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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Die Leipziger Gewandhauskonzerte.

Abenden, am 11., 12. und 13. Dezember, stattfinden sollen, wird das neue Haus
die Weihe erhalten.

Große Hoffnungen sind von vielen Seiten an diesen Schritt geknüpft
worden. Vor allem die Hoffnung, daß von nun an der Genuß der Gewand-
hauskonzerte einem wesentlich größeren Kreise zuteil werden würde als bisher.

Der räumliche Notstand des alten Gewandhaussaales war nachgerade sprich¬
wörtlich geworden. Der größte Teil der Plätze befand sich seit Jahrzehnten
in festen Händen. Sich in die lange Liste der Expcktcmten eintragen zu lassen,
galt längst als ein völlig aussichtsloses Beginnen. Man scherzte, daß, wenn
ein Vater seine neugeborne Tochter einschreiben ließe, sie einst als Großmutter
vielleicht Hoffnung haben würde, an die Reihe zu kommen. Dabei ärgerte man
sich, daß es manchen, die noch garnicht so lange auf der Liste stehen konnten,
doch gelang -- weiß der Himmel, durch was für Mittel und Wege --, Plätze
zu erobern. Die Kouzertdirektion that alles mögliche, dem Raummangel abzu¬
helfen. Wo Heuer noch irgend ein Eckchen oder Winkelchen unbenutzt gewesen
war, fand man im nächsten Winter zu seiner Überraschung ein paar Sitzplätze
angebracht. Vor zehn Jahren noch stand ein großer Teil des Mittclganges voll
von Herren, welche nicht zu dem schlechtesten Publikum gehörten; eines schönen Tages
aber waren auch da numerirte Sitze errichtet, und die alten treuen Stammgäste
mußten auswandern und hinaufklettern in den "Hühnerstall," wie man den
kleinen Eingangsraum neben der Mittelloge der Galerie bezeichnet. Als 1879
das Reichsgericht in Leipzig seinen Einzug hielt, machte die Konzertdirektion
eine letzte Anstrengung: sie ließ auf der einen Langseite der Galerie die Wand
durchbrechen und -- wie ein Badebassin am Vogelbauer -- ein Kafterchen mit
etwa vierzig Sitzplätzen dort einrichten, das der Volkswitz dann mit dem Namen
der "Blindenanstalt" belegte, weil es ganz unmöglich war, von dort aus "etwas
zu sehen," das aber trotzdem sofort bis auf den letzten Sitz abonnirt wurde.
Damit war die denkbar letzte Möglichkeit, Platz zu schaffen, erschöpft.

Man stellt sich Leipzig immer als die "Musikstadt" Deutschlands
"5o^^ vor, und das ist sie auch in gewissen Sinne. Was Robert Schumann
vor vierzig Jahren schrieb: "Leipzig bleibt für Musik noch immer >er meint:
trotz Mendelssohns Weggangs die bedeutendste Stadt, und ich würde jedem
jungen Talente raten, dahin zu gehen, wo man so viel, und so viel gute Musik
hört," darf man auch heute noch behaupten; jenes "noch immer" von 1844
gilt auch 1884 noch immer. Es hat einmal jemand im Scherz gesagt, es gebe
in Leipzig wohl wenig Menschen, die schlecht Klavier spielten, und es ist wahr,
nirgends wird vielleicht gute Musik im Hause und in der Familie so gepflegt
wie in Leipzig. Nirgends auch kann man so viel herrliche Kirchenmusik hören,
teils ganz umsonst: in den Sonnabendsmotetten des Thomaschors, teils für
weniges Geld: in den Kirchenkonzerten des Riedelschen Vereins und des Bach¬
vereins. Wer Verbindungen hat, kann sich in den wöchentlichen "Abenduntcr-


Die Leipziger Gewandhauskonzerte.

Abenden, am 11., 12. und 13. Dezember, stattfinden sollen, wird das neue Haus
die Weihe erhalten.

Große Hoffnungen sind von vielen Seiten an diesen Schritt geknüpft
worden. Vor allem die Hoffnung, daß von nun an der Genuß der Gewand-
hauskonzerte einem wesentlich größeren Kreise zuteil werden würde als bisher.

Der räumliche Notstand des alten Gewandhaussaales war nachgerade sprich¬
wörtlich geworden. Der größte Teil der Plätze befand sich seit Jahrzehnten
in festen Händen. Sich in die lange Liste der Expcktcmten eintragen zu lassen,
galt längst als ein völlig aussichtsloses Beginnen. Man scherzte, daß, wenn
ein Vater seine neugeborne Tochter einschreiben ließe, sie einst als Großmutter
vielleicht Hoffnung haben würde, an die Reihe zu kommen. Dabei ärgerte man
sich, daß es manchen, die noch garnicht so lange auf der Liste stehen konnten,
doch gelang — weiß der Himmel, durch was für Mittel und Wege —, Plätze
zu erobern. Die Kouzertdirektion that alles mögliche, dem Raummangel abzu¬
helfen. Wo Heuer noch irgend ein Eckchen oder Winkelchen unbenutzt gewesen
war, fand man im nächsten Winter zu seiner Überraschung ein paar Sitzplätze
angebracht. Vor zehn Jahren noch stand ein großer Teil des Mittclganges voll
von Herren, welche nicht zu dem schlechtesten Publikum gehörten; eines schönen Tages
aber waren auch da numerirte Sitze errichtet, und die alten treuen Stammgäste
mußten auswandern und hinaufklettern in den „Hühnerstall," wie man den
kleinen Eingangsraum neben der Mittelloge der Galerie bezeichnet. Als 1879
das Reichsgericht in Leipzig seinen Einzug hielt, machte die Konzertdirektion
eine letzte Anstrengung: sie ließ auf der einen Langseite der Galerie die Wand
durchbrechen und — wie ein Badebassin am Vogelbauer — ein Kafterchen mit
etwa vierzig Sitzplätzen dort einrichten, das der Volkswitz dann mit dem Namen
der „Blindenanstalt" belegte, weil es ganz unmöglich war, von dort aus „etwas
zu sehen," das aber trotzdem sofort bis auf den letzten Sitz abonnirt wurde.
Damit war die denkbar letzte Möglichkeit, Platz zu schaffen, erschöpft.

