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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Die Venezianer zu Hause.

derart wurden nur neue Schutzwehren aufgerichtet, der aristokratische Charakter
der Verfassung nur noch verschärft. Der Verschwörung Tiepolos im Jahre
1310 folgte die Einsetzung des "Rates der Zehn" (oonÄAlio asi äisoi), jener
berufenen Behörde, die mit unbeschränkter Vollmacht überall einzugreifen hatte,
wo Geheimnis und Schnelligkeit zugleich erforderlich schienen, übrigens durch
die Verantwortlichkeit ihrer jährlich wechselnden Mitglieder vor Mißbrauch ihrer
Macht ungleich mehr geschützt war, als man anzunehmen geneigt ist. Den
Versuch, mit Hilfe der Arsenalarbeiter die Aristokratie zu stürzen und eine Ty-
rannis aufzurichten, bezahlte der Urheber, der greise Doge Marino Falieri,
mit seinem Kopfe, und noch heute sieht man in der Reihe der Dogenbildnissc
im Saale des Großen Rates da, wo Falieris Porträt stehen sollte, eine leere
schwarze Stelle mit der goldenen Inschrift: Socius Ug.rim ?g,1istnri, äso^xitM
xro oriminö (1355). Seitdem gingen die wichtigsten Befugnisse vom Großen
Rate auf den "Senat" der Pregadi über, eine Versammlung von 60, dann 120,
endlich etwa 300 Nobili, die alljährlich gewählt wurden. Die Entwicklung der
venezianischen Verfassung war abgeschlossen.

Umso fester und stetiger lenkte die Aristokratie den Staat, von enormem
Reichtums und stolzen" Selbstbewußtsein getragen, geleitet von einer ununter¬
brochenen, festgegründeten Tradition vieler Generationen, von der nüchternsten,
lediglich das Interesse des Staates als Richtschnur alles Handelns festhaltenden
Erwägung, unbekümmert um politische oder kirchliche Ideale, unbeirrt selbst durch
sittliche Skrupel, gegenüber den Unterthanen ebenso streng gerecht wie mild und
vorsichtig, alles ans Berechnung. So stieg die Marknsrepublik in wenigen Jahr¬
zehnten zu einer Macht ersten Ranges empor. In fünfzehnjährigen Kampfe
brach Venedig die Macht seiner Rivalin Genua (1367--1382). Es begann
die Eroberung des oberitalienischen Festlandes, halb gezwungen, um die Tyrannis
in seinen Städten zu zerstören, die ihm selbst gefährlich werden konnte, deshalb
von ihren Bewohnern mehr als Befreierin wie als Herrscherin begrüßt: bereits um
1450 gehorchte ihm dort das ganze Gebiet bis an die Adda, seit 1423 auch Friaul.
Doch sein Schwergewicht warf der Staat ans die Levante, als dort das byzanti¬
nische Reich unter den Schlägen der Türken zusammensank. 1386 nahm Antonio
Venier Korfu, Durazzo und Argos, 1408 Michiele Steno Lepanto und Patras,
1421 eroberte Tommaso Mocenigo ganz Dalmatien, 1462--1471 Cristoforo Moro
Morea; 1489 nötigte die Republik ihre "Tochter" Katharina Cornaro, die schöne
Witwe des letzten Lusignan, die sie bei ihrer Vermählung im Jahre 1472 in
weiser Voraussicht adoptirt und mit 100 000 Dukaten ausgestattet hatte, durch
ihren eignen Bruder zum Verzicht auf das herrliche Cypern, 1483 fiel Zarte,
1500 Cefalonia in ihre Hand. Seitdem wallten an festlichen Tagen von den
hohen Flaggenmasten auf der Piazza die Banner der drei Königreiche Candia,
Cypern und Morea, über die der Markuslöwe seine Flügel spannte.


Die Venezianer zu Hause.

derart wurden nur neue Schutzwehren aufgerichtet, der aristokratische Charakter
der Verfassung nur noch verschärft. Der Verschwörung Tiepolos im Jahre
1310 folgte die Einsetzung des „Rates der Zehn" (oonÄAlio asi äisoi), jener
berufenen Behörde, die mit unbeschränkter Vollmacht überall einzugreifen hatte,
wo Geheimnis und Schnelligkeit zugleich erforderlich schienen, übrigens durch
die Verantwortlichkeit ihrer jährlich wechselnden Mitglieder vor Mißbrauch ihrer
Macht ungleich mehr geschützt war, als man anzunehmen geneigt ist. Den
Versuch, mit Hilfe der Arsenalarbeiter die Aristokratie zu stürzen und eine Ty-
rannis aufzurichten, bezahlte der Urheber, der greise Doge Marino Falieri,
mit seinem Kopfe, und noch heute sieht man in der Reihe der Dogenbildnissc
im Saale des Großen Rates da, wo Falieris Porträt stehen sollte, eine leere
schwarze Stelle mit der goldenen Inschrift: Socius Ug.rim ?g,1istnri, äso^xitM
xro oriminö (1355). Seitdem gingen die wichtigsten Befugnisse vom Großen
Rate auf den „Senat" der Pregadi über, eine Versammlung von 60, dann 120,
endlich etwa 300 Nobili, die alljährlich gewählt wurden. Die Entwicklung der
venezianischen Verfassung war abgeschlossen.

