Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.Marie von Glfers. die Verkörperung des Egoismus hingestellt, sie ist als Hexe in der ganzen Um¬
Es läßt sich nicht leugnen, daß zwischen den beiden Parallelhandlungen, der Dennoch müssen wir den hohen poetischen Wert derselben ohne Rückhalt Marie von Glfers. die Verkörperung des Egoismus hingestellt, sie ist als Hexe in der ganzen Um¬
Es läßt sich nicht leugnen, daß zwischen den beiden Parallelhandlungen, der Dennoch müssen wir den hohen poetischen Wert derselben ohne Rückhalt <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0142" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/157067"/> <fw type="header" place="top"> Marie von Glfers.</fw><lb/> <p xml:id="ID_446" prev="#ID_445"> die Verkörperung des Egoismus hingestellt, sie ist als Hexe in der ganzen Um¬<lb/> gebung verschrien und gefürchtet, sie schickt ihr Kind aus der Waldeinsamkeit<lb/> unter die Menschen, um Unheil anzustiften, sie freut sich schadenfroh über alles<lb/> Unglück, das hereinbricht, sie warnt Simplizitas vor der Liebe der Menschen,<lb/> die mit Leid verbunden ist, sie beraubt ihre Tochter alles Goldes, das sie<lb/> als Gräfin mit sich trägt, und fordert das einfältige, allezeit anhängliche Kind<lb/> auf, ihr noch mehr Gold aus dem Schlosse zu bringen, und so lange Simpli¬<lb/> zitas ihr anhängt, bleibt sie der „reine Thor." Erst in jener Peripetie der<lb/> Handlung beim Tode Arnims sagt sich Simplizitas von ihrer Mutter los, und<lb/> damit beginnt die Zeit ihrer inneren Freiheit. Und als sie am Schlüsse vom<lb/> Stein getroffen tot zusammensinkt, da taucht wieder die dämonische Gestalt<lb/> der Hexe auf und ruft der Müllerin zu:</p><lb/> <quote> <lg xml:id="POEMID_12" type="poem"> <l> Ich sagt' es ihr! ich warnte sie!<lb/> Jetzt hat sie selbst das Glück erkannt,<lb/> Das sie in solcher Liebe fand!<lb/> Mein war sie einst — ich zog sie ans mit Müh,<lb/> Allein es scheint, Gott habe mich vergessen,<lb/> Als er das Glück den andern zugemessen;<lb/> Weshalb ward nur Simplizitas geraubt<lb/> Und nicht auch dir der Sohn! da du wie ich im Grolle<lb/> Der Rache gabst sein junges Haupt,<lb/> Das unbewußte, unschuldsvolle!<lb/> Gehört für mich allein das Leid?<lb/> Ihr nennt's am Ende noch Gerechtigkeit,<lb/> So Gott die Hexe straft und jener dort verzeiht.</l> </lg> </quote><lb/> <p xml:id="ID_447"> Es läßt sich nicht leugnen, daß zwischen den beiden Parallelhandlungen, der<lb/> Entwicklung der Simplizitas und der Hexe, keine rechte Einheit besteht. Oder<lb/> soll man die Hexe als die Kehrseite der menschlichen Natur ergänzend zu der<lb/> idealen Heldin auffassen? Die Geschichte der Einfalt ist allein für sich ein so<lb/> hervorragendes Kunstwerk und absorbirt so sehr das Interesse des Lesers, daß<lb/> alles andre ihn stört, und daß ihn selbst der Tod derselben, als ethisch un-<lb/> mvtivirt, verletzt; denn warum soll die Welt dem geläuterten Menschen kein<lb/> genügender Wohnort mehr bleiben? Ist nicht der Gedanke der thätigen Liebe<lb/> der Gedanke der Dichterin, den sie als sittliches Ideal hinstellt? Wohl, dann<lb/> aber hätte Simplizitas leben bleiben sollen, um thätig sein zu können. Die<lb/> Apotheose der Heldin widerspricht dem eignen Grundgedanken der Dichtung.</p><lb/> <p xml:id="ID_448"> Dennoch müssen wir den hohen poetischen Wert derselben ohne Rückhalt<lb/> anerkennen, wollen auch hinzufügen, daß die letzten Worte mehr eine Frage als<lb/> ein abschließend ablehnendes Urteil sein sollen. Möglich, daß andre sich den<lb/> Sachverhalt anders auslegen — dann ist aber auch schon diese Unklarheit, welche<lb/> die Dichtung im Leser zurückläßt, ein künstlerischer Mangel.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0142]
Marie von Glfers.
