Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.Dichtung und Gegenwart. Von dem Grundfehler, den diese Sitzung zeigte und an dem das Frank¬ Otto Linke. Dichtung und Gegenwart. le Beziehungen des Kulturlebens zur Kunst sind doppelseitig. Aus der Innigkeit dieser wechselseitigen Beziehungen wird es verständlich, Dichtung und Gegenwart. Von dem Grundfehler, den diese Sitzung zeigte und an dem das Frank¬ Otto Linke. Dichtung und Gegenwart. le Beziehungen des Kulturlebens zur Kunst sind doppelseitig. Aus der Innigkeit dieser wechselseitigen Beziehungen wird es verständlich, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0180" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/157105"/> <fw type="header" place="top"> Dichtung und Gegenwart.</fw><lb/> <p xml:id="ID_635"> Von dem Grundfehler, den diese Sitzung zeigte und an dem das Frank¬<lb/> furter Parlament überhaupt litt: daß zu viele Reden gehalten wurden und zu<lb/> wenig gethan wurde, ist leider auch unser jetziges Parlament noch nicht frei.<lb/> Möchten doch bei den bevorstehenden Neuwahlen zum deutschen Parlament die<lb/> Wähler, belehrt durch die Erfahrung, nur solche Abgeordnete ins Parlament<lb/> schicken, die für des Vaterlandes Wohl zu handeln bereit sind, nicht aber solche,<lb/> welche jede Gelegenheit benutzen, in kleinlichen Parteiinteresse zum Nachteil des<lb/> ganzen Vaterlandes schöne Reden zu halten.</p><lb/> <note type="byline"> Otto Linke.</note><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Dichtung und Gegenwart.</head><lb/> <p xml:id="ID_636"> le Beziehungen des Kulturlebens zur Kunst sind doppelseitig.<lb/> Weitab von den Bahnen des künstlerischen Schaffens bilden sich<lb/> die Anschauungen, welche nicht bloß die Wertschätzung künstlerischer<lb/> Arbeit regeln, sondern sich auch berechtigt glauben, ihr Aufgaben<lb/> und Ziel anzuweisen. Umgekehrt bemächtigt sich die Kunst aller<lb/> Lebenskreise, um Darstellungsobjekte zu finden, und erfährt hierbei zum zweiten<lb/> mal eine Beeinflussung, indem der Charakter dessen, was sie reproduziren will,<lb/> auf die Art der Reproduktion seinen Stempel drückt. Wenn der Künstler seinen<lb/> Stoff gewählt hat, hat er einen Teil seiner Freiheit eingebüßt. Die natürlichen<lb/> Verbindungen, in denen sein Objekt zu dem Gesamtinhalt der einschlägigen<lb/> Kulturepoche steht, sind die Schlagadern, aus denen ihm Leben zuquillt; nur<lb/> mit schwerer Gefährdung der Lebenswahrheit lassen sie sich unterbinden.</p><lb/> <p xml:id="ID_637" next="#ID_638"> Aus der Innigkeit dieser wechselseitigen Beziehungen wird es verständlich,<lb/> daß ein Zeitalter, das arm an Objekten künstlerischer Darstellung ist, im allge¬<lb/> meinen auch keine Künstler besitzt — und umgekehrt. Das ist am ersichtlichsten<lb/> für die Dichtkunst, und hier ebenso leicht verständlich. Denn abgesehen von<lb/> rein epischen Stoffen im ursprünglichen Sinne des Wortes, haftet die poetische<lb/> Darstellbarkeit und ganz besonders der dichterische Reiz fast ausschließlich an<lb/> dem, was sie Individuelles besitzen. Wo — und das ist in Wirklichkeit beinahe<lb/> immer — menschliches Seelenleben das mittelbare oder unmittelbare Objekt ist,<lb/> kommt es also auf Individuen von bewußter Innerlichkeit und von reichem,<lb/> mindestens stark hervorleuchtenden Inhalt an. Giebt also eine Zeit wenig<lb/> dichterisch brauchbare Stoffe her, so heißt das soviel, daß ihr die Erzeugung<lb/> freier Individualität mißlang. Eben darum hat sie aber auch keine Dichter,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0180]
Dichtung und Gegenwart.
Von dem Grundfehler, den diese Sitzung zeigte und an dem das Frank¬
furter Parlament überhaupt litt: daß zu viele Reden gehalten wurden und zu
wenig gethan wurde, ist leider auch unser jetziges Parlament noch nicht frei.
Möchten doch bei den bevorstehenden Neuwahlen zum deutschen Parlament die
Wähler, belehrt durch die Erfahrung, nur solche Abgeordnete ins Parlament
schicken, die für des Vaterlandes Wohl zu handeln bereit sind, nicht aber solche,
welche jede Gelegenheit benutzen, in kleinlichen Parteiinteresse zum Nachteil des
ganzen Vaterlandes schöne Reden zu halten.
Otto Linke.
Dichtung und Gegenwart.
le Beziehungen des Kulturlebens zur Kunst sind doppelseitig.
Weitab von den Bahnen des künstlerischen Schaffens bilden sich
die Anschauungen, welche nicht bloß die Wertschätzung künstlerischer
Arbeit regeln, sondern sich auch berechtigt glauben, ihr Aufgaben
und Ziel anzuweisen. Umgekehrt bemächtigt sich die Kunst aller
Lebenskreise, um Darstellungsobjekte zu finden, und erfährt hierbei zum zweiten
mal eine Beeinflussung, indem der Charakter dessen, was sie reproduziren will,
auf die Art der Reproduktion seinen Stempel drückt. Wenn der Künstler seinen
Stoff gewählt hat, hat er einen Teil seiner Freiheit eingebüßt. Die natürlichen
Verbindungen, in denen sein Objekt zu dem Gesamtinhalt der einschlägigen
Kulturepoche steht, sind die Schlagadern, aus denen ihm Leben zuquillt; nur
mit schwerer Gefährdung der Lebenswahrheit lassen sie sich unterbinden.
Aus der Innigkeit dieser wechselseitigen Beziehungen wird es verständlich,
daß ein Zeitalter, das arm an Objekten künstlerischer Darstellung ist, im allge¬
meinen auch keine Künstler besitzt — und umgekehrt. Das ist am ersichtlichsten
für die Dichtkunst, und hier ebenso leicht verständlich. Denn abgesehen von
rein epischen Stoffen im ursprünglichen Sinne des Wortes, haftet die poetische
Darstellbarkeit und ganz besonders der dichterische Reiz fast ausschließlich an
dem, was sie Individuelles besitzen. Wo — und das ist in Wirklichkeit beinahe
immer — menschliches Seelenleben das mittelbare oder unmittelbare Objekt ist,
kommt es also auf Individuen von bewußter Innerlichkeit und von reichem,
mindestens stark hervorleuchtenden Inhalt an. Giebt also eine Zeit wenig
dichterisch brauchbare Stoffe her, so heißt das soviel, daß ihr die Erzeugung
freier Individualität mißlang. Eben darum hat sie aber auch keine Dichter,
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