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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Die Venezianer zu Hause.

Es war der Höhepunkt venezianischer Macht, ein rasch überschrittener Steil¬
gipfel. Denn schon 1603 gingen ihre moreotischen Besitzungen an die Türken
verloren, 1509 erschütterte die furchtbare Niederlage bei Valla (Agnadello, Ghiara
d'Adda) ihr Ansehen als Landmacht, sie lies; Franzosen und Spanier in Italien
sich festsetzen und wahrte nur mit Mühe ihren levantinischen Besitzstand gegen
die Osmanen, bis die türkische Eroberung Cyperns 1571 die Reihe der großen
Verluste eröffnete, ohne daß der Ruhmestag von Lepanto daran etwas zu
ändern vermochte.

Das alles war erreicht worden von einem Boden aus, den erst eine un¬
geheure, langsame, unermüdliche Arbeit bewohnbar machte, ja dem Meere entriß.
Etwa sechzig bis siebzig kleine, flache Inseln tragen die heutige Stadt. Der
Staat überließ den Privatleuten die einzelnen Gründe, soweit er sie nicht selbst
benutzte, zum Anbau, deshalb waren die Uferbäume (tonäg.insntÄ), die engen
Gassen (osUi), selbst die Brücken in der Regel Privatbesitz und nach ihren Eigen¬
tümern benannt. Jede Gruppe von Ansiedlern pflegte dann eine Kirche zu
errichten, deren Patronat sich die neue Gemeinde vorbehielt. So räumte der
Doge Orso Partecipazio (864--881) die Giudecca (d. i. Judeuiusel) den Bar-
bolani, Jscoli, Selvi ein, welche San Eufemia erbauten; so wurde der Dvrso-
durv, der Landrücken gegenüber der Gindecca an der Südseite des großen
Kanals, im neunten Jahrhundert von Fischern besiedelt, gegen Ende des zwölften
Jahrhunderts auf einer sumpfigen Insel das Arsenal erbaut.

Etwa um 1200 erreichte die Stadt ihre gegenwärtige Ausdehnung. Sie
zerfiel seitdem in sechs Bezirke (ssstisri), drei auf jeder Seite des Kanals, deren
jeder nach Kirchspielen sich gliederte. Auch die Inseln außerhalb des Umkreises
nahmen allmählich Bewohner auf: Santa Elena machten die Mönche des Klosters
San Oliveto urbar, die Certosa die Karthäuser, nach denen sie heißt. Das
Ansehen der Stadt muß allerdings in diesen Jahrhunderten und zum Teil bis
gegen Ende des Mittelalters noch ein höchst fremdartiges, vielfach sogar sehr
unschönes gewesen sein. Die Privathäuser waren bis zu den großen Bründeu
der Jahre 1102, 1114, 1149, 1167 fast durchweg von Holz und mit Schindeln
oder Stroh gedeckt; erst seitdem ging man zum Ziegelbau über. Auch die
Paläste mögen anfangs noch aus jenen Materialien erbaut worden sein, denn
der Dogenpalast brannte im Jahre 976 völlig ab und erhielt seine jetzige Ge¬
stalt erst allmählich seit dem vierzehnten Jahrhundert. Nur die Kirchen ragten
bald durch solidere Ausführung hervor, zu welcher die nahen Ruinen antiker
Städte, wie die von Aquileja, die bequemste Gelegenheit boten. Die Gassen
blieben bis ins dreizehnte Jahrhundert ungepflastert, erst damals begann man
die breiteren mit Backsteinen auszusetzen. Die insrosria. Zrgnäs, die berühmte
Juwelierstraße, die vom Markusplatze aus durch den Uhrturm (torrs äsll'
orolcissio) nordwärts zum Rialto führt, war damals mit Bäumen bepflanzt, und da,
wo heute der Uhrturm steht, erhob sich ein großer Hollunderbusch. Noch waren die


Grenzboten IV. 1834. 41
Die Venezianer zu Hause.

