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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Die Lngel auf Lrden.

was für einen Grund sie auch gehabt hätte. Wie beim erstenmal, so fand er
auch diesmal nichts. Er fah die Thür, welche in das Zimmer Josefs führte,
offen und trat hinein. Auch sein Freund war ganz in derselben Weise, ohne
ihm ein Wort zu sagen, auf und davon. Die sonderbarsten Mutmaßungen
verwirrten ihm die Seele, und der Aufruhr seiner Gedanken betäubte ihn völlig.
Ein ungeheurer Schmerz preßte ihm das Herz zusammen.

Er konnte nicht fassen, was er vor Augen sah. Eine Oede breitete sich
plötzlich vor ihm aus über sein ganzes Leben, die ihn den Tod erwünscht scheinen
ließ. Er sank auf einen Koffer nieder, auf welchem Rinas Name geschrieben stand,
bedeckte sein Gesicht mit den Händen und konnte sich nicht fassen. Das bleiche
Bild des jungen Grafen erschien ihm, wie er ihn kurz vorher gesehen hatte, wie
er die Augen verdrehte und wie ein toter Mann dem Nächststehenden in die
Arme sank.

Mich hätte dies treffen müssen! rief er ans. Lieber den Tod als diese
grausame Angst erleiden! Ach, alles verläßt mich hier auf Erden. Mich flieht
das Glück!

Plötzlich erhob er sich. Und Adele? Ich habe meine gute Adele ganz
vergessen!

Er eilte nach dem Hause des Doktors. Die Kinder standen ans der Straße,
um nach ihm auszuschauen; die Mutter hatte ihnen befohlen, sobald er käme,
ihr Nachricht zu geben. Als die Knaben den Onkel kommen sahen, begrüßten
sie ihn mit ihrem fröhlichen Geschrei, und sein Pate, der kleine Paul, beeilte
sich, die Mutter zu benachrichtigen, während die übrigen ihm jauchzend entgegen¬
liefen.

Adele faltete die Hände und dankte Gott. Ach, ich wußte es ja, All-
gütiger, daß du ihn mir und Rina am Leben erhalten würdest.

Sie eilte mit ausgebreiteten Armen dem Bruder entgegen und rief: Paul!
Paul!

Dieser stürzte auf sie zu und drückte sie an seine Brust.

Du bist wohl und gesund! rief frohlockend die gute Adele. Ich sehe es,
der Himmel will uns glücklich machen.

Ein schmerzliches Stöhnen Pauls unterbrach sie. Adele, ich bin der un¬
glücklichste Mensch auf der Welt. Rina ist abgereist.

Abgereist!

Sie ist vor mir geflohen, ohne etwas zu sagen. Vielleicht auf immer!
Und die Stirn an die Schulter der Schwester gelehnt, hatte er endlich den
Trost, daß er weinen konnte.




19.

Devannis war, wie erzählt wurde, in gestrecktem Galopp davongejagt.
Jeden Augenblick glaubte er, er müsse auf der Landstraße wie einen schwarzen
Punkt die Kutsche, welcher er nachsetzte, zum Vorschein kommen zu sehen. Ver¬
gebens. Der Tag nahm an Helligkeit zu. Schon hatte er das Dorf zur
Rechten gelassen und wunderte sich, daß er den Wagen immer noch nicht ein¬
geholt hatte, da erfaßte ihn die Furcht, den rechten Weg verfehlt zu haben.

Jedenfalls werde ich auf der Station eintreffen, bevor der erste Frühzug
abgegangen ist, und wenn ich nicht mehr Zeit habe, sie festzuhalten, so reise ich
mit ihnen ab, soweit es nötig ist.


Die Lngel auf Lrden.

was für einen Grund sie auch gehabt hätte. Wie beim erstenmal, so fand er
auch diesmal nichts. Er fah die Thür, welche in das Zimmer Josefs führte,
offen und trat hinein. Auch sein Freund war ganz in derselben Weise, ohne
ihm ein Wort zu sagen, auf und davon. Die sonderbarsten Mutmaßungen
verwirrten ihm die Seele, und der Aufruhr seiner Gedanken betäubte ihn völlig.
Ein ungeheurer Schmerz preßte ihm das Herz zusammen.

Er konnte nicht fassen, was er vor Augen sah. Eine Oede breitete sich
plötzlich vor ihm aus über sein ganzes Leben, die ihn den Tod erwünscht scheinen
ließ. Er sank auf einen Koffer nieder, auf welchem Rinas Name geschrieben stand,
bedeckte sein Gesicht mit den Händen und konnte sich nicht fassen. Das bleiche
Bild des jungen Grafen erschien ihm, wie er ihn kurz vorher gesehen hatte, wie
er die Augen verdrehte und wie ein toter Mann dem Nächststehenden in die
Arme sank.

Mich hätte dies treffen müssen! rief er ans. Lieber den Tod als diese
grausame Angst erleiden! Ach, alles verläßt mich hier auf Erden. Mich flieht
das Glück!

Plötzlich erhob er sich. Und Adele? Ich habe meine gute Adele ganz
vergessen!

Er eilte nach dem Hause des Doktors. Die Kinder standen ans der Straße,
um nach ihm auszuschauen; die Mutter hatte ihnen befohlen, sobald er käme,
ihr Nachricht zu geben. Als die Knaben den Onkel kommen sahen, begrüßten
sie ihn mit ihrem fröhlichen Geschrei, und sein Pate, der kleine Paul, beeilte
sich, die Mutter zu benachrichtigen, während die übrigen ihm jauchzend entgegen¬
liefen.

