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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Auch ein deutscher Literarhistoriker.

Stellung als notwendige Ergänzung einzufügen. Vielmehr beklagt er sich
wiederholt, daß diese Arbeit, ein Seitenstück zu seiner eignen, noch von niemand
in Angriff genommen worden sei, und zeigt auch hier wiederum, daß er über
Dinge redet, in denen er sich nicht umgesehen hat.

Dem Quellenverzeichnis folgt eine Einleitung, die unter anderm eine kurze
Übersicht der Entwicklung des deutschen Volksliedes und des Interesses am
Volksliede bringt; wir hören, wie Herder seiner Mitwelt den Sinn für den
reichen poetischen Gehalt der Volkspoesie zuerst öffnete, wie Goethe diese Er¬
kenntnis für seine Dichtung fruchtbar werden ließ; aber nicht mit einem Worte
wird auf die Stelle hingewiesen, wo Goethe sich am ausführlichsten über diese
damals neuen Bestrebungen geäußert hat: in seiner prächtigen Rezension von
"Des Knaben Wunderhorn."

In der Darstellung der Geschichte der Volkslyrik nimmt das historische
Volkslied den weitaus größten Platz in Anspruch: ihm gegenüber schwinden alle
andern Gattungen bis zur bescheidensten Winzigkeit zusammen. Wer Uhlands
poesievolles Kapitel über das Liebeslied kennt, muß sich mit Widerwillen von
der öden und mechanischen Weise abwenden, in der dieser köstliche Stoff hier
behandelt wird: ein paar der verbreitetsten und schönsten Lieder ganz oder
teilweise abdrucken lassen und mit Glossen versehen, das nennt Herr Weddigen
eine Geschichte des erotischen Volksliedes schreiben. Bis zur Unerträglichkeit
aber steigert sich die Unfähigkeit zu zusammenhängender, sachgemäßer, wissen¬
schaftlicher und künstlerischer Darstellung, der Mangel jeglichen Versuches, die
Zeiten und Arten feiner zu charakterisiren, beim geschichtlichen Volksliede: seiten¬
lang werden uns hier bloße Titel oder Anfangsverse von Liedern aufgetischt,
wie man sie sich aus den Sammlungen von Liliencron und Ditfurth etwa zu
bequemerer Übersicht zusammenstellen würde. Recht ergötzlich ist es dann zu
sehen, mit welcher Freude gerade unverhältnismäßig lange Titel, wie sie das
sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert liebte, in unversehrter Treue dem er¬
staunten Leser von dem darüber ebenso staunenden Verfasser vorgeführt werden.
Auch über die merkwürdige, "den Forscher störende" Orthographie dieser Zeiten
entfährt ihm mehr als einmal ein Wort der Entrüstung: Herr Weddigen sähe
die Originaltexte der alten Lieder am liebsten in neuer preußischer Rechtschreibung
aufgesetzt, sein unschuldiges Gemüt läßt sich nichts träumen von Dialekten und
von Entwicklung der Sprache. Was diesen Abschnitt über das geschichtliche
Volkslied so unverhältnismäßig anschwellt, ist die breite Ausführlichkeit, mit der
uns die Zustände und Ereignisse geschildert werden, an welche die Stoffe der
Lieder sich anlehnen: es gilt eben hier eine möglichst große Zahl von Seiten
herauszuschlagen und zugleich den Leser über den Mangel jeglicher die Dichtung
charakterisirenden, ihre Entwicklung verfolgenden Darstellung auf gute Art hin¬
wegzutäuschen. Die Vorliebe des Verfassers für Schulbücher, ihre Lektüre und
Benutzung verleugnet sich auch hier nicht ganz: hin und wieder wird dem Leser


Auch ein deutscher Literarhistoriker.

Stellung als notwendige Ergänzung einzufügen. Vielmehr beklagt er sich
wiederholt, daß diese Arbeit, ein Seitenstück zu seiner eignen, noch von niemand
in Angriff genommen worden sei, und zeigt auch hier wiederum, daß er über
Dinge redet, in denen er sich nicht umgesehen hat.

Dem Quellenverzeichnis folgt eine Einleitung, die unter anderm eine kurze
Übersicht der Entwicklung des deutschen Volksliedes und des Interesses am
Volksliede bringt; wir hören, wie Herder seiner Mitwelt den Sinn für den
reichen poetischen Gehalt der Volkspoesie zuerst öffnete, wie Goethe diese Er¬
kenntnis für seine Dichtung fruchtbar werden ließ; aber nicht mit einem Worte
wird auf die Stelle hingewiesen, wo Goethe sich am ausführlichsten über diese
damals neuen Bestrebungen geäußert hat: in seiner prächtigen Rezension von
„Des Knaben Wunderhorn."

