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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Zur Trinkgelderfrago.

das Niveau geschäftlicher Spekulation herabzudrücken. Dies würde vermieden
und der Charakter freier Gegenseitigkeit besser gewahrt bleiben, wenn es anginge,
unser Wohlwollen statt durch Geld durch andre Geschenke, etwa durch ein Konzert¬
billet, einen Schlips, eine Garnitur Hemdenknöpfe?c, auszusprechen, und insofern
stimme ich Lammers bei, daß er am "Trinkgeld" Anstoß nimmt wegen der im
Wortlaut ausgedrückten Bestimmung, die eben geradezu zu einer bedenklichen Ver¬
wendung unsers Geschenks aufzufordern scheint.

Jedenfalls wird man zugeben müssen, daß die Benennung "Trinkgeld"
für die Erfassung des Wesens der damit zusammenhängenden Gewohnheiten
nicht eben günstig gewesen ist. Es ist äußerst schwer, alle Arten des Trinkgeldes
in den Rahmen einer festen, befriedigenden Definition zusammenzufassen. Man
kann etwa sagen: Trinkgeld ist ein Geldstück, das man einer der niedern Ge¬
sellschaftsklasse angehörigen Person ans freien Stücken giebt für eine wirkliche
oder eingebildete Bemühung. Ich sage "aus freien Stücken," insofern ein Trink¬
geld nie auf dem Rechtswege eingefordert werden kann; aber abgesehen hiervon
trifft das dem Begriff "Trinkgeld" ursprünglich anhaftende Moment der Frei¬
willigkeit vielfach nicht mehr den Kern der Sache. Es giebt eine ganze Reihe
von Fällen, in denen ein Trinkgeld so fest und allgemein in den Gewohnheiten
und Anschauungen eingewurzelt ist, daß ein Versuch, sich ihm zu entziehen, gerade¬
zu dem Rechtsbewußtsein der beteiligten Kreise ins Gesicht schlagen würde. Es
hat durch den öffentlichen Willen den Charakter eines Rechtsanspruchs erhalten
und wird von jedermann ebenso selbstverständlich bezahlt, als stünde es auf der
Rechnung. Das Trinkgeld ist hier nicht ein Plus über die Bezahlung, das man
giebt oder nicht giebt, sondern das Äquivalent, das einzige oder doch wesentliche
Äquivalent einer regelmäßigen und bestimmten Leistung. Dies ist z. B. überall
in Wien da der Fall, wo der Kellner des Cafös oder Restaurants vom Wirt
für seine Bezahlung auf die Trinkgelder angewiesen ist. Daß ich dem Kellner,
welcher die Zahlung in Empfang nimmt, einige Kreuzer darauflegen muß, steht
nirgends geschrieben, und er hat kein Mittel, mich zu zwingen; aber ich, kann
mich nicht beklagen, wenn er mich als schofeln Patron behandelt, als eiuen
Knoten, der die rechte Thür verfehlt hat und der besser nebenan in der Kneipe
neben Fiakern und Dienstmännern Platz genommen hätte. In solchen Fällen
pflegt auch der Betrag des Trinkgeldes ziemlich fest bemessen zu sein, und ich
weiß genau, daß ich für ein Mittagessen fünf Kreuzer, fiir Abendbrot vier und
für einen Kaffee oder ein Bier zwei bis drei Kreuzer zu entrichten habe. Dies
Trinkgeld ist eine so selbstverständliche Selbstbesteuerung, daß kein Eingeborner
daran Anstoß nimmt; nur der Fremde, besonders der norddeutsche, ärgert sich,
weil er gewohnt ist, die Aufwartung schon im Tarif berichtigt zu sehen und
den Gedanken nicht loswerden kann, daß man ihn doppelt zahlen lasse. In
den bessern Lokalen Wiens wird eben Speise und Trank besonders und Be¬
dienung besonders gezahlt, das erstere in strengerer, das andre in freierer Form,


Zur Trinkgelderfrago.