Umso fester und stetiger lenkte die Aristokratie den Staat, von enormem
Reichtums und stolzen« Selbstbewußtsein getragen, geleitet von einer ununter¬
brochenen, festgegründeten Tradition vieler Generationen, von der nüchternsten,
lediglich das Interesse des Staates als Richtschnur alles Handelns festhaltenden
Erwägung, unbekümmert um politische oder kirchliche Ideale, unbeirrt selbst durch
sittliche Skrupel, gegenüber den Unterthanen ebenso streng gerecht wie mild und
vorsichtig, alles ans Berechnung. So stieg die Marknsrepublik in wenigen Jahr¬
zehnten zu einer Macht ersten Ranges empor. In fünfzehnjährigen Kampfe
brach Venedig die Macht seiner Rivalin Genua (1367—1382). Es begann
die Eroberung des oberitalienischen Festlandes, halb gezwungen, um die Tyrannis
in seinen Städten zu zerstören, die ihm selbst gefährlich werden konnte, deshalb
von ihren Bewohnern mehr als Befreierin wie als Herrscherin begrüßt: bereits um
1450 gehorchte ihm dort das ganze Gebiet bis an die Adda, seit 1423 auch Friaul.
Doch sein Schwergewicht warf der Staat ans die Levante, als dort das byzanti¬
nische Reich unter den Schlägen der Türken zusammensank. 1386 nahm Antonio
Venier Korfu, Durazzo und Argos, 1408 Michiele Steno Lepanto und Patras,
1421 eroberte Tommaso Mocenigo ganz Dalmatien, 1462—1471 Cristoforo Moro
Morea; 1489 nötigte die Republik ihre „Tochter" Katharina Cornaro, die schöne
Witwe des letzten Lusignan, die sie bei ihrer Vermählung im Jahre 1472 in
weiser Voraussicht adoptirt und mit 100 000 Dukaten ausgestattet hatte, durch
ihren eignen Bruder zum Verzicht auf das herrliche Cypern, 1483 fiel Zarte,
1500 Cefalonia in ihre Hand. Seitdem wallten an festlichen Tagen von den
hohen Flaggenmasten auf der Piazza die Banner der drei Königreiche Candia,
Cypern und Morea, über die der Markuslöwe seine Flügel spannte.


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[0328] Die Venezianer zu Hause. derart wurden nur neue Schutzwehren aufgerichtet, der aristokratische Charakter der Verfassung nur noch verschärft. Der Verschwörung Tiepolos im Jahre 1310 folgte die Einsetzung des „Rates der Zehn" (oonÄAlio asi äisoi), jener berufenen Behörde, die mit unbeschränkter Vollmacht überall einzugreifen hatte, wo Geheimnis und Schnelligkeit zugleich erforderlich schienen, übrigens durch die Verantwortlichkeit ihrer jährlich wechselnden Mitglieder vor Mißbrauch ihrer Macht ungleich mehr geschützt war, als man anzunehmen geneigt ist. Den Versuch, mit Hilfe der Arsenalarbeiter die Aristokratie zu stürzen und eine Ty- rannis aufzurichten, bezahlte der Urheber, der greise Doge Marino Falieri, mit seinem Kopfe, und noch heute sieht man in der Reihe der Dogenbildnissc im Saale des Großen Rates da, wo Falieris Porträt stehen sollte, eine leere schwarze Stelle mit der goldenen Inschrift: Socius Ug.rim ?g,1istnri, äso^xitM xro oriminö (1355). Seitdem gingen die wichtigsten Befugnisse vom Großen Rate auf den „Senat" der Pregadi über, eine Versammlung von 60, dann 120, endlich etwa 300 Nobili, die alljährlich gewählt wurden. Die Entwicklung der venezianischen Verfassung war abgeschlossen. Umso fester und stetiger lenkte die Aristokratie den Staat, von enormem Reichtums und stolzen« Selbstbewußtsein getragen, geleitet von einer ununter¬ brochenen, festgegründeten Tradition vieler Generationen, von der nüchternsten, lediglich das Interesse des Staates als Richtschnur alles Handelns festhaltenden Erwägung, unbekümmert um politische oder kirchliche Ideale, unbeirrt selbst durch sittliche Skrupel, gegenüber den Unterthanen ebenso streng gerecht wie mild und vorsichtig, alles ans Berechnung. So stieg die Marknsrepublik in wenigen Jahr¬ zehnten zu einer Macht ersten Ranges empor. In fünfzehnjährigen Kampfe brach Venedig die Macht seiner Rivalin Genua (1367—1382). Es begann die Eroberung des oberitalienischen Festlandes, halb gezwungen, um die Tyrannis in seinen Städten zu zerstören, die ihm selbst gefährlich werden konnte, deshalb von ihren Bewohnern mehr als Befreierin wie als Herrscherin begrüßt: bereits um 1450 gehorchte ihm dort das ganze Gebiet bis an die Adda, seit 1423 auch Friaul. Doch sein Schwergewicht warf der Staat ans die Levante, als dort das byzanti¬ nische Reich unter den Schlägen der Türken zusammensank. 1386 nahm Antonio Venier Korfu, Durazzo und Argos, 1408 Michiele Steno Lepanto und Patras, 1421 eroberte Tommaso Mocenigo ganz Dalmatien, 1462—1471 Cristoforo Moro Morea; 1489 nötigte die Republik ihre „Tochter" Katharina Cornaro, die schöne Witwe des letzten Lusignan, die sie bei ihrer Vermählung im Jahre 1472 in weiser Voraussicht adoptirt und mit 100 000 Dukaten ausgestattet hatte, durch ihren eignen Bruder zum Verzicht auf das herrliche Cypern, 1483 fiel Zarte, 1500 Cefalonia in ihre Hand. Seitdem wallten an festlichen Tagen von den hohen Flaggenmasten auf der Piazza die Banner der drei Königreiche Candia, Cypern und Morea, über die der Markuslöwe seine Flügel spannte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/328>, abgerufen am 29.12.2024.