die Verkörperung des Egoismus hingestellt, sie ist als Hexe in der ganzen Um¬
gebung verschrien und gefürchtet, sie schickt ihr Kind aus der Waldeinsamkeit
unter die Menschen, um Unheil anzustiften, sie freut sich schadenfroh über alles
Unglück, das hereinbricht, sie warnt Simplizitas vor der Liebe der Menschen,
die mit Leid verbunden ist, sie beraubt ihre Tochter alles Goldes, das sie
als Gräfin mit sich trägt, und fordert das einfältige, allezeit anhängliche Kind
auf, ihr noch mehr Gold aus dem Schlosse zu bringen, und so lange Simpli¬
zitas ihr anhängt, bleibt sie der „reine Thor." Erst in jener Peripetie der
Handlung beim Tode Arnims sagt sich Simplizitas von ihrer Mutter los, und
damit beginnt die Zeit ihrer inneren Freiheit. Und als sie am Schlüsse vom
Stein getroffen tot zusammensinkt, da taucht wieder die dämonische Gestalt
der Hexe auf und ruft der Müllerin zu:
Ich sagt' es ihr! ich warnte sie!
Jetzt hat sie selbst das Glück erkannt,
Das sie in solcher Liebe fand!
Mein war sie einst — ich zog sie ans mit Müh,
Allein es scheint, Gott habe mich vergessen,
Als er das Glück den andern zugemessen;
Weshalb ward nur Simplizitas geraubt
Und nicht auch dir der Sohn! da du wie ich im Grolle
Der Rache gabst sein junges Haupt,
Das unbewußte, unschuldsvolle!
Gehört für mich allein das Leid?
Ihr nennt's am Ende noch Gerechtigkeit,
So Gott die Hexe straft und jener dort verzeiht.
Es läßt sich nicht leugnen, daß zwischen den beiden Parallelhandlungen, der
Entwicklung der Simplizitas und der Hexe, keine rechte Einheit besteht. Oder
soll man die Hexe als die Kehrseite der menschlichen Natur ergänzend zu der
idealen Heldin auffassen? Die Geschichte der Einfalt ist allein für sich ein so
hervorragendes Kunstwerk und absorbirt so sehr das Interesse des Lesers, daß
alles andre ihn stört, und daß ihn selbst der Tod derselben, als ethisch un-
mvtivirt, verletzt; denn warum soll die Welt dem geläuterten Menschen kein
genügender Wohnort mehr bleiben? Ist nicht der Gedanke der thätigen Liebe
der Gedanke der Dichterin, den sie als sittliches Ideal hinstellt? Wohl, dann
aber hätte Simplizitas leben bleiben sollen, um thätig sein zu können. Die
Apotheose der Heldin widerspricht dem eignen Grundgedanken der Dichtung.
Dennoch müssen wir den hohen poetischen Wert derselben ohne Rückhalt
anerkennen, wollen auch hinzufügen, daß die letzten Worte mehr eine Frage als
ein abschließend ablehnendes Urteil sein sollen. Möglich, daß andre sich den
Sachverhalt anders auslegen — dann ist aber auch schon diese Unklarheit, welche
die Dichtung im Leser zurückläßt, ein künstlerischer Mangel.
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