das Niveau geschäftlicher Spekulation herabzudrücken. Dies würde vermieden
und der Charakter freier Gegenseitigkeit besser gewahrt bleiben, wenn es anginge,
unser Wohlwollen statt durch Geld durch andre Geschenke, etwa durch ein Konzert¬
billet, einen Schlips, eine Garnitur Hemdenknöpfe?c, auszusprechen, und insofern
stimme ich Lammers bei, daß er am „Trinkgeld" Anstoß nimmt wegen der im
Wortlaut ausgedrückten Bestimmung, die eben geradezu zu einer bedenklichen Ver¬
wendung unsers Geschenks aufzufordern scheint.

Jedenfalls wird man zugeben müssen, daß die Benennung „Trinkgeld"
für die Erfassung des Wesens der damit zusammenhängenden Gewohnheiten
nicht eben günstig gewesen ist. Es ist äußerst schwer, alle Arten des Trinkgeldes
in den Rahmen einer festen, befriedigenden Definition zusammenzufassen. Man
kann etwa sagen: Trinkgeld ist ein Geldstück, das man einer der niedern Ge¬
sellschaftsklasse angehörigen Person ans freien Stücken giebt für eine wirkliche
oder eingebildete Bemühung. Ich sage „aus freien Stücken," insofern ein Trink¬
geld nie auf dem Rechtswege eingefordert werden kann; aber abgesehen hiervon
trifft das dem Begriff „Trinkgeld" ursprünglich anhaftende Moment der Frei¬
willigkeit vielfach nicht mehr den Kern der Sache. Es giebt eine ganze Reihe
von Fällen, in denen ein Trinkgeld so fest und allgemein in den Gewohnheiten
und Anschauungen eingewurzelt ist, daß ein Versuch, sich ihm zu entziehen, gerade¬
zu dem Rechtsbewußtsein der beteiligten Kreise ins Gesicht schlagen würde. Es
hat durch den öffentlichen Willen den Charakter eines Rechtsanspruchs erhalten
und wird von jedermann ebenso selbstverständlich bezahlt, als stünde es auf der
Rechnung. Das Trinkgeld ist hier nicht ein Plus über die Bezahlung, das man
giebt oder nicht giebt, sondern das Äquivalent, das einzige oder doch wesentliche
Äquivalent einer regelmäßigen und bestimmten Leistung. Dies ist z. B. überall
in Wien da der Fall, wo der Kellner des Cafös oder Restaurants vom Wirt
für seine Bezahlung auf die Trinkgelder angewiesen ist. Daß ich dem Kellner,
welcher die Zahlung in Empfang nimmt, einige Kreuzer darauflegen muß, steht
nirgends geschrieben, und er hat kein Mittel, mich zu zwingen; aber ich, kann
mich nicht beklagen, wenn er mich als schofeln Patron behandelt, als eiuen
Knoten, der die rechte Thür verfehlt hat und der besser nebenan in der Kneipe
neben Fiakern und Dienstmännern Platz genommen hätte. In solchen Fällen
pflegt auch der Betrag des Trinkgeldes ziemlich fest bemessen zu sein, und ich
weiß genau, daß ich für ein Mittagessen fünf Kreuzer, fiir Abendbrot vier und
für einen Kaffee oder ein Bier zwei bis drei Kreuzer zu entrichten habe. Dies
Trinkgeld ist eine so selbstverständliche Selbstbesteuerung, daß kein Eingeborner
daran Anstoß nimmt; nur der Fremde, besonders der norddeutsche, ärgert sich,
weil er gewohnt ist, die Aufwartung schon im Tarif berichtigt zu sehen und
den Gedanken nicht loswerden kann, daß man ihn doppelt zahlen lasse. In
den bessern Lokalen Wiens wird eben Speise und Trank besonders und Be¬
dienung besonders gezahlt, das erstere in strengerer, das andre in freierer Form,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/40>, abgerufen am 28.12.2024.