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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Die erste Sitzung des ersten deutschen Parlaments.

Aber "alle Gelehrsamkeit und Erfahrung, welche die letzten idreiviertel Jahr¬
hunderte einem genialen Menschen verleihen konnten", sie suchen sich beim ersten
Erscheinen Arndts auf der Rednerbühne des ersten deutschen Parlaments ver¬
gebens bemerklich zu machen. "Einen Augenblick, meine Herren!" hat er gerade
sagen können, und der Lärm der Menge verhindert ihn, weiterzusprechen. Noch
einmal ruft er wie bittend: "Auf ein Wort!" Man will nichts hören, sondern
verlangt unter erneutem Lärm nach Abstimmung. Mit welchen Gefühlen mag
der edle Greis die tobende Menge überschaut, mit welchen Gedanken in der
Brust die Rednerbühne verlassen haben! Die meisten hatten nicht gewußt, wer
er war, und viele, die hörten, daß Arndt soeben zu sprechen versucht habe, er¬
griff Unmut über die lärmende Versammlung. Eines unbeschreiblichen, an¬
dauernden Lärmens und Schreiens wegen, während dessen niemand zu Worte
kommen kann, war es selbst dem Präsidenten trotz minutenlangen Läutens mit
der Glocke nicht möglich, sich Gehör zu verschaffen. Erst als Wigard aus Dresden
in die Versammlung rief: "Achtung der Stimme des Präsidenten! Wo soll
das hinaus, wenn Sie den Präsidenten nicht mehr hören wollen!" dann meh¬
rere Stimmen den Ruf: "Achtung dem Präsidenten!" wiederholten und Wigard
erklärte: "Das ist ein Skandal, das ist Terrorismus! Achtung dem Präsi¬
denten!" erst da legte sich der Sturm allmählich, um nach kurzer Pause einen
Teil der Versammlung von neuem aufzujagen.

Von den zur Abstimmung gelangenden Anträgen auf Annahme einer Ge¬
schäftsordnung wurde schließlich der Antrag des Abgeordneten von Reden aus Ber¬
lin angenommen, nach welchem der verfassunggebende Reichstag den vorliegenden
Kommissionsentwurf einer Geschäftsordnung zur einstweiligen Regelung seiner
Verhandlungen bestimmte. Die Wahl eines definitiven Präsidenten setzte man
bis zur nächsten Sitzung aus.

Gewaltiger Lärm brach wieder los, als der Abgeordnete Hildebrand aus Mar¬
burg ein Schreiben aus Kurhessen mitteilen wollte, in welchem eine Anzahl
kurhessischer Wähler erklärte, daß sie die Wahl eines Abgeordneten zur konsti-
tuirenden Versammlung nur unter der Voraussetzung vorgenommen hätten, daß
diese Versammlung selbständig und allein die Verfassung Deutschlands fest¬
stelle. Seine Versicherung, er habe nur Mitteilung davon machen wollen, rief
eine stürmische Unterbrechung seiner Worte hervor, derart, daß der Altersprä¬
sident lange vergeblich durch die Glocke zur Ruhe mahnte.

Die nachher eingetretene Ruhe benutzte man, folgenden Antrag des Pro¬
fessor Biedermann aus Leipzig zur Abstimmung zu bringen: "Die Versammlung
wolle ihre Übereinstimmung damit aussprechen, daß eine amtliche Ausgabe der
stenographischen Berichte über ihre Verhandlungen veranstaltet und zu möglichst
billigen Preisen dem Volke zugänglich gemacht werde, und wolle die Ermäch¬
tigung zur Einleitung der dazu nötigen Maßregeln erteilen." Nach Streichung
des Wortes "amtlich" wurde der Antrag angenommen.


Die erste Sitzung des ersten deutschen Parlaments.

Aber „alle Gelehrsamkeit und Erfahrung, welche die letzten idreiviertel Jahr¬
hunderte einem genialen Menschen verleihen konnten", sie suchen sich beim ersten
Erscheinen Arndts auf der Rednerbühne des ersten deutschen Parlaments ver¬
gebens bemerklich zu machen. „Einen Augenblick, meine Herren!" hat er gerade
sagen können, und der Lärm der Menge verhindert ihn, weiterzusprechen. Noch
einmal ruft er wie bittend: „Auf ein Wort!" Man will nichts hören, sondern
verlangt unter erneutem Lärm nach Abstimmung. Mit welchen Gefühlen mag
der edle Greis die tobende Menge überschaut, mit welchen Gedanken in der
Brust die Rednerbühne verlassen haben! Die meisten hatten nicht gewußt, wer
er war, und viele, die hörten, daß Arndt soeben zu sprechen versucht habe, er¬
griff Unmut über die lärmende Versammlung. Eines unbeschreiblichen, an¬
dauernden Lärmens und Schreiens wegen, während dessen niemand zu Worte
kommen kann, war es selbst dem Präsidenten trotz minutenlangen Läutens mit
der Glocke nicht möglich, sich Gehör zu verschaffen. Erst als Wigard aus Dresden
in die Versammlung rief: „Achtung der Stimme des Präsidenten! Wo soll
das hinaus, wenn Sie den Präsidenten nicht mehr hören wollen!" dann meh¬
rere Stimmen den Ruf: „Achtung dem Präsidenten!" wiederholten und Wigard
erklärte: „Das ist ein Skandal, das ist Terrorismus! Achtung dem Präsi¬
denten!" erst da legte sich der Sturm allmählich, um nach kurzer Pause einen
Teil der Versammlung von neuem aufzujagen.

Von den zur Abstimmung gelangenden Anträgen auf Annahme einer Ge¬
schäftsordnung wurde schließlich der Antrag des Abgeordneten von Reden aus Ber¬
lin angenommen, nach welchem der verfassunggebende Reichstag den vorliegenden
Kommissionsentwurf einer Geschäftsordnung zur einstweiligen Regelung seiner
Verhandlungen bestimmte. Die Wahl eines definitiven Präsidenten setzte man
bis zur nächsten Sitzung aus.

Gewaltiger Lärm brach wieder los, als der Abgeordnete Hildebrand aus Mar¬
burg ein Schreiben aus Kurhessen mitteilen wollte, in welchem eine Anzahl
kurhessischer Wähler erklärte, daß sie die Wahl eines Abgeordneten zur konsti-
tuirenden Versammlung nur unter der Voraussetzung vorgenommen hätten, daß
diese Versammlung selbständig und allein die Verfassung Deutschlands fest¬
stelle. Seine Versicherung, er habe nur Mitteilung davon machen wollen, rief
eine stürmische Unterbrechung seiner Worte hervor, derart, daß der Altersprä¬
sident lange vergeblich durch die Glocke zur Ruhe mahnte.

Die nachher eingetretene Ruhe benutzte man, folgenden Antrag des Pro¬
fessor Biedermann aus Leipzig zur Abstimmung zu bringen: „Die Versammlung
wolle ihre Übereinstimmung damit aussprechen, daß eine amtliche Ausgabe der
stenographischen Berichte über ihre Verhandlungen veranstaltet und zu möglichst
billigen Preisen dem Volke zugänglich gemacht werde, und wolle die Ermäch¬
tigung zur Einleitung der dazu nötigen Maßregeln erteilen." Nach Streichung
des Wortes „amtlich" wurde der Antrag angenommen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/178>, abgerufen am 29.12.2024.