch falle eine beträchtliche Anzahl von Sperrsitzen weg, man wolle aber doch den Abonnenten der betreffenden Plätze, wenn sie auch natürlich jede Woche darauf gefaßt sein müßten, nicht gern den Kummer bereiten, daß sie ihren Sperrsitz für ein Konzert einbüßten. „Laßt nur erst das neue Konzerthaus fertig sein, dann wird alles anders werden! Der neue Saal wird ein hinreichend großes Orchester bekommen, überdies eine Orgel, die ja zur Aufführung Bachscher und Händelscher Oratorien unumgänglich nötig ist, und endlich, das ganze Haus wird einen so großartigen Charakter haben, daß eine Fortsetzung der Konzerte in dem bisherigen gemütlichen Schlendergange ganz undenkbar ist." Wird diese Hoff¬ nung wenigstens in Erfüllung gehen? Wir haben das neue Konzerthaus bisher nur von außen gesehen. Es ist unzweifelhaft der schönste Monumentalbau, den Leipzig bisher aufzuweisen hat,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/532>, abgerufen am 29.12.2024.