In der Darstellung der Geschichte der Volkslyrik nimmt das historische
Volkslied den weitaus größten Platz in Anspruch: ihm gegenüber schwinden alle
andern Gattungen bis zur bescheidensten Winzigkeit zusammen. Wer Uhlands
poesievolles Kapitel über das Liebeslied kennt, muß sich mit Widerwillen von
der öden und mechanischen Weise abwenden, in der dieser köstliche Stoff hier
behandelt wird: ein paar der verbreitetsten und schönsten Lieder ganz oder
teilweise abdrucken lassen und mit Glossen versehen, das nennt Herr Weddigen
eine Geschichte des erotischen Volksliedes schreiben. Bis zur Unerträglichkeit
aber steigert sich die Unfähigkeit zu zusammenhängender, sachgemäßer, wissen¬
schaftlicher und künstlerischer Darstellung, der Mangel jeglichen Versuches, die
Zeiten und Arten feiner zu charakterisiren, beim geschichtlichen Volksliede: seiten¬
lang werden uns hier bloße Titel oder Anfangsverse von Liedern aufgetischt,
wie man sie sich aus den Sammlungen von Liliencron und Ditfurth etwa zu
bequemerer Übersicht zusammenstellen würde. Recht ergötzlich ist es dann zu
sehen, mit welcher Freude gerade unverhältnismäßig lange Titel, wie sie das
sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert liebte, in unversehrter Treue dem er¬
staunten Leser von dem darüber ebenso staunenden Verfasser vorgeführt werden.
Auch über die merkwürdige, „den Forscher störende" Orthographie dieser Zeiten
entfährt ihm mehr als einmal ein Wort der Entrüstung: Herr Weddigen sähe
die Originaltexte der alten Lieder am liebsten in neuer preußischer Rechtschreibung
aufgesetzt, sein unschuldiges Gemüt läßt sich nichts träumen von Dialekten und
von Entwicklung der Sprache. Was diesen Abschnitt über das geschichtliche
Volkslied so unverhältnismäßig anschwellt, ist die breite Ausführlichkeit, mit der
uns die Zustände und Ereignisse geschildert werden, an welche die Stoffe der
Lieder sich anlehnen: es gilt eben hier eine möglichst große Zahl von Seiten
herauszuschlagen und zugleich den Leser über den Mangel jeglicher die Dichtung
charakterisirenden, ihre Entwicklung verfolgenden Darstellung auf gute Art hin¬
wegzutäuschen. Die Vorliebe des Verfassers für Schulbücher, ihre Lektüre und
Benutzung verleugnet sich auch hier nicht ganz: hin und wieder wird dem Leser


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[0277] Auch ein deutscher Literarhistoriker. Stellung als notwendige Ergänzung einzufügen. Vielmehr beklagt er sich wiederholt, daß diese Arbeit, ein Seitenstück zu seiner eignen, noch von niemand in Angriff genommen worden sei, und zeigt auch hier wiederum, daß er über Dinge redet, in denen er sich nicht umgesehen hat. Dem Quellenverzeichnis folgt eine Einleitung, die unter anderm eine kurze Übersicht der Entwicklung des deutschen Volksliedes und des Interesses am Volksliede bringt; wir hören, wie Herder seiner Mitwelt den Sinn für den reichen poetischen Gehalt der Volkspoesie zuerst öffnete, wie Goethe diese Er¬ kenntnis für seine Dichtung fruchtbar werden ließ; aber nicht mit einem Worte wird auf die Stelle hingewiesen, wo Goethe sich am ausführlichsten über diese damals neuen Bestrebungen geäußert hat: in seiner prächtigen Rezension von „Des Knaben Wunderhorn." In der Darstellung der Geschichte der Volkslyrik nimmt das historische Volkslied den weitaus größten Platz in Anspruch: ihm gegenüber schwinden alle andern Gattungen bis zur bescheidensten Winzigkeit zusammen. Wer Uhlands poesievolles Kapitel über das Liebeslied kennt, muß sich mit Widerwillen von der öden und mechanischen Weise abwenden, in der dieser köstliche Stoff hier behandelt wird: ein paar der verbreitetsten und schönsten Lieder ganz oder teilweise abdrucken lassen und mit Glossen versehen, das nennt Herr Weddigen eine Geschichte des erotischen Volksliedes schreiben. Bis zur Unerträglichkeit aber steigert sich die Unfähigkeit zu zusammenhängender, sachgemäßer, wissen¬ schaftlicher und künstlerischer Darstellung, der Mangel jeglichen Versuches, die Zeiten und Arten feiner zu charakterisiren, beim geschichtlichen Volksliede: seiten¬ lang werden uns hier bloße Titel oder Anfangsverse von Liedern aufgetischt, wie man sie sich aus den Sammlungen von Liliencron und Ditfurth etwa zu bequemerer Übersicht zusammenstellen würde. Recht ergötzlich ist es dann zu sehen, mit welcher Freude gerade unverhältnismäßig lange Titel, wie sie das sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert liebte, in unversehrter Treue dem er¬ staunten Leser von dem darüber ebenso staunenden Verfasser vorgeführt werden. Auch über die merkwürdige, „den Forscher störende" Orthographie dieser Zeiten entfährt ihm mehr als einmal ein Wort der Entrüstung: Herr Weddigen sähe die Originaltexte der alten Lieder am liebsten in neuer preußischer Rechtschreibung aufgesetzt, sein unschuldiges Gemüt läßt sich nichts träumen von Dialekten und von Entwicklung der Sprache. Was diesen Abschnitt über das geschichtliche Volkslied so unverhältnismäßig anschwellt, ist die breite Ausführlichkeit, mit der uns die Zustände und Ereignisse geschildert werden, an welche die Stoffe der Lieder sich anlehnen: es gilt eben hier eine möglichst große Zahl von Seiten herauszuschlagen und zugleich den Leser über den Mangel jeglicher die Dichtung charakterisirenden, ihre Entwicklung verfolgenden Darstellung auf gute Art hin¬ wegzutäuschen. Die Vorliebe des Verfassers für Schulbücher, ihre Lektüre und Benutzung verleugnet sich auch hier nicht ganz: hin und wieder wird dem Leser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/277>, abgerufen am 09.01.2025.