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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Litt Franzose über Bismarcks Politik.

minder im Reichstage von Leuten eingenommen würden, die eine Zeit lang in
diese Schule gegangen sind, statt daß es sich jetzt Handwerkspolitiker, Fraktions-
helden ohne Sinn und Verständnis für das natürliche Leben, seine Kräfte und Be¬
dürfnisse, phrasendrehende, nur im juristischen Formalismus erfahrene, nur in ihm
sich wohlfühlende Advokaten, rechthaberische, vom Bewußtsein ihrer Allwissenheit
geschwollene Professoren und Literaten und andre strebsame Theoretiker zum Schaden
und Aufenthalt unsrer Entwicklung auf ihnen bequem machen. Den Inhalt unsrer
Gesetzgebung würden dann die Praktischen Leute liefern, den andern wäre über¬
lassen, die Form zu feilen, und jeder Teil hätte dann, was sich nach seiner bis¬
herigen Erfahrung und Uebung sür ihn schickte und gebührte.

Die Politik des Kanzlers ist durch und durch auf Beobachtung und Er¬
fahrung gegründet und infolgedessen voll Leben und Wirklichkeit. Er sieht die
Dinge ohne gelehrte Brille und deshalb so groß und so klein, wie sie in Wahr¬
heit sind. Er versucht bei seinem Denken und Handeln nicht, die Thatsachen,
Verhältnisse und Zustände zu zwingen, sie nach einer anderswoher abgeleiteten
Theorie zu gestalten, sondern die jeweiligen Thatsachen, Verhältnisse und Zu¬
stände liefern ihm in Verbindung mit seinen scharfen Augen, seinem gesunden
Verstände, seiner Menschenkenntnis und einigen altbewährten, gleichfalls auf der
nüchternen, vorurteilsfreien Beobachtung des Werdens und Vergehens hier
unter Sonne und Mond beruhenden Regeln die Theorie, nach welcher die ge¬
rade vorliegende Frage zu lösen ist. Er weiß, daß eins sich nicht für alle
schickt, heute nicht morgen oder gestern ist, gut Ding Weile haben will, und
daß der Segen von oben kommt. In allen diesen Beziehungen gleicht er dem
Bauer, der auch seinen Roggen nicht zu der Zeit sät, wo Sonne und Regen
ihm nicht günstig sein können, der auch keine Weizenernte von Lupinenland
erwartet, und der auch nur da nassen Boden zu entwässern unternimmt, wo er
einigermaßen hoch liegt und folglich Abfluß hat. Seine erste Frage bei einem
Plane ist: Was ist hier möglich? Sein erster Gedanke bei einem Ziele: Ist es
nützlich und wie weit? Und die Antwort erteilt ihm nicht der grüne Tisch,
sondern das grüne Land, das ihn umgiebt, mit dem er lebt, das er nach seiner
Bonnae und nach seinen Kräften wie nach seinen Schwächen und Mängeln
gründlich kennt und in dem er täglich mehr zu Hause, dessen er täglich mehr
Herr wird. Der Bauer versteht ferner zu arbeiten und zu beharren. Zumal
der märkische Bauer auf seinem kargen Boden, der es dem auf ihm Angesie¬
delten so schwer macht, sich zu nähren und zu erhalten, geschweige denn zu
Wohlstand zu gelangen. Wie der Landmann der Mark, hat Bismarck mit großen
Schwierigkeiten zu ringen gehabt und sie alle allmählich durch Ausdauer über¬
wunden. Immer seinen letzten Zweck vor Augen, ließ er sich durch Mißlingen
seiner Versuche, ihn zu verwirklichen, niemals irren, obwohl die Mittel, die er
zur Hand hatte, oft kaum genügend erschienen. Ging es mit der einen Methode
nicht, so kaprizirtc er sich nicht auf sie, sondern probirte es mit einer andern.
Bereits damals, wo er zuerst die politische Arena betrat, gewahren wir bei ihm


