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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Skizzen aus unserm heutigen volksleeen.

der Zeit, wo Untreue sich dergestalt häuft. Ob der Leichtsinnige auch zur Treue
angehalten worden ist, davon sagt die Zeitung nichts, und darnach fragt keiner.

Die Frage ist aber dringend, und es wäre an der Zeit, sie aufmerksam zu
erwägen. Denn das jetzige Lehrlingswesen ist ein öffentliches Uebel.

Lehrlinge auszubilden, womöglich nur mit Lehrlingen zu arbeiten, ist ein recht
vorteilhaftes Geschäft. Ist der Lehrling so weit, daß er auf Lohn Anspruch zu
haben glaubt, so wird er einfach auf die Straße gesetzt -- ein neuer findet sich
immer. Man sollte sie einmal zählen, um das schreiende Mißverhältnis festzu¬
stellen zwischen ihnen und der Nachfrage oder der Möglichkeit, sich selbständig zu
machen. Die Menge der "Stellenlosen," die, ihres Berufes kundig, dennoch keinen
Platz darin finden, ist schon zum Leiden des ganzen Volkes geworden. Und immer
noch drängen die untern Schichten nach oben.

Wir können dieses Drängen nicht zurückdämmen, es liegt eben in der mensch¬
lichen Natur, daß der Vater den Sohn in eine höhere Stellung schieben möchte.
Wir können es auch nicht hindern, daß sträfliche Gewinnsucht dieses Drängen
befördert. Die Gewerbefreiheit kann nicht aufgehoben werden. Aber eingeschränkt
kann sie werden, wo sie Schaden stiftet, und ist eingeschränkt worden. Denn
"Freiheit," sagt der größte Geschichtschreiber der modernen Revolution, "Freiheit
ist nicht an sich eine Wohlthat, sie ist nur Mittel zu bürgerlichem Glücke." Dem
Wirte, der das Laster fördert, nimmt man die Schankgerechtigkeit. Und dem Manne,
der seine Lehrlinge verwahrlosen läßt, sollte man die Befugnis, Lehrlinge auszu¬
bilden, nicht nehmen können?
"

"Polizciwillkür! ruft Heulmeier. Polizeiwillkür, mein verehrter Herr, braucht
dazu garnicht eingeführt zu werden. Lassen wir die Polizei ganz aus dem Spiele,
aber geben wir dem Richter die Möglichkeit, wenn Herr Schulze einmal eines
seiner Opfer wirklich vor die Schranken bringt, Herrn Schulze dieses Handwerk
ein für allemal zu legen. Oft wird er freilich nicht in die Lage dazu kommen.
Aber die Furcht davor wird doch in manchen das Bewußtsein der Verantwortlich¬
keit wecken. Denn Freiheit ist wie der Adel: sie verpflichtet. Wird solche Pflicht
nicht erkannt, so muß man nachhelfen, damit das Rechtsbewußtsein, in dessen
Schalen Freiheit und Pflichtgefühl einander fortwährend aufwiegen müssen, nicht
in Schwanken gerate. Unser Rechtsbewußtsein kippt bedenklich, das weiß jeder¬
mann; warum sollen keine Gewichte aufgelegt werden dürfen?


Sr.
'


Skizzen aus unserm heutigen volksleeen.

der Zeit, wo Untreue sich dergestalt häuft. Ob der Leichtsinnige auch zur Treue
angehalten worden ist, davon sagt die Zeitung nichts, und darnach fragt keiner.

Die Frage ist aber dringend, und es wäre an der Zeit, sie aufmerksam zu
erwägen. Denn das jetzige Lehrlingswesen ist ein öffentliches Uebel.

Lehrlinge auszubilden, womöglich nur mit Lehrlingen zu arbeiten, ist ein recht
vorteilhaftes Geschäft. Ist der Lehrling so weit, daß er auf Lohn Anspruch zu
haben glaubt, so wird er einfach auf die Straße gesetzt — ein neuer findet sich
immer. Man sollte sie einmal zählen, um das schreiende Mißverhältnis festzu¬
stellen zwischen ihnen und der Nachfrage oder der Möglichkeit, sich selbständig zu
machen. Die Menge der „Stellenlosen," die, ihres Berufes kundig, dennoch keinen
Platz darin finden, ist schon zum Leiden des ganzen Volkes geworden. Und immer
noch drängen die untern Schichten nach oben.