Adele faltete die Hände und dankte Gott. Ach, ich wußte es ja, All-
gütiger, daß du ihn mir und Rina am Leben erhalten würdest.

Sie eilte mit ausgebreiteten Armen dem Bruder entgegen und rief: Paul!
Paul!

Dieser stürzte auf sie zu und drückte sie an seine Brust.

Du bist wohl und gesund! rief frohlockend die gute Adele. Ich sehe es,
der Himmel will uns glücklich machen.

Ein schmerzliches Stöhnen Pauls unterbrach sie. Adele, ich bin der un¬
glücklichste Mensch auf der Welt. Rina ist abgereist.

Abgereist!

Sie ist vor mir geflohen, ohne etwas zu sagen. Vielleicht auf immer!
Und die Stirn an die Schulter der Schwester gelehnt, hatte er endlich den
Trost, daß er weinen konnte.




19.

Devannis war, wie erzählt wurde, in gestrecktem Galopp davongejagt.
Jeden Augenblick glaubte er, er müsse auf der Landstraße wie einen schwarzen
Punkt die Kutsche, welcher er nachsetzte, zum Vorschein kommen zu sehen. Ver¬
gebens. Der Tag nahm an Helligkeit zu. Schon hatte er das Dorf zur
Rechten gelassen und wunderte sich, daß er den Wagen immer noch nicht ein¬
geholt hatte, da erfaßte ihn die Furcht, den rechten Weg verfehlt zu haben.

Jedenfalls werde ich auf der Station eintreffen, bevor der erste Frühzug
abgegangen ist, und wenn ich nicht mehr Zeit habe, sie festzuhalten, so reise ich
mit ihnen ab, soweit es nötig ist.


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[0631] Die Lngel auf Lrden. was für einen Grund sie auch gehabt hätte. Wie beim erstenmal, so fand er auch diesmal nichts. Er fah die Thür, welche in das Zimmer Josefs führte, offen und trat hinein. Auch sein Freund war ganz in derselben Weise, ohne ihm ein Wort zu sagen, auf und davon. Die sonderbarsten Mutmaßungen verwirrten ihm die Seele, und der Aufruhr seiner Gedanken betäubte ihn völlig. Ein ungeheurer Schmerz preßte ihm das Herz zusammen. Er konnte nicht fassen, was er vor Augen sah. Eine Oede breitete sich plötzlich vor ihm aus über sein ganzes Leben, die ihn den Tod erwünscht scheinen ließ. Er sank auf einen Koffer nieder, auf welchem Rinas Name geschrieben stand, bedeckte sein Gesicht mit den Händen und konnte sich nicht fassen. Das bleiche Bild des jungen Grafen erschien ihm, wie er ihn kurz vorher gesehen hatte, wie er die Augen verdrehte und wie ein toter Mann dem Nächststehenden in die Arme sank. Mich hätte dies treffen müssen! rief er ans. Lieber den Tod als diese grausame Angst erleiden! Ach, alles verläßt mich hier auf Erden. Mich flieht das Glück! Plötzlich erhob er sich. Und Adele? Ich habe meine gute Adele ganz vergessen! Er eilte nach dem Hause des Doktors. Die Kinder standen ans der Straße, um nach ihm auszuschauen; die Mutter hatte ihnen befohlen, sobald er käme, ihr Nachricht zu geben. Als die Knaben den Onkel kommen sahen, begrüßten sie ihn mit ihrem fröhlichen Geschrei, und sein Pate, der kleine Paul, beeilte sich, die Mutter zu benachrichtigen, während die übrigen ihm jauchzend entgegen¬ liefen. Adele faltete die Hände und dankte Gott. Ach, ich wußte es ja, All- gütiger, daß du ihn mir und Rina am Leben erhalten würdest. Sie eilte mit ausgebreiteten Armen dem Bruder entgegen und rief: Paul! Paul! Dieser stürzte auf sie zu und drückte sie an seine Brust. Du bist wohl und gesund! rief frohlockend die gute Adele. Ich sehe es, der Himmel will uns glücklich machen. Ein schmerzliches Stöhnen Pauls unterbrach sie. Adele, ich bin der un¬ glücklichste Mensch auf der Welt. Rina ist abgereist. Abgereist! Sie ist vor mir geflohen, ohne etwas zu sagen. Vielleicht auf immer! Und die Stirn an die Schulter der Schwester gelehnt, hatte er endlich den Trost, daß er weinen konnte. 19. Devannis war, wie erzählt wurde, in gestrecktem Galopp davongejagt. Jeden Augenblick glaubte er, er müsse auf der Landstraße wie einen schwarzen Punkt die Kutsche, welcher er nachsetzte, zum Vorschein kommen zu sehen. Ver¬ gebens. Der Tag nahm an Helligkeit zu. Schon hatte er das Dorf zur Rechten gelassen und wunderte sich, daß er den Wagen immer noch nicht ein¬ geholt hatte, da erfaßte ihn die Furcht, den rechten Weg verfehlt zu haben. Jedenfalls werde ich auf der Station eintreffen, bevor der erste Frühzug abgegangen ist, und wenn ich nicht mehr Zeit habe, sie festzuhalten, so reise ich mit ihnen ab, soweit es nötig ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/631>, abgerufen am 27.06.2024.