Es war der Höhepunkt venezianischer Macht, ein rasch überschrittener Steil¬
gipfel. Denn schon 1603 gingen ihre moreotischen Besitzungen an die Türken
verloren, 1509 erschütterte die furchtbare Niederlage bei Valla (Agnadello, Ghiara
d'Adda) ihr Ansehen als Landmacht, sie lies; Franzosen und Spanier in Italien
sich festsetzen und wahrte nur mit Mühe ihren levantinischen Besitzstand gegen
die Osmanen, bis die türkische Eroberung Cyperns 1571 die Reihe der großen
Verluste eröffnete, ohne daß der Ruhmestag von Lepanto daran etwas zu
ändern vermochte.

Das alles war erreicht worden von einem Boden aus, den erst eine un¬
geheure, langsame, unermüdliche Arbeit bewohnbar machte, ja dem Meere entriß.
Etwa sechzig bis siebzig kleine, flache Inseln tragen die heutige Stadt. Der
Staat überließ den Privatleuten die einzelnen Gründe, soweit er sie nicht selbst
benutzte, zum Anbau, deshalb waren die Uferbäume (tonäg.insntÄ), die engen
Gassen (osUi), selbst die Brücken in der Regel Privatbesitz und nach ihren Eigen¬
tümern benannt. Jede Gruppe von Ansiedlern pflegte dann eine Kirche zu
errichten, deren Patronat sich die neue Gemeinde vorbehielt. So räumte der
Doge Orso Partecipazio (864—881) die Giudecca (d. i. Judeuiusel) den Bar-
bolani, Jscoli, Selvi ein, welche San Eufemia erbauten; so wurde der Dvrso-
durv, der Landrücken gegenüber der Gindecca an der Südseite des großen
Kanals, im neunten Jahrhundert von Fischern besiedelt, gegen Ende des zwölften
Jahrhunderts auf einer sumpfigen Insel das Arsenal erbaut.

Etwa um 1200 erreichte die Stadt ihre gegenwärtige Ausdehnung. Sie
zerfiel seitdem in sechs Bezirke (ssstisri), drei auf jeder Seite des Kanals, deren
jeder nach Kirchspielen sich gliederte. Auch die Inseln außerhalb des Umkreises
nahmen allmählich Bewohner auf: Santa Elena machten die Mönche des Klosters
San Oliveto urbar, die Certosa die Karthäuser, nach denen sie heißt. Das
Ansehen der Stadt muß allerdings in diesen Jahrhunderten und zum Teil bis
gegen Ende des Mittelalters noch ein höchst fremdartiges, vielfach sogar sehr
unschönes gewesen sein. Die Privathäuser waren bis zu den großen Bründeu
der Jahre 1102, 1114, 1149, 1167 fast durchweg von Holz und mit Schindeln
oder Stroh gedeckt; erst seitdem ging man zum Ziegelbau über. Auch die
Paläste mögen anfangs noch aus jenen Materialien erbaut worden sein, denn
der Dogenpalast brannte im Jahre 976 völlig ab und erhielt seine jetzige Ge¬
stalt erst allmählich seit dem vierzehnten Jahrhundert. Nur die Kirchen ragten
bald durch solidere Ausführung hervor, zu welcher die nahen Ruinen antiker
Städte, wie die von Aquileja, die bequemste Gelegenheit boten. Die Gassen
blieben bis ins dreizehnte Jahrhundert ungepflastert, erst damals begann man
die breiteren mit Backsteinen auszusetzen. Die insrosria. Zrgnäs, die berühmte
Juwelierstraße, die vom Markusplatze aus durch den Uhrturm (torrs äsll'
orolcissio) nordwärts zum Rialto führt, war damals mit Bäumen bepflanzt, und da,
wo heute der Uhrturm steht, erhob sich ein großer Hollunderbusch. Noch waren die