Man stellt sich Leipzig immer als die „Musikstadt" Deutschlands
«5o^^ vor, und das ist sie auch in gewissen Sinne. Was Robert Schumann
vor vierzig Jahren schrieb: „Leipzig bleibt für Musik noch immer >er meint:
trotz Mendelssohns Weggangs die bedeutendste Stadt, und ich würde jedem
jungen Talente raten, dahin zu gehen, wo man so viel, und so viel gute Musik
hört," darf man auch heute noch behaupten; jenes „noch immer" von 1844
gilt auch 1884 noch immer. Es hat einmal jemand im Scherz gesagt, es gebe
in Leipzig wohl wenig Menschen, die schlecht Klavier spielten, und es ist wahr,
nirgends wird vielleicht gute Musik im Hause und in der Familie so gepflegt
wie in Leipzig. Nirgends auch kann man so viel herrliche Kirchenmusik hören,
teils ganz umsonst: in den Sonnabendsmotetten des Thomaschors, teils für
weniges Geld: in den Kirchenkonzerten des Riedelschen Vereins und des Bach¬
vereins. Wer Verbindungen hat, kann sich in den wöchentlichen „Abenduntcr-


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[0527] Die Leipziger Gewandhauskonzerte. Abenden, am 11., 12. und 13. Dezember, stattfinden sollen, wird das neue Haus die Weihe erhalten. Große Hoffnungen sind von vielen Seiten an diesen Schritt geknüpft worden. Vor allem die Hoffnung, daß von nun an der Genuß der Gewand- hauskonzerte einem wesentlich größeren Kreise zuteil werden würde als bisher. Der räumliche Notstand des alten Gewandhaussaales war nachgerade sprich¬ wörtlich geworden. Der größte Teil der Plätze befand sich seit Jahrzehnten in festen Händen. Sich in die lange Liste der Expcktcmten eintragen zu lassen, galt längst als ein völlig aussichtsloses Beginnen. Man scherzte, daß, wenn ein Vater seine neugeborne Tochter einschreiben ließe, sie einst als Großmutter vielleicht Hoffnung haben würde, an die Reihe zu kommen. Dabei ärgerte man sich, daß es manchen, die noch garnicht so lange auf der Liste stehen konnten, doch gelang — weiß der Himmel, durch was für Mittel und Wege —, Plätze zu erobern. Die Kouzertdirektion that alles mögliche, dem Raummangel abzu¬ helfen. Wo Heuer noch irgend ein Eckchen oder Winkelchen unbenutzt gewesen war, fand man im nächsten Winter zu seiner Überraschung ein paar Sitzplätze angebracht. Vor zehn Jahren noch stand ein großer Teil des Mittclganges voll von Herren, welche nicht zu dem schlechtesten Publikum gehörten; eines schönen Tages aber waren auch da numerirte Sitze errichtet, und die alten treuen Stammgäste mußten auswandern und hinaufklettern in den „Hühnerstall," wie man den kleinen Eingangsraum neben der Mittelloge der Galerie bezeichnet. Als 1879 das Reichsgericht in Leipzig seinen Einzug hielt, machte die Konzertdirektion eine letzte Anstrengung: sie ließ auf der einen Langseite der Galerie die Wand durchbrechen und — wie ein Badebassin am Vogelbauer — ein Kafterchen mit etwa vierzig Sitzplätzen dort einrichten, das der Volkswitz dann mit dem Namen der „Blindenanstalt" belegte, weil es ganz unmöglich war, von dort aus „etwas zu sehen," das aber trotzdem sofort bis auf den letzten Sitz abonnirt wurde. Damit war die denkbar letzte Möglichkeit, Platz zu schaffen, erschöpft. Man stellt sich Leipzig immer als die „Musikstadt" Deutschlands «5o^^ vor, und das ist sie auch in gewissen Sinne. Was Robert Schumann vor vierzig Jahren schrieb: „Leipzig bleibt für Musik noch immer >er meint: trotz Mendelssohns Weggangs die bedeutendste Stadt, und ich würde jedem jungen Talente raten, dahin zu gehen, wo man so viel, und so viel gute Musik hört," darf man auch heute noch behaupten; jenes „noch immer" von 1844 gilt auch 1884 noch immer. Es hat einmal jemand im Scherz gesagt, es gebe in Leipzig wohl wenig Menschen, die schlecht Klavier spielten, und es ist wahr, nirgends wird vielleicht gute Musik im Hause und in der Familie so gepflegt wie in Leipzig. Nirgends auch kann man so viel herrliche Kirchenmusik hören, teils ganz umsonst: in den Sonnabendsmotetten des Thomaschors, teils für weniges Geld: in den Kirchenkonzerten des Riedelschen Vereins und des Bach¬ vereins. Wer Verbindungen hat, kann sich in den wöchentlichen „Abenduntcr-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/527>, abgerufen am 29.12.2024.