Litt Franzose über Bismarcks Politik.

minder im Reichstage von Leuten eingenommen würden, die eine Zeit lang in
diese Schule gegangen sind, statt daß es sich jetzt Handwerkspolitiker, Fraktions-
helden ohne Sinn und Verständnis für das natürliche Leben, seine Kräfte und Be¬
dürfnisse, phrasendrehende, nur im juristischen Formalismus erfahrene, nur in ihm
sich wohlfühlende Advokaten, rechthaberische, vom Bewußtsein ihrer Allwissenheit
geschwollene Professoren und Literaten und andre strebsame Theoretiker zum Schaden
und Aufenthalt unsrer Entwicklung auf ihnen bequem machen. Den Inhalt unsrer
Gesetzgebung würden dann die Praktischen Leute liefern, den andern wäre über¬
lassen, die Form zu feilen, und jeder Teil hätte dann, was sich nach seiner bis¬
herigen Erfahrung und Uebung sür ihn schickte und gebührte.

Die Politik des Kanzlers ist durch und durch auf Beobachtung und Er¬
fahrung gegründet und infolgedessen voll Leben und Wirklichkeit. Er sieht die
Dinge ohne gelehrte Brille und deshalb so groß und so klein, wie sie in Wahr¬
heit sind. Er versucht bei seinem Denken und Handeln nicht, die Thatsachen,
Verhältnisse und Zustände zu zwingen, sie nach einer anderswoher abgeleiteten
Theorie zu gestalten, sondern die jeweiligen Thatsachen, Verhältnisse und Zu¬
stände liefern ihm in Verbindung mit seinen scharfen Augen, seinem gesunden
Verstände, seiner Menschenkenntnis und einigen altbewährten, gleichfalls auf der
nüchternen, vorurteilsfreien Beobachtung des Werdens und Vergehens hier
unter Sonne und Mond beruhenden Regeln die Theorie, nach welcher die ge¬
rade vorliegende Frage zu lösen ist. Er weiß, daß eins sich nicht für alle
schickt, heute nicht morgen oder gestern ist, gut Ding Weile haben will, und
daß der Segen von oben kommt. In allen diesen Beziehungen gleicht er dem
Bauer, der auch seinen Roggen nicht zu der Zeit sät, wo Sonne und Regen
ihm nicht günstig sein können, der auch keine Weizenernte von Lupinenland
erwartet, und der auch nur da nassen Boden zu entwässern unternimmt, wo er
einigermaßen hoch liegt und folglich Abfluß hat. Seine erste Frage bei einem
Plane ist: Was ist hier möglich? Sein erster Gedanke bei einem Ziele: Ist es
nützlich und wie weit? Und die Antwort erteilt ihm nicht der grüne Tisch,
sondern das grüne Land, das ihn umgiebt, mit dem er lebt, das er nach seiner
Bonnae und nach seinen Kräften wie nach seinen Schwächen und Mängeln
gründlich kennt und in dem er täglich mehr zu Hause, dessen er täglich mehr
Herr wird. Der Bauer versteht ferner zu arbeiten und zu beharren. Zumal
der märkische Bauer auf seinem kargen Boden, der es dem auf ihm Angesie¬
delten so schwer macht, sich zu nähren und zu erhalten, geschweige denn zu
Wohlstand zu gelangen. Wie der Landmann der Mark, hat Bismarck mit großen
Schwierigkeiten zu ringen gehabt und sie alle allmählich durch Ausdauer über¬
wunden. Immer seinen letzten Zweck vor Augen, ließ er sich durch Mißlingen
seiner Versuche, ihn zu verwirklichen, niemals irren, obwohl die Mittel, die er
zur Hand hatte, oft kaum genügend erschienen. Ging es mit der einen Methode
nicht, so kaprizirtc er sich nicht auf sie, sondern probirte es mit einer andern.
Bereits damals, wo er zuerst die politische Arena betrat, gewahren wir bei ihm


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/13>, abgerufen am 28.12.2024.