Wir können dieses Drängen nicht zurückdämmen, es liegt eben in der mensch¬
lichen Natur, daß der Vater den Sohn in eine höhere Stellung schieben möchte.
Wir können es auch nicht hindern, daß sträfliche Gewinnsucht dieses Drängen
befördert. Die Gewerbefreiheit kann nicht aufgehoben werden. Aber eingeschränkt
kann sie werden, wo sie Schaden stiftet, und ist eingeschränkt worden. Denn
„Freiheit," sagt der größte Geschichtschreiber der modernen Revolution, „Freiheit
ist nicht an sich eine Wohlthat, sie ist nur Mittel zu bürgerlichem Glücke." Dem
Wirte, der das Laster fördert, nimmt man die Schankgerechtigkeit. Und dem Manne,
der seine Lehrlinge verwahrlosen läßt, sollte man die Befugnis, Lehrlinge auszu¬
bilden, nicht nehmen können?
"

„Polizciwillkür! ruft Heulmeier. Polizeiwillkür, mein verehrter Herr, braucht
dazu garnicht eingeführt zu werden. Lassen wir die Polizei ganz aus dem Spiele,
aber geben wir dem Richter die Möglichkeit, wenn Herr Schulze einmal eines
seiner Opfer wirklich vor die Schranken bringt, Herrn Schulze dieses Handwerk
ein für allemal zu legen. Oft wird er freilich nicht in die Lage dazu kommen.
Aber die Furcht davor wird doch in manchen das Bewußtsein der Verantwortlich¬
keit wecken. Denn Freiheit ist wie der Adel: sie verpflichtet. Wird solche Pflicht
nicht erkannt, so muß man nachhelfen, damit das Rechtsbewußtsein, in dessen
Schalen Freiheit und Pflichtgefühl einander fortwährend aufwiegen müssen, nicht
in Schwanken gerate. Unser Rechtsbewußtsein kippt bedenklich, das weiß jeder¬
mann; warum sollen keine Gewichte aufgelegt werden dürfen?


Sr.
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[0195] Skizzen aus unserm heutigen volksleeen. der Zeit, wo Untreue sich dergestalt häuft. Ob der Leichtsinnige auch zur Treue angehalten worden ist, davon sagt die Zeitung nichts, und darnach fragt keiner. Die Frage ist aber dringend, und es wäre an der Zeit, sie aufmerksam zu erwägen. Denn das jetzige Lehrlingswesen ist ein öffentliches Uebel. Lehrlinge auszubilden, womöglich nur mit Lehrlingen zu arbeiten, ist ein recht vorteilhaftes Geschäft. Ist der Lehrling so weit, daß er auf Lohn Anspruch zu haben glaubt, so wird er einfach auf die Straße gesetzt — ein neuer findet sich immer. Man sollte sie einmal zählen, um das schreiende Mißverhältnis festzu¬ stellen zwischen ihnen und der Nachfrage oder der Möglichkeit, sich selbständig zu machen. Die Menge der „Stellenlosen," die, ihres Berufes kundig, dennoch keinen Platz darin finden, ist schon zum Leiden des ganzen Volkes geworden. Und immer noch drängen die untern Schichten nach oben. Wir können dieses Drängen nicht zurückdämmen, es liegt eben in der mensch¬ lichen Natur, daß der Vater den Sohn in eine höhere Stellung schieben möchte. Wir können es auch nicht hindern, daß sträfliche Gewinnsucht dieses Drängen befördert. Die Gewerbefreiheit kann nicht aufgehoben werden. Aber eingeschränkt kann sie werden, wo sie Schaden stiftet, und ist eingeschränkt worden. Denn „Freiheit," sagt der größte Geschichtschreiber der modernen Revolution, „Freiheit ist nicht an sich eine Wohlthat, sie ist nur Mittel zu bürgerlichem Glücke." Dem Wirte, der das Laster fördert, nimmt man die Schankgerechtigkeit. Und dem Manne, der seine Lehrlinge verwahrlosen läßt, sollte man die Befugnis, Lehrlinge auszu¬ bilden, nicht nehmen können? " „Polizciwillkür! ruft Heulmeier. Polizeiwillkür, mein verehrter Herr, braucht dazu garnicht eingeführt zu werden. Lassen wir die Polizei ganz aus dem Spiele, aber geben wir dem Richter die Möglichkeit, wenn Herr Schulze einmal eines seiner Opfer wirklich vor die Schranken bringt, Herrn Schulze dieses Handwerk ein für allemal zu legen. Oft wird er freilich nicht in die Lage dazu kommen. Aber die Furcht davor wird doch in manchen das Bewußtsein der Verantwortlich¬ keit wecken. Denn Freiheit ist wie der Adel: sie verpflichtet. Wird solche Pflicht nicht erkannt, so muß man nachhelfen, damit das Rechtsbewußtsein, in dessen Schalen Freiheit und Pflichtgefühl einander fortwährend aufwiegen müssen, nicht in Schwanken gerate. Unser Rechtsbewußtsein kippt bedenklich, das weiß jeder¬ mann; warum sollen keine Gewichte aufgelegt werden dürfen? Sr. '

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/195>, abgerufen am 28.12.2024.