Grenzboten IV. 1834. 41
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[0329] Die Venezianer zu Hause. Es war der Höhepunkt venezianischer Macht, ein rasch überschrittener Steil¬ gipfel. Denn schon 1603 gingen ihre moreotischen Besitzungen an die Türken verloren, 1509 erschütterte die furchtbare Niederlage bei Valla (Agnadello, Ghiara d'Adda) ihr Ansehen als Landmacht, sie lies; Franzosen und Spanier in Italien sich festsetzen und wahrte nur mit Mühe ihren levantinischen Besitzstand gegen die Osmanen, bis die türkische Eroberung Cyperns 1571 die Reihe der großen Verluste eröffnete, ohne daß der Ruhmestag von Lepanto daran etwas zu ändern vermochte. Das alles war erreicht worden von einem Boden aus, den erst eine un¬ geheure, langsame, unermüdliche Arbeit bewohnbar machte, ja dem Meere entriß. Etwa sechzig bis siebzig kleine, flache Inseln tragen die heutige Stadt. Der Staat überließ den Privatleuten die einzelnen Gründe, soweit er sie nicht selbst benutzte, zum Anbau, deshalb waren die Uferbäume (tonäg.insntÄ), die engen Gassen (osUi), selbst die Brücken in der Regel Privatbesitz und nach ihren Eigen¬ tümern benannt. Jede Gruppe von Ansiedlern pflegte dann eine Kirche zu errichten, deren Patronat sich die neue Gemeinde vorbehielt. So räumte der Doge Orso Partecipazio (864—881) die Giudecca (d. i. Judeuiusel) den Bar- bolani, Jscoli, Selvi ein, welche San Eufemia erbauten; so wurde der Dvrso- durv, der Landrücken gegenüber der Gindecca an der Südseite des großen Kanals, im neunten Jahrhundert von Fischern besiedelt, gegen Ende des zwölften Jahrhunderts auf einer sumpfigen Insel das Arsenal erbaut. Etwa um 1200 erreichte die Stadt ihre gegenwärtige Ausdehnung. Sie zerfiel seitdem in sechs Bezirke (ssstisri), drei auf jeder Seite des Kanals, deren jeder nach Kirchspielen sich gliederte. Auch die Inseln außerhalb des Umkreises nahmen allmählich Bewohner auf: Santa Elena machten die Mönche des Klosters San Oliveto urbar, die Certosa die Karthäuser, nach denen sie heißt. Das Ansehen der Stadt muß allerdings in diesen Jahrhunderten und zum Teil bis gegen Ende des Mittelalters noch ein höchst fremdartiges, vielfach sogar sehr unschönes gewesen sein. Die Privathäuser waren bis zu den großen Bründeu der Jahre 1102, 1114, 1149, 1167 fast durchweg von Holz und mit Schindeln oder Stroh gedeckt; erst seitdem ging man zum Ziegelbau über. Auch die Paläste mögen anfangs noch aus jenen Materialien erbaut worden sein, denn der Dogenpalast brannte im Jahre 976 völlig ab und erhielt seine jetzige Ge¬ stalt erst allmählich seit dem vierzehnten Jahrhundert. Nur die Kirchen ragten bald durch solidere Ausführung hervor, zu welcher die nahen Ruinen antiker Städte, wie die von Aquileja, die bequemste Gelegenheit boten. Die Gassen blieben bis ins dreizehnte Jahrhundert ungepflastert, erst damals begann man die breiteren mit Backsteinen auszusetzen. Die insrosria. Zrgnäs, die berühmte Juwelierstraße, die vom Markusplatze aus durch den Uhrturm (torrs äsll' orolcissio) nordwärts zum Rialto führt, war damals mit Bäumen bepflanzt, und da, wo heute der Uhrturm steht, erhob sich ein großer Hollunderbusch. Noch waren die Grenzboten IV. 1834. 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/329>, abgerufen am 29.12.2024.